Sonntag, 10. August 2014

Kurdistan: Oase des Friedens und der Toleranz

Warum dieses autonome nord-irakische Gebiet entscheidende Bedeutung für die gesamte Region besitzt – und auch für den Westen
 
von Birgit Cerha
 
US-Luftangriffe auf Positionen der Terroristen des „Islamischen Staates“ (IS) zeigen erste humanitäre Erfolge. Sie ermöglichten kurdischen Peschmerga-Einheiten die Öffnung eines 30 km langen Sicherheitskorridors, durch den Sonntag rund 10.000 auf dem Berg Schingal gestrandete yezidische Flüchtlinge in die kurdischen Städte Zakho und Dohuk in Sicherheit gebracht werden konnten. Doch nach jüngsten Informationen harren noch fast 100.000 Flüchtlinge auf dem Berg aus, wo ihre Überlebenschance nun durch den begonnenen Abwurf von Nahrungsmitteln und Wassercontainern durch Amerikaner und Briten steigt.
Die Entscheidung US-Präsident Obamas zur militärischen Intervention, um die schlimmste humanitäre Katastrophe im Nord-Irak zu verhindern, weckt im autonomen irakischen Kurdistan neue Zuversicht. Obama hatte Freitag klargestellt, dass die militärische Bedrohung der Kurdenhauptstadt Erbil für ihn eine „rote Linie“ bedeute. Auch wenn er dies mit der dortigen Präsenz amerikanischer Diplomaten, Militärberater und anderer Bürger begründete, steht fest, dass der Schutz der von der kurdischen Regionalregierung geführten Region für Washington entscheidende strategische, politische und vielleicht gar moralische Bedeutung besitzt. Fällt Kurdistan in die Hände des mörderischen IS, droht dem gesamten Irak ein Dominoeffekt mit bedrohlichen Folgen für Nachbarländer wie Jordanien oder gar Saudi-Arabien.
Das irakische Kurdistan ist in mehrfacher Hinsicht ein einzigartiges Experiment. Für die Supermacht ist es der einzige Erfolg, den der von Washington angeführte Krieg gegen Iraks Diktator Saddam Hussein 2003 hinterlassen hat. Während der Großteil des übrigen Iraks in Chaos und Gewalt versinkt, der angestrebte Weg zu Demokratie und Stabilität durch Korruption, Misswirtschaft und einen despotischen Führer (Premier Maliki) blockiert und das Land durch gewaltsame Konflikte zwischen den Bevölkerungsgruppen erneut zerrissen wird, gelang es den Kurden, eine Oase der Ruhe und ein demokratisches System aufzubauen. Es entwickelte sich zwar nicht zu dem vom Initiator des Irak-Krieges 2003, US-Präsident Bush, verheißenen Leuchtfeuer der Demokratie in einer von Despoten beherrschten Region, zeigt noch gravierende Schwächen, aber dennoch hoffnungsvolle Errungenschaften. Tatsächlich ist Kurdistan ein Hort von Freiheit und Toleranz in einer von barbarischer Gewalt zunehmend bedrohten Region. Die Fakten sprechen für sich: Rund eineinhalb Millionen Flüchtlinge, überwiegend Minderheiten (arabische Sunniten, Christen verschiedener Konfessionen, Yeziden u.a.) aus dem Irak, aber auch aus Syrien finden in Kurdistan, wo religiöse und ethnische Diskriminierung verpönt ist, den einzig sicheren Hafen. Allein an die 500.000 fanden hier seit der Eroberung Mosuls durch IS im Juni Schutz.
Jahrzehntelang haben die Kurden für ihr Streben nach Selbstverwaltung gigantische Opfer gebracht, verfolgt, in Massen ermordet, vergast, ihrer Existenzbasis beraubt. 2003 gelang es ihnen mit US- Hilfe ihre tragische Geschichte zu überwinden und zum wichtigsten militärischen Partner der Amerikaner und politischen Akteur im neuen irakischen Staat aufzusteigen, der friedlichen Koexistenz verpflichtet, zugleich aber ängstlich auf ihre schmerzhaft errungenen Rechte bedacht und sich stets der Gefahren bewusst, die ihr durch eine starke arabische Regierung in Bagdad erneut drohen könnten. Sie spielten eine entscheidende Rolle bei dem von den USA gelenkten Aufbau einer Übergangsführung in Bagdad, die alle Bevölkerungsgruppen, insbesondere die später so schwer diskriminierten arabischen Sunniten einschloß. Zugleich gelang es ihnen dank der 17-prozentigen nationalen Ölerträge, die Bagdad aus der Staatskasse bis Anfang 2014 überwies, Kurdistan zu einer wirtschaftlich blühenden Region aufzubauen, mit zwei internationalen Flughäfen unzähligen Luxushotels und Einkaufszentren. Liberale Wirtschaftsgesetze , Stabilität und Sicherheit lockten ausländische Investoren an. Heute sind mehr als 27.000 ausländische Firmen in Kurdistan registriert, dreimal mehr als im unruhigen Rest des Iraks, darunter internationale Ölkonzerne, die sich durch das Erschließen neuer Ölquellen das große Geschäft erwarten.
Auch 27 ausländische Repräsentanzen sind heute in Erbil stationiert.  Mehr und mehr entwickelte Kurdistan in den vergangenen Jahren seine eigene außenpolitische Linie, offen nach allen Seiten, doch stets ein verlässlicher Partner des Westens und enger Freund der Amerikaner. Während Washington in Bagdad mit einem Regierungschef zurechtkommen muss, der dem iranischen Nachbarn ergeben ist und dessen strategischen Interessen – etwa im Falle Syriens – dient, beugt sich die Führung Kurdistans stets weitgehend amerikanischen Wünschen – und dies selbst in der entscheidenden Frage der nationalen Unabhängigkeit, die Washington zugunsten der Einheit des Iraks entschieden ablehnt. So unterhalten die Amerikaner nun in Erbil ihren wichtigsten diplomatischen und militärischen Stützpunkt. Mit ihm würden sie den noch verbliebenen Einfluss im Irak und damit in einem wichtigen Teil dieser strategisch so bedeutenden Region verlieren.
Und der so unerwartete Vormarsch des IS auf Kurdistan hat Iraks Kurden nach einem Jahrzehnt  gigantischen ökonomischen Aufschwungs, des Lebens in unverhofftem Wohlstand und Selbstzufriedenheit ihre schmerzliche Verwundbarkeit und Einsamkeit in einer Region vor Augen geführt, in der sie nie wahre Freunde und Partner fanden.

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