Donnerstag, 7. August 2014

“Islamischer (Terror-)Staat” setzt den Siegeszug fort

Warum weicht Iraks stärkste Streitkraft, die kurdische Peschmerga-Einheit, fast kampflos zurück, während die Jihadis dem florierenden Autonomiegebiet immer näher rücken?
Fast 2000 Jahre haben Christen im Gebiet der nordirakischen Stadt Karakosch gelebt. In der Nacht auf Donnerstag verließen alle, Zehntausende, in Todesangst ihre Häuser und suchten Schutz vor den heranrückenden Terroristen des „Islamischen Staates“ (IS) im nahegelegenen autonomen Kurdistan. Auch aus den Nachbarsiedlungen Tal Kayf, Bartella und Karamlesch flüchteten die christlichen Bewohner vor den Jihiadis, die Terror und blutige Barbarei auf eine selbst in dieser von Gewalt gezeichneten Region ungekannte Stufe treiben. Mindestens 500 Angehörige der alten kurdischen Religionsgemeinschaft der Yeziden, darunter Dutzende Kinder, starben in den vergangenen Tagen auf der Flucht vor sunnitischen IS, die auf ihrem Vormarsch alle Andersgläubigen verjagt oder tötet. Die rund 50.000 Yeziden, die am 3. Und 4. August aus ihrem Zentrum Sindschar in die Berge Kurdistans flüchteten, haben nur die Wahl, an Durst und Hunger zu sterben (erste Lebensmittelpakete, von Helikoptern Bagdads abgeworfen, zerschellten in großem Umfang auf dem felsigen Boden)oder von den Schergen der IS zermartert zu werden. Die Guerillas der türkisch-kurdischen PKK, die seit vielen Jahren im nahegelegenen nord-irakischen Kandilgebirge stationiert sind, haben begonnen, den Verzweifelten durch dieses unwegsame Terrain zu Hilfe zu eilen – ein Unterfangen, das aber noch Tage dauern wird, während die Zahl der Hilfsbedürftigen und wohl auch der Sterbenden täglich anschwillt.
Seit IS Anfang Juni Mosul, Iraks zweitgrößte Stadt, eroberte, nachdem die Regierungstruppen fast kampflos ihre Positionen geräumt hatten, bezogen die kurdischen Peschmerga-Truppen Positionen der flüchtenden irakischen Soldaten in den von Kurden, Arabern, Christen, Muslimen und Yeziden bewohnten, von Bagdad, wie von der autonomen „Regionalregierung Kurdistans“ (KRG) beanspruchten  Gebieten. Doch sie vermieden die direkte militärische Auseinandersetzung mit IS, der sich Bagdad – verbal – zu seinem Hauptziel erkoren hatte. Doch der Kampf um Iraks von schiitischen Milizen mit iranischer Unterstützung verteidigte Hauptstadt erschien den Jihadis offenbar als zu gefährlich. Die jüngsten Offensiven im Norden lassen deshalb einen Strategiewechsel erkennen. Hauptziel ist nun Konsolidierung der Eroberungen im nordwestirakisch-syrischen Grenzgebiet, die Vertreibung von Minderheiten, die Kontrolle von Ölfeldern, Wasserressourcen, wichtigen Infrastruktureinrichtungen, um sich damit nicht nur reiche Finanzquellen zu sichern, sondern den Druck auf die Führung in Bagdad, insbesondere den verhassten amtierenden Premier Maliki ins Unerträgliche zu steigern, die Hauptstadt mehr und mehr zu isolieren.  Die Kontrolle über den größten Staudamm des Landes bei Mosul, dessen Ufer IS-Kämpfer bereits erreicht haben, birgt gigantische Gefahren für Millionen von Iraker. Dass IS Wasser als Waffe einsetzt, hat er bereits vor Monaten in der von ihr nun beherrschten Stadt Falludscha, deren umliegende Gebiete sie als Verteidigungstaktik überflutete.
Die jüngsten Offensiven dienten vor allem auch der Verstärkung der Integration der irakischen und syrischen Hälften des von IS-Chef al-Baghdadi im Juni ausgerufenen „Kalifats“.  Dass ein weiterer Vormarsch in die von Peschmergas kontrollierten „umstrittenen Gebiete“, insbesondere die Ölregion Kirkuk geplant ist, gab ein IS-Sprecher deutlich zu verstehen: „Die IS-Brigaden haben jetzt  das Grenzdreieck zwischen Irak, Syrien und der Türkei erreicht. Möge Gott, der Allmächtige seinen Mudschaheddin die Befreiung der ganzen Region ermöglichen.“ Schon steht IS nahe an Dohuk, einer der drei KRG-Provinzen und Präsident Massoud Barzani befahl seinen Peschmerga, die „Terroristen bis zum letzten Atemzug“ zu bekämpfen. Seit Tagen kündigen Offiziere der 190.000 Mann starken Kurdenarmee die unmittelbar bevorstehende Gegenoffensive , beginnend mit der Rückeroberung von Sindschar an. Kämpfer der „Demokratischen Unionspartei“ (PYD), der stärksten Kurdenpartei in Syrien versprachen den Peschmerga gemeinsam mit der in Kandil stationierten PKK aktive Unterstützung.  PYD hat in den vergangenen Monaten in Syrien bei heftigen Gefechten gegen IS wichtige Kampferfahrung gesammelt und kam den bedrängten Peschmergas vergangenen Montag  trotz gravierender politischer Meinungsverschiedenheiten in Sindschar zu Hilfe.
Yeziden, Christen, aber auch viele Kurden verfolgen schockiert die Hilflosigkeit der Peschmerga, die  in Sindschar nach längeren Kämpfen, in Karakosch sogar kampflos die Minderheiten ihrem Schicksal überließen. Dabei setzten viele, nicht nur Kurden, auch arabische Iraker alle Hoffnung in diese durch jahrzehntelangen Krieg gegen die Diktatoren in Bagdad gestählten, mutigen Helden des Widerstandes. Sie gelten als Bollwerk gegen die blutrünstigen Terroristen. Seit dem Sturz von Diktator Saddam Hussein 2003 haben die hochmotivierten Peschmerga Kurdistan Sicherheit beschert und damit wirtschaftlichen Aufschwung und ungeahnten Wohlstand ermöglicht. Heute beherbergt Kurdistan mehr als eine Million Flüchtlinge, überwiegend aus dem südlichen Landesteil. Engste militärische Verbündete der USA im Krieg gegen Saddam, erwiesen sie sich als verlässliche und feurige Kämpfer. Bis zum Abzug der US-Truppen 2011 verlor kein einziger US-Soldat in Kurdistan sein Leben. Einst im Nord-Irak stationierte US-Offiziere sind voll des Lobes und der Bewunderung für diese mutigen Kämpfer.
Mehrere Faktoren könnten eine schwindende Verteidigungskraft dieser stolzen Soldaten erklären. Als sie nach der Eroberung Mosuls durch IS im Juni die Positionen der Regierungstruppen in den „umstrittenen Gebieten“ übernahmen, vergrößerte sich das von ihnen zu verteidigende Territorium um 40 Prozent, mit einer Grenze von mehr als tausend Kilometern.  Nach Einschätzung von Experten sind die Peschmerga damit militärisch überfordert und zugleich den Jihadis, die in den vergangenen Monaten aus irakischen Kasernen modernstes, von den USA geliefertes Kriegsgerät erobert hatten, waffentechnisch weit unterlegen. Zudem fehlt es gravierend an Munition, offenbar der Hauptgrund für den Rückzug aus Sindschar. Seit 2003 konnten die Kurden neue Waffen nur auf dem Schwarzmarkt erwerben. Maliki  verweigerte ihnen auch nur die kleinste militärische Aufrüstung.
Ein eindringlicher Appell Barzanis, der im Juli eine Sonderdelegation nach Washington entsandte, die Peschmerga für den Kampf gegen IS  mit modernen Waffen und Muntion auszustatten, stieß auf taube Ohren. Präsident Obama sieht durch direkte Waffenlieferungen an die Kurden deren Unabhängigkeitsbestreben gestärkt. Die Einheit des Iraks ist absolute Priorität seiner Amtszeit. Dass diese durch den Vormarsch der barbarischen IS weit mehr gefährdet ist als durch ein pro-westliches, amerikafreundliches und konziliantes Kurdistan ist bis in die höchste US-Staatsspitze nicht durchgedrungen. Nun sollen die Kurden nur in Absprache mit Bagdad zunächst einmal einige Raketen erhalten. Vorrang hat in Washington eine politische Lösung, die Bildung einer neuen Regierung unter einem neuen Premier und Einbezug der unter Maliki schwer diskriminierten arabischen Sunniten. Darin sehen die USA die wichtigste Strategie zum Kampf gegen IS, die auf diese Weise die Unterstützung der lokalen sunnitischen Bevölkerung verlieren würde. Zugleich übt Washington Druck aus auf seine europäischen Verbündeten, sich dieser Politik anzuschließen. Schon gab auch Berlin zu verstehen, dass die Kurden nicht auf deutsche Waffenlieferungen hoffen dürfen. Die Lösung könne nur politisch sein. Doch dies ist im besten Fall ein langwieriger Prozess. So lässt Washington seine besten und treuesten Freunde im Mittleren Osten im Stich.  Die Zeit aber drängt. Je mehr IS seine Positionen konsolidieren, ja mehr Geländegewinne er erzielen und vielleicht sogar ins autonome Kurdistan eindringen kann, desto tiefer stürzt das Land in ein Chaos, das fanatischen Jihadis aus aller Welt Zuflucht und Stützpunkt für die Verbreitung von Blut und Terror verschaffen kann.

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