Freitag, 30. April 2010

PALÄSTINA/ISRAEL: Die wachsende Unglaubwürdigkeit der Zweistaatenlösung


von Dr. Arnold Hottinger

Es ist fast schon ein Gemeinplatz unter den Beobachtern, dass die Zweistaatenlösung des Palästinakonfliktes „tot“ sei. Dieser Eindruck ist leider berechtigt. Es ist offensichtlich, dass die gegenwärtige (und allem Ermessen nach auch weitere künftig zu erwartende) israelische Regierungen mehr Wert darauf legen, immer wachsende Teile der ohnehin schon weitgehend kolonisierten palästinensischen Territorien weiter zu kolonisieren, als darauf, einen auf einer echten Zweistaatenlösung beruhenden Frieden zu schliessen. Sogar wer immernoch an die Friedenswilligkeit der israelischen Führung glauben möchte (der Verfasser gehört nicht dazu), sieht sich gezwungen zuzugestehen, dass die gegenwärtige Dynamik zwischen Israel und den Palästinensern eher auf wachende Spannungen hinausläuft, als auf Schritte hin zu einem Zweistaatenfrieden. Die Entwicklung in Gaza ist in dieser Hinsicht ein deutliches Zeichen.
Dass die Aussenwelt - praktisch ist diese durch die USA gegeben, ohne die kein wirklicher Druck auf Israel ausgeübt werden kann - sich aufraffen könnte, eine Zweistaatenlösung von Israel zu erzwingen, scheint ebenfalls kaum mehr glaubhaft. Obgleich Obama eine solche „sehen möchte“, scheint er doch angesichts der gesamten Lage seiner Regierung in den USA nicht wirklich gewillt und wohl auch garnicht in der Lage dazu, derart starken Druck auf Israel auszuüben, dass er genügte, um der dortigen Regierung seinen Willen aufzuzwingen.

Es liegt im Interesse der israelischen Politik, den Schein der Möglichkeit einer Zweistaatenlösung aufrecht zu erhalten. Im Schatten dieser wenig realistischen Hoffnung kann sie immer weitere kleine Schritte der Kolonisierung der Westjordangebiete vornehmen und das grausame „Provisorium“ der in Gaza eingesperrten und nur knapp vor dem Verhungern bewahrten 1,5 Millionen Menschen aufrecht erhalten. Würden die israelischen Machthaber offen zugeben, dass die Zweistaatenlösung endgültig vorbei sei, sähen sie sich vor die Frage gestellt, was denn mit den total gute 5 Millionen ausmachenden Palästinensern geschehen solle, die heute unter israelischer Herrschaft leben, die aber der israelische Staat nicht als Vollbürger in dem von ihm beherrschten Territorium anzuerkennen gedenkt, da sie nicht Juden sind und da Israel sich heute mehr denn je als „jüdischen Staat“ definieren will.

Es gäbe drei Möglichkeiten, die Frage zu regeln:
1) volle Einbürgerung der 5 Millionen nicht-Juden;
2) Ausweisung der 5 Millionen nicht Juden;
3) Ein Zweiklassen Staat mit ungefähr gleichvielen (aber schneller wachsenden) entrechteten nicht jüdischen Bewohnern wie jüdischen Vollbürgern.

Die Dritte Lösung hat Ehud Olmert nach seinem Rücktritt vom Amt des Ministerpräsidenten als „das Ende der Demokratie in Israel“ angesprochen.
Sogar die radikale Minderheit, die Lösung zwei, eine Ausweisung aller oder möglichst vieler Palästinenser, ins Auge fasst, den sogenannten „Transfer“, weiss, dass dies gegenwärtig schlecht möglich wäre. Es brauchte wahrscheinlich einen Welt- oder regionalen Grosskrieg, um diese Höllenvision zu verwirklichen.
Was die erste Möglichkeit angeht, so ist sie das Ziel der meisten Palästinenser (mit Ausnahme der Ideologen von Hamas). Sie wird aber von den Israeli strikt abgelehnt, weil sie bedeutete, dass der „Staat der Juden“ unmittelbar oder auf mittlere Frist zu einem Staat würde, in dem die Juden eine Minderheit bilden.

Angesichts der drei den Israeli nicht willkommenen Möglichkeiten, ist das Provisorium eines angeblich immernoch fortbestehenden „Friedensprozesses“ für Israel die beste Lösung. Sie erlaubt, die Kolonisierung voranzuführen, die Entmachtung und Marginalisierung der Palästinenser weiter voran zu treiben, ohne sich der Frage zu stellen, was schlussendlich aus einem „Grossisrael“ werden soll , welches de facto angestrebt wird, aber vorläufig hinter dem Vorhang der angeblich immernoch „nicht endgültig gestorbenen“ Zweistaatenlösung versteckt werden kann. Die heute oft verwendete Aussage, Israel sei ein Staat ohne feste Grenzen, gehört in diesen Zusammenhang. Israel weigert sich, feste Grenzen niederzulegen, weil es an der Ausdehnung und Absicherung seines Machtbereiches bis an den Jordan arbeitet.

Doch auch für die Aussenwelt, solange sie nicht bereit ist, auf Israel den nötigen Druck auszuüben, um eine tatsächliche Zweistaatenlösung zu erreichen, bleibt das Provisorium von einer angeblich immer noch möglichen Zweistaatenlösung, die am „anstrebt“, aber nicht „verwirklicht“, der bequemste Ausweg. Ein Apartheitsstaat Israel wäre ein Israel, das seine arabischen Staatsbürger nicht nur „provisorisch“, in angeblicher Erwartung einer „Friedenslösung“ und angeblich „notgedrungen“, schikaniert und vertreibt, sondern eines, das eine derartige Politik zur offiziellen Staatsdoktrin erhöbe. Ein derartiger Staat wäre den Amerikanern und Europäern als hauptsächlicher Partner und Verbündeter im Nahen Osten zum mindesten peinlich und gleichzeitig für ihre gesamte Politik gegenüber der guten Milliarde von Muslimen (und ihrem Erdöl) , mit der sie auf dieser Welt rechnen müssen, in noch viel höherem Masse als gegenwärtig schädlich und gefährlich. So geben sie vor, weiterhin an die Zweistaatenlösung zu glauben, gewissermassen „faute de mieux“, obwohl sie eigentlich wissen, dass eine langhingehaltene aber kaum mehr durchführbare Scheinlösung letztlich das Zustandekommen einer wirklichen Lösung verhindert, indem sie einen angeblich bevorstehenden Zustand als erreichbar vorspiegelt, der in Wirklichkeit nicht mehr erreichbar sein dürfte und gleichzeitig den fortschreitenden Siedlungsbau dadurch abschirmt, dass er hinter dem Schleier der inoffiziellen Vorläufigkeit vorangetrieben werden kann.

Bleiben die Palästinenser selbst. Ihnen wird jede Stunde deutlicher eingebläut, dass eine Zweistaatenlösung von Israel nicht angestrebt wird, sondern vielmehr ein permanentes Provisorium, das möglichst viele Palästinenser auf möglichst kleinen Restgebieten Palästinas konzentriert, um möglichst viel ihres Landbesitzes zu enteignen (die Palästinenser ziehen nicht ohne Grund das Verbum „stehlen“ vor). Das Dauerprovisorium sorgt zugleich dafür, dass die Macht Israels dank dem Dauereinsatz der israelischen Armee als Besetzungsarmee - nun schon seit 33 Jahren und auf unbestimmte Zeit weiter - (oder im Fall Gazas einkreisend, rund um Gaza herum) in allen palästinensischen Gebieten hart und bedingungslos durchgesetzt wird. - Läge es angesichts dieser Umstände nicht im Interesse der Palästinenser, den Vorhang zur Seite zu schieben, der die israelischen Absichten verschleiert und sich zu weigern, weiterhin auf ein Spiel einzugehen, das von Zweistaatenlösung spricht aber auf Besitzergreifung bis an den Jordan ausgeht? - Die Palästinensische „Autorität“ (Israel weigert sich sie eine Regierung zu nennen), die auf der Westbank ein Schattendasein fristet, ist nicht weit entfernt davon, dies zu tun. Hat sie doch ihre Verhandlungen mit Israel über die „Zweistaatenlösung“ abgebrochen und weigert sie sich, sie wieder aufzunehmen, bis Israel verspricht, seine Siedlungsexpansion anzuhalten.

Doch die „autonome PLO Regierung“ der Westjordangebiete ist bisher nicht zurückgetreten. Sie besteht vorläufig weiter. Sie nimmt in Kauf, dass ihre Existenz der Verschleierung der israelischen Absichten dient, weil sie weiter versuchen will, die Interessen der palästinensischen Bevölkerung (und theoretisch sogar jene der vielen Millionen von palästinensischen Vertriebenen im Ausland) soweit es geht, wahrzunehmen und ihre Bevölkerung vor einer völligen Herabsetzung zu machtlosen Zweitklassbürgern zu bewahren. Diese wäre nicht mehr zu vermeiden, wenn die Autonomieregierung sich weigerte, in dem engen, ihr von Israel belassenen „Autonomierahmen“ in den sie eingespannt ist, fortzuregieren.

Ihrer Gegnerin, der Hamas Regierung von Gaza, geht es ihrerseits nicht primär darum, die Interessen der Bewohner von Gaza zu schützen. Sie sucht vielmehr eine Konfrontationspolitik gegen Israel zu betreiben und so gut sie kann fortzusetzen, weil sie, auf islamische Grundsätze abgestützt, Israels Recht auf Staatlichkeit sowohl in Teilen wie in ganz Palästina bestreitet. Um dieses Grundprinzips willen nimmt sie in Kauf, dass Israel in den Augen der Aussenwelt, welche seine staatliche Existenz als legitim anerkennt, eine Art von Rechtfertigung für sein menschenverachtendes Verhalten gegenüber den Gazioten aufrecht zu erhalten vermag.

Bei der PLO- „Regierung“ gibt es natürlich materielle und machtmässige Anreize, ihre Stellung zu erhalten, auch wenn sie sich eigentlich fragen sollte, ob dies mehr Israel nützt oder mehr ihrer eigenen Bevölkerung. Die Antwort auf diese Frage hängt stark davon ab, ob eine ausgehandelte Friedenslösung zwischen den Palästinensern und den Israeli noch denkbar sei oder bloss ein Phantom. Weil sie selbst in ihrer bevorzugten Stellung fortdauern möchten, sind vermutlich viele Exponenten und Profiteure der Palästinenserregierung von Ramallah geneigt, der Frage nach den echten Aussichten einer Friedendlösung nicht allzu tief auf den Grund zu gehen. Wird sie verneint, hat ihre Position keine Rechtfertigung mehr. Sie müssten dann eigentlich zurücktreten, oder auf die Konfrontationslinie von Hamas einschwenken.

Was die Geldgeber der Regierung von Ramallah betrifft, die primär aus den europäischen Staaten bestehen, sind auch sie geneigt, den Tatsachen nicht ins Auge zu sehen und wider besseres Wissen zu hoffen, dass es doch noch eine Zweistaatenlösung geben werde, denn wozu sollen sonst die Gelder dienen, die sie immer wieder für die Unterstützung der Regierung von Ramallah zur Verfügung stellen? Und wie sollten sie sich verhalten, wenn ihr Freund Israel sich gezwungen sähe, nicht nur de facto hinter dem Schleier von theoretischen Friedensaussichten, sondern ganz offiziell und institutionell zur Niederhaltung und Unterdrückung einer nicht jüdischen Bevölkerungshälfte zwischen Mittelmeer und Jordan zu schreiten.
Seit Sharon glauben die Israeli, dass es zu ihrem Vorteil gereiche, von Frieden zu sprechen und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass die expansionistische Kolonisierungspolitik der Landnahme weiter vorangetrieben wird und die Palästinenser der Besetzten Gebiete in möglichst isolierte und verarmende Ghettos zurückgedrängt werden.

Der Bau der Mauer hat die kolonialisierten Teile der von Israel dominierten Region von den demokratisch regierten säuberlich isoliert. Dies hilft mit, die Illusion eines kommenden Zweistaatenfriedens zu fördern. Für das Stimmvolk diesseits der Mauer herrscht eine Normalität, die an Wohlstand grenzt, und die unschönen Einzelheiten der Enteignung und Niederhaltung der Palästinenser auf der anderen Seite der Mauer bleiben weitgehend unerkannt, unbewusst oder verdrängt. Gleichzeitig sorgt eine Dauerpropaganda dafür, dass die Angst vor den Untaten der Palästinenser immer aufrechterhalten und systematisch weiter geschürt wird. So ergibt sich das Trugbild, es läge an „Ihnen“, dass kein Frieden zustande komme. Die Anderen wollten ja nicht!„ Sobald „Sie“ wollen, kommt es zum Frieden!“

Was in Wirklichkeit vor sich geht, ist die langsame Konzentration einer verarmenden palästinensischen Bevölkerung, die ihrer Bewegungsfreiheit beraubt und auf möglichst enge Gebiete zusammengetrieben wird, so dass die übrigen Teile der Besetzten Gebiete allmählich von Siedlern „übernommen“ und de facto an Israel angeschlossen werden können. Die Sonderstrassen für Siedler machen dies ebenso klar wie die Siedlungen selbst mit den sie umgebenden „Landreserven“, die schrittweise das Territorium der Westjordangebiete „enteignen“ und „übernehmen“.

Eine realistische Sicht der Dinge müsste die Palästinenser vor die Frage stellen: was ist besser, in Bantustans leben oder als Zweitklassbürger in einem ganz Palästina umfassenden Israel. – Die Antwort darauf hängt wesentlich davon ab, was genau „leben in Bantustans“ oder „leben als Zweitklassbürger in Grossisrael“ für die Menschen bedeuten würde. Welche Lebensbedingungen würden für sie geschaffen? Und wie würden sie sich verändern, wenn die Bewohner der Bantustans oder die Zweitklassbürger von Grossisrael aufbegehren? – Durch ihre Abschnürungsmassnahmen gegenüber Gaza versuchen die Israeli den Palästinensern zu zeigen: „Es hängt von euch ab, unter welchen Bedingungen ihr unter uns leben wollt. – Wenn ihr brav und folgsam seit, werden sich eure Lebensumstände verbessern (allerdings nie so weit, dass sie denen der Israeli gleich kommen, denn sie sind ja die Erstklassbürger). Wenn ihr euch aber ungehorsam und feindlich zeigt, werden wir dafür sorgen, dass ihr am Rande des Hungers unter der Drohung unserer Kanonen und Bombardierungen und ohne feste Dächer über euren Köpfen dahinvegetieren müsst.“

All dies geschieht vorläufig noch „hinter der Mauer“ und „jenseits der Sperrzäune von Gaza“ unter dem Schleier der angeblichen Vorläufigkeit. Wenn die Illusion eines „Friedensprozesses“ endgültig und unübersehbar zusammenbricht, werden die Tatsachen unverschleiert hervortreten, und Israel wird sich gezwungen sehen, institutionelle Regeln zu schaffen, die der bestehenden Sachlage entsprechen und darauf abzielen, die Erhaltung der bestehenden menschenverachtenden Zustände rechtlich festzuschreiben. Der Rest der Welt wird entscheiden müssen, ob er solche nun offizialisierten Regelungen hinnehmen, oder ob er sie ablehnen will.

Bildquelle: http://www.fr-online.de/_em_daten/_dpa/2008/06/18/080618_1154_365_18077086_onlinebild.jpg

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Sonntag, 25. April 2010

IRAK: Im Irak hat der Machtkampf erst begonnen

Während den Sicherheitskräften ein schwerer Schlag gegen Al-Kaida gelang, stürzen die beiden Wahlsieger das Land immer tiefer ins Ungewisse

von Birgit Cerha

Nuri al Maliki, der bei den Parlamentswahlen am 7. März ganz knapp unterlegene Premier der vergangenen vier Jahre, feiert seine Triumphe, die ihm letztlich doch wieder die Macht über das gequälte Zweistromland sichern sollen. Die Filiale des Terrornetzwerkes al-Kaida im Irak beseitigte Sonntag in einer ungewöhnlichen Botschaft alle noch bestehenden Zweifel: Die so lange schlagkräftigste der Widerstandsgruppen ist tatsächlich führerlos. „Es ist an uns…. Den Tod zweier Dschihad-Führer bekannt zu geben.“ Die beiden Terrorchefs Abu Omar al-Baghdadi und Abu Ajub al-Masri waren bereits vor einer Woche bei einer Aktion irakischer Sicherheitskräfte mit US-Verstärkung aus der Luft ums Leben gekommen. Über die Identität der beiden Toten hatte bis zuletzt Verwirrung geherrscht.

Zudem sollen auch Dutzende führende Al-Kaida-Extremisten festgenommen oder getötet worden sein. Politische Beobachter sehen diese Entwicklung vor allem als Folge des veränderten politischen Klimas. Die Umwelt, in der diese Dschihadis Unterstützung fanden, ist überwiegend arabisch-sunnitisch. Doch diese Bevölkerungskreise haben weitgehend der Methode abgeschworen, ihre verlorene Macht gewaltsam zurückzuholen. Die hohe Beteiligung der Sunniten an den Parlamentswahlen beweist, dass sie nun ihre Hoffnung in einen politischen Prozess setzen. Regierungskreise glauben deshalb an einen sich abzeichnenden Sieg über Al-Kaida im Irak, die eine Order der allgemeinen Führung erhalten haben soll, sich vollends aus dem Land zurückzuziehen. Die Terrorattacken vom vergangenen Freitag, bei denen fast 60 Menschen ums Leben kamen, werden als verzweifelte Racheaktionen gewertet.

Diese – möglicherweise - dramatische Schwächung der Terrorgruppe bedeutet einen wichtigen Prestigegewinn für Maliki, der sich mit aller Kraft an die ihm entschwindende Macht klammert. Zugleich tauchten Sonntag Berichte auf, dass der ehemalige Stellvertreter des gestürzten Diktators Saddam Hussein, Izzat Ibrahim al-Douri, der seit Jahren für die Organisation des blutigen Widerstandes der in den Untergrund gedrängten Baathisten hauptverantwortlich gemacht wird, festgenommen worden sein soll.

Solche Erfolgsmeldungen rücken vorerst den jüngsten Skandal der Herrschaft Malikis – geheime Folterlager – in den Hintergrund. Denn nun begann auch noch die händische Neuauszählung der Stimmergebnisse in Iraks größtem Wahlkreis, Bagdad. Auch dies ein Triumph des Premiers, der trotz Bestätigung unabhängiger Institutionen, dass es zu keinen gravierenden Wahlfälschungen gekommen sei, eine erneute Auszählung durchgesetzt hatte. Nach den bisherigen Ergebnissen führt Malikis „Rechtsstaat“-Allianz in Bagdad gegenüber der „Irakiyya“ seines bittersten Rivalen Iyad Allawi mit 26 zu 24 Mandaten, während der säkulare Allawi insgesamt 91 und Maliki 89 Mandate erhielten. Beide Politiker ringen seit Wochen um den Anspruch auf Bildung einer Regierung, doch beide haben es bisher nicht geschafft, die dafür nötige Mehrheit zustande zu bringen.

Als mächtigster „Spielverderber“ erweist sich der nach massiven von Maliki angeordneten Militäroperationen gegen seine „Mahdi-Miliz“ an den Rand des politischen Geschehens gedrängte nationalistische Schiitengeistliche Moqtada Sadr. Dank starker Stimmengewinne am 7. März dominiert seine politische Gruppierung heute de facto die auf iranisches Drängen formierte „Irakische National-Allianz“ (INA), der u.a. auch der fundamentalistische schiitische „Höchster Rat des islamischem Iraks“ (SIIC) unter Ammar al-Hakim angehört. Sadr weigert sich entschieden, sowohl den „Lügner“ Maliki, als auch den pro-amerikanischen Laizisten Allawi für das Amt des Premiers zu unterstützen. Ohne INA werden beide aber kaum die nötige Mehrheit im Parlament zustande bringen. Vorerst vermag Maliki einen Kompromisskandidaten seiner „Rechtsstaat“-Allianz abzublocken. Er hofft, durch erneute Stimmenauszählung als klarer Sieger aus den Wahlen hervorzugehen und kleinere Gruppierungen, sowie vor allem auch die Kurden hinter sich zu scharen.

Ob dies gelingt, erscheint höchst zweifelhaft. Deshalb haben sowohl Maliki als auch der wenig aussichtsreiche Allawi begonnen, ihre persönlichen Animositäten beiseite zu schieben. Sie wollen sich, so heißt es, nun zu direkten Gesprächen über eine Koalition zusammenfinden. Immerhin eint sie das Ziel einer starken Zentralregierung die den Ölreichtum des Landes vollends kontrolliert. Doch sowohl Maliki als auch Allawi beharren auf dem Amt des Regierungschefs. Schon kursieren Gerüchte über einen Deal, nach dem Allawi zwei Jahre lang Premier wird und Maliki Staatspräsidenten und beide nach der Hälfte ihrer Amtszeit die Positionen tauschen.

Mindestens drei Wochen wird die Stimmenauszählung in Bagdad dauern und dann gilt es noch an die 300 andere „Beschwerden“ über Manipulationen zu klären. Das Machtvakuum mit möglicherweise fatalen Folgen für die Stabilität des Landes, kann noch Monate anhalten.

Bildquelle: http://www.datenbank-europa.de/erdkunde/land/asien/karten/irak.png

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Freitag, 16. April 2010

IRAN schreitet zur vollen Gegenattacke

Mit einer internationalen Konferenz und einer Fülle dramatischer Erklärungen reagiert Teheran auf Obamas verschärfte Atomstrategie

von Birgit Cerha

Das iranische Regime ballt seine Faust. Nach mehr als einem Jahr ist es Obama nicht gelungen, diese iranische Faust, wie der US-Präsident es ausdrückte, zu öffnen und die „Islamische Republik“ zu einem versöhnlichen Handschlag zu gewinnen. Nun ist der Iran auf dem besten Weg, auch für die Obama Administration zum internationalen Buhman aufzusteigen. Der Krieg der Worte verschärft sich und die Hoffnung auf Versöhnung zwischen den beiden Erzfeinden schwindet zusehends.

Nachdem Obama vor dem jüngsten internationalen Atomgipfel in Washington eine neue Strategie verkündet, geschworen hatte, keine Atomwaffen gegen Staaten einzusetzen, die diese nicht besäßen, doch ausdrücklich Nord-Korea und den Iran ausgenommen hatte, ist Teheran in die totale Gegenoffensive getreten. Dramatische Erklärungen politischer Führer und Militärs sollen ihren Höhepunkt am Wochenende finden, wenn der Iran Gastgeber einer internationalen „Gegenkonferenz“ zur Washingtoner Tagung spielt. Experten und Politiker aus 70 Ländern sind geladen. 14 Staaten entsenden ihre Außenminister, heißt es offiziell in Teheran. „Atomenergie für alle, Atomwaffen für niemanden“, lautet das Motto der Tagung, bei der die Iraner den Finger in die Wunden legen, die Weltmächte anklagen wollen, dass sie sich auf Nichtverbreitung von Atomwaffen konzentrieren, aber nicht daran denken, ihre Atomwaffen abzurüsten, wiewohl dies der Atomwaffensperrvertrag ausdrücklich vorsieht.

Die Konferenz soll der Welt beweisen, dass die „Islamische Republik“ insbesondere auch in der Atomfrage keineswegs international isoliert ist. Indien ist eine der Atommächte, die einen Vertreter entsendet, ebenso China, wiewohl sich die Anzeichen mehren, dass Peking allmählich die Geduld im leidigen Atomkonflikt mit dem Iran verliert, bereit ist, über verschärfte internationale Sanktionen im Weltsicherheitsrat zu diskutieren, solange diese nicht der iranischen Bevölkerung und allgemeinen Wirtschaftsentwicklung des Landes schaden, zugleich aber nicht daran denkt, seine eigenen ökonomischen Verbindungen mit dem Iran zu reduzieren. Peking bezieht zehn Prozent seines Ölbedarfs aus dem „Gottesstaat“.

Präsident Ahmadinedschad will auf dieser Konferenz vor allem den Atomsperrvertrag unter Beschuss nehmen, der im Mai zu seiner fünfjährigen Überprüfung ansteht. Als Mitunterzeichner haben die Iraner, die nicht zum Washingtoner Gipfel geladen waren, das Recht, an dieser Konferenz teilzunehmen und Ahmadinedschad ist entschlossen, eine Gruppe von Entwicklungsländern anzuführen, die die USA und andere Westmächte der „Heuchelei“ in der Atomfrage überführen wollen. Besonders hat Irans Außenminister Mottaki jüngst die von London geplante Modernisierung des „Trident-Systems“, einem wichtigen Bestandteil der nuklearen Abschreckung, attackiert. Diese Pläne würden weit größere Gefahren für den Frieden im Mittleren Osten in sich bergen, als Irans Atomprogramm, ganz zu schweigen von Israels Atomwaffen, die die Welt vollends ignoriert und damit toleriert. Teheran bekräftigt immer wieder die rein friedlichen Absichten seiner nuklearen Forschung, was allerdings jüngst auch von der Internationalen Atombehörde offen bezweifelt wurde.

Iranische Führer überstürzen sich seit Tagen mit dramatischen Erklärungen. So frohlockte Ahmadinedschad über einen „gigantischen Schritt“, den der Iran durch eine selbst produzierte neue Generation von Zentrifugen gesetzt hätte. Auf diese Weise könnte Uran sechsmal schneller angereichert werden als mit den bisherigen. Die USA sehen darin einen weiteren Hinweis darauf, dass Teheran in Wahrheit die Produktion von Atomwaffen anstrebe, da ein „friedliches Atomprogramm“ solche rasch produzierende Zentrifugen nicht benötige.

Obamas neue Atom-Strategie und seine intensiven Bemühungen um Verschärfung der Sanktionen haben unter den Führern des „Gottesstaates“ den offenen Anti-Amerikanismus wieder wesentlich verstärkt und neue Animosität gegen diesen Präsidenten geweckt, der den Iranern als erster seit drei Jahrzehnten die Hand zur Versöhnung entgegengestreckt hatte. Während Ahmadinedschad einen Brief an Obama ankündigt, in dem er den US-Präsidenten einerseits von seiner unverminderten Kooperationsbereitschaft überzeugen will, anderseits in selbstbewusstem Ton die regionalpolitische Schwäche der USA ausnützt und die Abhängigkeit amerikanischer Mittelostpolitik (in Afghanistan, Irak und vor allem beim Palästinenserproblem) vom guten Willen des Gottesstaates darlegt, zeihen iranische Führer nun Obama der Kriegstreiberei. Auf welche internationale Regeln stütze der US-Präsident seine neue Atomstrategie gegenüber dem Iran, fragt etwa der keineswegs radikale Parlamentssprecher Laridschani. Und der „Geistliche Führer“ Khamenei hält Obamas Drohungen „für sehr merkwürdig“, wenn „in diesem Jahrhundert der Menschenrechte und des Anti-Terrorkrieges der Führer eines Landes eine atomare Attacke androht.“

Khamenei hatte bisher bedingungslos die Produktion von Atomwaffen als unvereinbar mit islamischen Prinzipien zurückgewiesen. Er könnte nun – so meinen auch unabhängige iranische Beobachter – eine offizielle Änderung dieser Position mit der neuen US-Strategie begründen.

Mit diesem verschärften Verbalkrieg bezweckt das Regime vor allem aber die interne Opposition zu schwächen und viele politische Gegner wieder hinter sich zu scharen, verschärfte Sanktionen könnten dabei wertvolle Hilfe leisten.

Bildquelle: http://www.merkur-online.de

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Donnerstag, 15. April 2010

EZATOLLAH SAHABI: Die unerträglichen Qualen unserer Söhne und Töchter


Ezatollah Sahabi, einer der führenden Intellektuellen des Irans, hat im Laufe seines 80-jährigen Lebens politische Umwälzungen, Krisen und Revolutionen miterlebt und aktiv mitverfolgt. Ihm blieben die Qualen in den Gefängnissen des Schahs ebenso wenig erspart, wie später in jenen der geistlichen Diktatoren, vor denen ihn auch sein hohes Alter nicht schützt. Erst vergangenen Dezember wurde er nach einer Verurteilung durch ein Revolutionsgericht wegen „Beleidigung des „unantastbaren“ islamischen Systems bei einer Rede zu Teheraner Studenten inhaftiert. Zuvor hatte er in einem offenen Brief die Millionen Exil-Iraner eindringlich aufgerufen, die Opposition im Iran nicht zur Gewalt zu ermutigen, denn es sei genau dies, was das Regime bezwecke, um seine demokratischen Gegner als „gewalttätige Extremisten“ zu diskreditieren.
Der gelernte Elektrotechniker war einer der wenigen Nicht-Kleriker gewesen, die Ayatollah Khomeini 1979 in seinen Revolutionsrat berufen hatte. Gegen Ende jenes Jahres übernahm er die Leitung des Amts für Planwirtschaft, aus dem er jedoch schon wenige Monate später wegen regimekritischer Äußerungen entlassen wurde. Als einer der Führer der offiziell verbotenen, doch lange geduldeten national-islamischen „Freiheitsbewegung“ tat er sich in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Irane Farda“ durch offene Kritik am System und seine Reformideen hervor. Im Jahr 2000 wurde er wegen Teilnahme an einer Iran-Konferenz in Berlin unter dem Vorwand der Gefährdung der „nationalen Sicherheit“ zu viereinhalb Jahren Gefängnis verurteilt und erlitt in dieser Zeit schwere gesundheitliche Schäden.

Nun klagt Sahabi, einst Mitstreiter Khomeinis und ein tiefgläubiger Mann, in einem offenen Brief das Regime wegen seiner menschenverachtenden Repressionen an. Es ist ein erschütterndes und aufwühlendes Dokument:


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Ezatollah Sahabi’s Open Letter

Source: Jaras

In the name of God,
To whom can I speak of my sons’ and daughters’ agony?
Enduring the past nine months and seeing the torment experienced by the sons and daughters of this land has been unbearable for this old man: Seeing the nation’s potentials melt away in the hands of our incapable rulers or seeing the atrocious treatment of righteous and courageous children of this nation in the streets and in prisons. But the pain has gotten worse lately and I don’t know how to handle or protest it.

These days, I keep hearing that my dears Bard-al-Sadat Mofidi, Hengameh Shahidi, Shiva Nazarahari, and many more are under intense interrogation and pressure, and constantly insulted so that they would break down and forget about everything they are fighting for. The situation is so unbearable that some of these ladies have wished their own death.
Government officials visiting the prisons reported that the verbal abuse is so bad that some prisoners complained more about them than the violent beatings.
I also constantly hear that in recents weeks, Ahmad Zeidabadi, Mansour Esanloo, Masoud Baastani, and others, who are dear to me as my own sons, and who are clearly imprisoned because of their beliefs and political ideas, are illegally and unethically kept with prisoners who have committed great felonies (some of these felons of course are victims of this unjust system), and are subjected to directed pressure and pain. Some of these men are in danger of seriously and irreversibly damaging their physical and mental health.
It is so sad for me to see political prisoners experience such unjust, cruel, and unethical treatment that can irreversibly damage their health in a regime I helped create. Cruelties such as keeping the political prisoners with murders on death row or insulting women all so that they would break down and admit to uncommitted shameful crimes on national TV. I have been imprisoned and interrogated before and after the Islamic Republic; this situation is much worse than before.
I don’t understand why our rulers have completely forgotten about ethics and religion and have resorted to any means in order to protect their short-lived worldly powers. We haven’t forgotten the days before the Islamic Revolution when we criticized others by saying: “Ends don’t justify the means.”
I am a religous person who understands ethics as the main pillar and goal of religion, [and further a person] whose [common] prophet [with all of us] was chosen to his task to raise the standards of ethics. As such I am ashamed to live in times where sons, daughters, men and women of this society are arrested and tortured under the worst physical and psychological pressures and women are treated with the worst shameful disrespect. All to force them to commit to false confessions and to find them guilty because of the facts they speak and the truth they seek. and all in the name of God and religion.
Alas, “To Lie” which in our culture is recognized in our national and religous culture as amongst the worst sins, has now turned to a dominant trend of our times. Our authorities lie with the greatest exaggerations. They seek to stamp their hollow ambitions for our national and international interests in the minds of people of this nation by just repeating them over and over everyday and every night. Those people would not be decieved by such trickery and lies and in seminary schools of Quom religou leaders further unmask the liar. But unfortunately, they are still forcing men and women prisoners to lie, or else they would have to bear more intensified pressures or would be sent to exile. Dear almighty, where do I go to counsel my such pains and concerns, who would I go to?
I hope that if there’s anyone left among the authorities in the judiciary or the political establishment who would hear out my cries and would change something in the conditions of either the prisoners I named or any of the other nameless prisoners. At least for the sake of God, and their own after life so that families of victims would be saved from this torment that they have bear each day.
Dear God, as you were witness, the promise of the revolution to our nation was the governance of justice, like the justice that first Imam of Shitee, Imam Ali, created where his governance was strict to the people most close to him, and his mercy reached out to those of his enemies most distant from him.
This was the promise. What justice our government does in the name of Ali to the nation today however is going easy on whatever political, financial corruption and any theft and murderer that some people close to the officials commit in the banks, institutions, market, universities or Kahrizak and Evin prisons. They impose their stricness against blindfolded, handcuffed and innocent men and women who demand the goals and wishes of that very revolution [that created this government in the first place.] Oh dear Almighty, O saviour of hearts and minds, O guide of night and day, either transform our days, or else give me death.

Ezatollah Sahabi, April 10, 2010

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Samstag, 3. April 2010

LIBYEN: Ein Land in Aufbruchstimmung

Libyen mit seinen fast unentdeckten Schätzen wartet auf seinen großen Auftritt auf der internationalen Bühne

von Birgit Cerha

In Suwaara, westlich von Tripolis, leben die vielleicht schönsten Mädchen Nord-Afrikas. Weite Sandstrände, in ihrer unberührten Ausdehnung einzigartig am Mittelmeer, warten ungeduldig auf Investoren. Und nur wenige Touristen besuchen vorerst die römischen Ruinen Leptis Magna, Sabratha, Cyrenaica, die zu den eindrucksvollen antiken Stätten der Welt zählen. Uralte Felsenmalereien geben der sanften Dünenlandschaft der Wüste zusätzliche Attraktivität. Über all den atemberaubenden Schönheiten lasten die düsteren Wolken jahrzehntelanger exzentrischer Politik Muammar Gadafis, der nicht nur der Welt peinliche Wahrheiten entgegenzuschleudern pflegt, die andere nur zu denken wagen, sondern durch seine langjährige Unterstützung von Rebellen und Terroristen aller Art, wie durch seine internen Repressionen Libyen das Stigma eines internationalen Aussätzigen aufprägte. Viel Ignoranz, Vorurteil und Missverständnis auf der Seite des Westens verschärfte dramatisch die Isolation der sechseinhalb Millionen Libyer.


Nun aber herrscht Aufbruchstimmung im Land, seit Gadafi vielen seiner Exzesse abschwor, sich dem Westen öffnete und der erste US-Botschafter seit 1972 sich wieder in Libyen niederließ. Die Hauptstadt Tripolis mit ihren eindrucksvollen weißen Gebäuden und Plätzen aus der Zeit der italienischen Kolonialherrschaft, gleicht einer großen Baustelle, aus der internationale Luxushotels, Wohnblocks, Bürotürme, Geschäftszentren und – nahegelegen - ein neuer Flughafen hervorgehen.

Mehr als hundert Ölfirmen, darunter amerikanische und europäische Konzerne, zogen wieder ins Land, um dessen hochwertige Bodenschätze zu heben. Westliche Firmen halten sich bereit, Milliarden von Dollar zu investieren. Und die Libyer warten sehnsüchtig auf die Veränderungen.

Den Schmerz jahrzehntelanger Ächtung, das demütigende Gefühl, so lange von einer gleichgültigen Welt missverstanden worden zu sein, zeigen sie fremden Besuchern nicht. Herzliche Gastfreundschaft besitzt immer noch höchste Priorität in ihrem Leben, gemischt mit einem starken Wunsch nach Gespräch und Gedankenaustausch (freilich nur unpolitischem), nach Entdeckung der Welt, die ihnen nun, seit Gadafi die strengen Ausreisevisa-Regelungen aufgehoben hat, ein wenig mehr offen steht, soweit zumindest andere Länder sie einreisen lassen.

Die Libyer zeichnen sich aber auch durch hohe persönliche Würde (Bakschisch ist ebenso verpönt, wie Feilschen) aus und einen erstaunlichen Langmut. Wieso hat der Ölreichtum dieses Landes, das pro Kopf der Bevölkerung etwa genauso viel „schwarzes Gold“ exportiert wie Saudi-Arabien, die Bewohner immer noch nicht erreicht? Wieso finden 25 Prozent der durchaus gut gebildeten jungen Bevölkerung keine Arbeit? Solche Fragen und Frustrationen aber haben sich – bisher – nicht zu explosivem Zorn aufgestaut. Ein Land, ein Volk, dessen Liebreiz und Schönheit die Welt erst noch entdecken muß.

Karte: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/6/61/Karte_Libyens.png

Erschienen in : "Neue Luzerner Zeitung" am 04.04.2010
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LIBYENS „Philosophen“-Prinz

Saif als Islam Gadafi ist die Hoffnung des Westens, doch der hochgebildete Reformer bleibt Gefangener des Systems

von Birgit Cerha

Er gibt sich gern leger, mit Markenjeans und offenem Hemdkragen. Die goldumrandete Brille verleiht ihm auch äußerlich das Flair des Intellektuellen, der kahlgeschorene Schädel seine eigene Note. Ein eleganter Unterhalter, strahlt er weltmännische Noblesse aus. Saif al Islam (übersetzt: Schwert des Islam), der zweite Sohn der zweiten Frau des libyschen Diktators, gilt im Westen als Hoffnungsträger, vielleicht auch in seiner Heimat, genau weiß das niemand, da jahrzehntelang Kritik am Herrscher und dessen extravagantem System eines „Staates ohne Staat“ mit Gefängnis bestraft wurde.

Seit der heute 37-Jährige in den 90er Jahren die politische Bühne betrat, rankt sich um ihn das Rätsel der Nachfolge des dienstältesten Herrschers im Orient. Hat Muammar Gadafi diesen Eloquentesten unter seinen sechs Sprösslingen tatsächlich zu seinem Kronprinzen erkoren? Wer vermag es zu sagen? Selbst Saif klagt offen über Intransparenz des politischen Systems, in dem sein Vater raffiniert die Fäden zieht. „Es ist wahr, dass Libyen ein Rätsel ist.“ Für einen Teil der Jugend mag Saif als Vorbild dienen. „Er ist unser künftiger Philosophen-König“ heißt es in manchen Kreisen.

Keiner konnte je wie Saif ungeschoren Kritik an dem von Oberst Gadafi vor vier Jahrzehnten erfundenen System der „Massenrepublik“ (Jamahiriya) üben, die zu den härtesten Diktaturen der arabischen Welt zählt. Immer wieder erregt der junge Despotensohn mit markigen Sprüchen Aufsehen. „Wir Araber wurden zum allgemeinen Objekt des Hohns mit den hier weit verbreiteten Foltermethoden und geheimen Kerkern“, das moderne Libyen solle nichts gemein haben mit den „Dschungel-Diktaturen“ des Nahen Ostens und Nord-Afrikas. So verleiht er seinem Wunsch nach Achtung von Menschenrechten und demokratischen Reformen Ausdruck. Jüngst bezeichnete er gar die libysche Elite als „Idioten“. Zum bizarren Konflikt zwischen seinem Vater und der Schweiz meint Saif: „In unserer Kooperation mit den USA und Europa sind wir nicht seriös genug, wir senden verwirrende Botschaften aus…. Ich glaube, wir sind nicht bereit mit der westlichen Welt in der korrekten Weise umzugehen.“

Saif wuchs im Schatten von Revolution und Macht auf. Er teilt viele Vorlieben und Eigenschaften seines Vaters, wie die Liebe zu Büchern, zur Stille und Weite der Wüste, die Faszination für die Politik, Ehrgeiz und verbales Geschick. Doch im Gegensatz zu Muammar, dem Beduinensohn, zieht er seine Villen in Tripolis und London dem Zelt vor.

Saif hat ein hohes Bildungsniveau und diplomatisches Geschick erreicht, das sich andere orientalische Herrscher von ihren Söhnen nur erträumen können. Nach dem Architekturstudium in Libyen, der Business School in Wien absolvierte er auch die prestigeträchtige London School of Economics. Diese Studien haben ihn geprägt. Er zeigt sich europäisch, bewahrt jedoch zugleich seine arabische Identität und weckt deshalb im Westen Hoffnung, er werde in diesem für die ölhungrige Welt so attraktiven Wüstenreich die Rolle eines Brückenbauers spielen.

Er tat es bereits mit beträchtlichem Erfolg. Seit den 90er Jahren entsandte ihn der Vater zu heiklen internationalen Missionen, Geiselbefreiungen in den Philippinen, Entschädigungszahlungen für die Opfer des Lockerbie-Terrorakts und vieles mehr. Es war auch Saif gewesen, der 2004 Gadafis Verzicht auf die Produktion von Massenvernichtungswaffen verkündete und damit offiziell den Ausbruch Libyens aus internationaler Isolation einleitete – all dies ohne offizielle Position, einzig als Chef der Gadafi-Wohlfahrtsstiftung. Mit seiner Offensive des Charmes wurde Saif im Westen zum akzeptablen Gesicht dieses Pariah-Staates.

Intern fordert er offen Reformen, ökonomisch und politisch mehr Freiheit, mehr Liberalismus, weder sein Vater, noch die Republik habe eine andere Wahl. Eine Verfassung, die der Revolutionsführer seinem Volk bisher verweigert, unabhängige Gerichte, Meinungsfreiheit und soziale Marktwirtschaft gehören zu seinen Zielen. Doch gleichzeitig zieht er eine „rote Linie“, die auf keinen Fall überschritten werden dürfe: Muammar Gadafi, der hinter den Kulissen die Reformpläne des liberalen Sohnes blockiert. Manche Beobachter glauben deshalb an einen Machtkampf zwischen beiden. Andere meinen der Sohn teste die Reformoptionen aus, der Vater bewache scharf die Grenzen des Wandels.

Doch im August 2008 dürfte Saif die Grenze überschritten haben, als er vor Tausenden Jugendlichen direkt die Elite des Landes attackierte, sie einer „Mafia“ gleichsetzte. Kurz darauf wurde Saifs eben gegründeter Satellitensender verstaatlicht und der Rebellensohn verkündete seinen Rückzug aus der Politik. Nicht für lange, glaubten Eingeweihte zurecht. Im Oktober 2009 beauftragte der Vater führende Beamte, für Saif eine offizielle Position im Staat „ohne Zeitlimit“ zu finden. Schon tags darauf wurde der Sohn zum Chef des Organisationskomitees der „Sozialen Führungskomitees des Volkes“ ernannt, des wohl mächtigsten Gremiums zur Erhaltung der Stabilität und Kontrolle über die Stämme und Institutionen. De facto würde Saif damit zum zweitmächtigsten Mann im Staate aufsteigen. Doch er hat die Ehre bis heute nicht akzeptiert, knüpft sie offenbar an die Verabschiedung eines auf seine Initiative erarbeiteten Verfassungsentwurfs. Demokratische Institutionen und transparente Wahlen sind zwei weitere Bedingungen. Dass er es mit Reformen ernst meint, bewies er zuletzt im Dezember 2009, als er Human Rights Watch einlud, erstmals in der Geschichte der Jamahiriya auf einer Pressekonferenz in Tripolis über Menschenrechtsverletzungen im Wüstenreich zu referieren.

Saif hat mächtige Feinde nicht nur unter der um ihre Privilegien zitternden alten Garde, sondern auch in der eigenen Familie. Als sein Hauptrivale gilt Bruder Muatassim (Quelle des Konflikts mit der Schweiz), ein in Libyen und Ägypten ausgebildeter Militär, der die für den Staat zentralen Öl- und Sicherheitssektoren leitet und all die liberalen Ansichten nicht teilt. Und der Vater spielt die Söhne gerne gegeneinander aus. So dürfte er auch jetzt versuchen, die konkurrierenden politischen Kräfte im Gleichgewicht zu halten, indem er Saif zurückholt. Ob er sich damit für den Reformer als Kronprinzen entschieden hat, steht freilich in den Sternen. Auch wenn er mit dem System dynastischer Nachfolge zu liebäugeln scheint, spricht alles dafür, dass sich der in seiner Macht sonnende Diktator mit seinen 67 Jahren noch als viel zu jung für einen Abtritt aus der Politik empfindet. Saif hält – verbal zumindest – ohnedies solche dynastische Nachfolge mit der von ihm erstrebten Demokratie unvereinbar. So wird der Revolutionsführer diese Frage weiterhin offen lassen und sich auf die Ausbalancierung konservativer und progressiver Elemente zur weiteren Absicherung seiner eigenen Macht konzentrieren.

Foto: http://en.wikipedia.org/wiki/File:Saif_Wadda7.jpg

Erschienen in : "Neue Luzerner Zeitung" am 04.04.2010
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