Dienstag, 29. Mai 2012

Die beschämende Ohnmacht der Weltöffentlichkeit

Demilitarisierung des Syrien-Konflikts bietet den einzigen Ausweg aus einem Grauen ohne Ende

von Birgit Cerha
[Bild: Kinder von Hula vor dem Massaker]

Dutzende Kinder werden abgeschlachtet, in vollem Tageslicht. Amateurvideos zeigen im Internet die grausigsten Brutalitäten und Verstümmelungen. Das Massaker in der syrischen Sunnitenstadt Hula vom vergangenen Freitag und dessen Präsentation illustrieren eine erschreckende Eskalation der Brutalität in diesem jüngsten blutigen Krieg gegen einen orientalischen Diktator. „Es ist dieser Extremismus der Gewalt, der so furchterregend ist. Wir haben Derartiges nicht einmal im Irak (in dem ein jahrelanger Krieg tobte) erlebt.“ Der Syrer, der diese Meinung gegenüber der „Financial Times“ vertrat, hat recht. Der Kreislauf barbarischer Brutalität dreht sich in dem von der alawitischen Minderheit beherrschten Syrien immer schneller. Diktator Baschar el Assad, das muss nun auch die letzten mit ihm sympathisierenden Zweifler überzeugt haben, scheut vor keiner Bestialität zurück, um seine Macht und mit ihm die alawitische Minderheit zu retten, die sich im Laufe der Jahrzehnte so vieler blutiger Verbrechen an der Sunniten-Mehrheit schuldig gemacht hatte. Es geht um nicht weniger als ums Überleben der Assads und mit ihnen der Alawiten. Syrien ist damit in die Hölle gestürzt und dieser dramatische Prozeß entlarvt eine verzweifelte Ohnmacht der Weltpolitiker und der Weltöffentlichkeit, die fassungslos und tatenlos barbarisches Abschlachten von Kindern beobachtet. Aber: Hat nicht die internationale Politik durch fatal falsche Signale in Kombination mit einem erschütternden Mangel an Mut, weltpolitischer Vision und engstirnigen geostrategischen Interessen diese Katastrophe überhaupt erst ermöglicht? Tiefgreifende Gewissenserforschung wäre hier geboten.

Hula hat immerhin weltweit eine hektische Diplomatie ausgelöst, Verurteilung durch den Weltsicherheitsrat, dessen russische und chinesische Mitglieder zugleich ihren differenzierten Standpunkt – mögliche Mitschuld oppositioneller Kräfte – bekundeten. Der UN-Sonderbeauftragte Kofi Annan aber klaubt nun in Damaskus die Trümmer seines mutigen Friedensplans ein. Wagten Syrer – vermutlich im Auftrag des Regimes – doch vor den Augen von 280 auf der Baqsis seines Plans eingesetzten UNO-Beobachtern das hemmungslose Morden an wehrlosen Menschen, hat doch die Gewalt im Land seit Beginn des UNO-Mission nur zu- statt drastisch abgenommen. Zwar lässt Assad, der versprach, seine schweren Geschütze aus den Städten zurückzuziehen, nun nur mehr kleinere Siedlungen attackieren, diese dafür umso grausamer.
Nicht einmal der erste Punkt des Friedensplans – Waffenstillstand bis zum 12. April – wurde eingehalten. Beide Seiten nämlich haben daran kein Interesse, weder Assad, der eine Verständigung mit der Opposition und die daraus zwanghaft folgenden demokratischen Reformen nicht wagen kann, ohne den Untergang seines Regimes und seines eigenen zu besiegeln und deshalb vor allem auf Zeit spielt. Aber auch für die Opposition ist mit bisher etwa 13.000 Toten zu viel Blut geflossen, um Assad für Verhandlungen, wie es Annan plant, und eine Kompromisslösung zu vertrauen. Annans Plan solle „zur Hölle gehen“, lautet die Reaktion der in der Türkei stationierte Oppositionsbewegung zum jüngsten Massaker. Der Sturz des Regimes ist für diese Gruppierungen die einzige Option. Und das bedeutet militärische Gewalt. Hilfe dafür ist ihnen bereits aus Saudi-Arabien und Katar gewissen. Und Signale aus Washington, das zwar nicht direkt militärisch intervenieren, aber Assads Gegner dennoch tatkräftig zu unterstützen will, ist ihnen gewiß. Der Weg Syriens in den blutigen Abrund ist damit vorgezeichnet und mit ihm jener des Libanons und möglicherweise auch anderer Nachbarn. Immerhin haben sich längst radikale, zutiefst undemokratische, islamistische, terroristische Kräfte der Opposition gegen Assad angeschlossen und bereits ganz im Stile von Al-Kaida katastrophale Blutbäder in Syrien angerichtet. Nicht stillschweigende Unterstützung bewaffneter Gegner gegen die brutale Diktatur in Damaskus kann die Strategie sein, sondern nur eine radikale Demilitarisierung des Konflikts, die auch die Opposition mit einschließt. Doch vielleicht ist es dafür längst zu spät, ist zu viel Blut geflossen, diktieren zu viel Hass und Vergeltungssucht den Fortgang der Ereignisse.

Weiterlesen ...

LEXIKON: Baschars bestialische Geister

Wie Syriens Diktator die „Shabiha“ als Stoßtrupps einsetzt, um durch ihren Terror seine Macht zu retten von Birgit Cerha

Sie sind meist jung, schwarz gekleidet, lieben sadistische Gewalt, und töten hemmungslos und bestialisch. Ihr Name "Shabiha" (Arabisch für „Geister“ oder „Phantome“) lässt die Syrer erzittern. Nun haben sie durch das Massaker in der sunnitischen Stadt Hula die Brutalitäten in Syrien in eine neue erschreckende Dimension gehoben. Nur wenige hegen Zweifel, dass ein Großteil der Mörder von 116 syrischen Zivilisten, darunter mehr als 30 Kindern unter der „Shabiha“-Miliz des Regimes zu suchen sind.
Ähnlich wie in Ägypten und anderen Ländern des „arabischen Frühlings“ setzt die Diktatur Bashar el Assads Schlägertrupps in zivil ein, die durch Terror die rebellierende Zivilbevölkerung derart einschüchtern soll, dass sie den Widerstand gegen das Regime aufgibt und Assad die Macht rettet. Der Herrscher versucht sich so von den Brutalitäten am Volk zu distanzieren, beschuldigt „Terrorbanden“ der Mordtaten und gewinnt zugleich verstärkte Argumente, die Repression gegen das Volk zur vermeintlichen Sicherung der Stabilität noch zu steigern. In dieser menschenverachtenden Strategie spielen die „Shabiha“ seit Beginn der Revolution im März 2011 eine zunehmend entscheidende Rolle.

Der Ursprung dieser bewaffneten Bande geht auf die 70er Jahre zurück, als Baschars Vater Hafez Angehörigen seiner herrschenden Alawiten-Minderheit die Bildung mafia-artiger Banden gestattete, die durch Schmuggel insbesondere von Waffen und Drogen insbesondere in den mediterranen Hafenstädten Latakia, Banias und Tartous ihr Unwesen treiben konnten. Der Assad-Familie treu ergeben, raubten und mordeten sie ungestraft und blieben unantastbar für Polizei und Geheimdienste. Ihre Mitglieder wurden von Militäreinheiten bewaffnet, die Hafez‘ Bruder Rifaat kommandierte. Doch im Laufe der Jahre gewannen sie insbesondere in Latakia derart an Macht und setzten ihre Interessen mit derartiger Brutalität durch, dass Hafez el Assad ihnen Grenzen zu setzen suchte. Er beauftragte damit seinen designierten Nachfolger Bashar, dem es allerdings nur gelang, die schlimmsten Exzesse, nicht aber die tatsächliche Macht der „Shabiha“ einzudämmen. Die Banden blieben der Assad-Familie treuj ergeben und werden inzwischen offenbar von Bashars Cousins Fawwaz und Munzir angeführt, gegen die die EU im Mai 2011 Sanktionen verhängt hatte. Als es im Zuge der im März 2011 ausgebrochenen Revolten gegen das Regime den regulären Sicherheitskräften nicht mehr gelang, die traditionelle Mauer der Furcht aufrecht zu erhalten, begann Assad zunehmend die „Shabiha“ einzusetzen, deren Brutalitäten mit der Hoffnungslosigkeit stieg, der Opposition das Rückgrat zu brechen. Niemand weiß, wie stark die Banden heute sind. Nach manchen Schätzungen könnten sie bis zu 60.000 Bewaffnete zählen. Loyalität zu den Assads und zur alawitischen Minderheit ist nicht mehr das Hauptmotiv dieser Gangs, in die das Regime bewußt auch aus den Gefängnissen freigelassene Kriminelle integrierte. Sie foltern und morden in brutalster Weise, solange das Geld stimmt und das staatliche Fernsehen strahlt immer wieder Videoaufnahmen dieser Barbareien aus mit dem klaren Ziel, die Bevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen. Zu den Aufgaben der „Shabiha“ zählt nach Aussagen von Deserteuren der Armee auch die Ermordung von Soldaten, die sich weigerten auf Zivilisten zu schießen. Ihr Einsatz war bisher meist „hinter der Front“, sie ziehen in Orte und Städte ein, nachdem die Armee die Aufständischen verjagt hatte, um zu plündern und wahllos unter der Zivilbevölkerung zu morden, aber auch gezielt, wie nun in Hula, Angehörige der sunnitischen Mehrheit zu töten. Sie heizen damit Rachegefühle auf, die Syrien noch lange heimsuchen werden. Schon tauchen unter den gequälten Gegnern Assads Slogans wie jener auf: „Wir werden die Alawiten in ihre Särge schicken.“

Weiterlesen ...

Freitag, 25. Mai 2012

Syrienkrise polarisiert den Libanon

Der kleine Levantestaat wird erneut zur Geisel eines blutigen regionalpolitischen Konflikts – Droht ein neuer Bürgerkrieg?

von Birgit Cerha

„Im Libanon hat eine Phase langanhaltender Instabilität begonnen“, warnt der Libanon-Analyst Ayham Kamel und er vermag keine Strategie zu erkennen, durch die die bedrohlichen Entwicklungen im Interesse der Libanesen voll unter Kontrolle gehalten werden könnten. Kamels alarmierende Analyse folgt einer Reihe von Gewaltakten, die von dem an Syrien grenzenden Nord-Libanon bis in die Hauptstadt Beirut übergriffen und stets latente Ängste der nach 15-jährigem grausigen Bürgerkrieg (1975 bis 1990) zutiefst zermürbten Libanesen vor einer Neuauflage hemmungslosen Blutvergießens verstärkte Nahrung geben. Die Tötung des prominenten sunnitischen Geistlichen Ahmed Abdul Wahid und eines Mitarbeiters bei einem Straßenkontrollpunkt im Nord-Libanon durch einen libanesischen Soldaten, löste blutige Kämpfe zwischen Sunniten und Alawiten, Angehörigen der in Syrien herrschenden Glaubensgemeinschaft aus. Scheich Wahid hatte sich intensiv um einen Teil der insgesamt 24.000 syrischen Flüchtlinge – überwiegend Gegner des Assad-Regimes – im Libanon angenommen. Zuvor hatte schon die Festnahme des sunnitischen Islamisten Shadi Mawlawi unter dem Vorwand, er erhielte finanzielle Unterstützung eines reichen Bürgers von Katar und gehöre der Al-Kaida an, blutige Kämpfe provoziert. Zuletzt sorgte die Entführung schiitischer libanesischer Pilger, die aus dem Iran auf der Heimreise in Syrien Station gemacht hatten, für gewaltsame Protestaktionen libanesischer Schiiten. Die von dem sunnitischen Premier aus dem nord-libanesischen Tripoli geführte Regierung in Beirut versucht unterdessen, ebenso wie deren mächtiger Koalitionspartner Hisbollah, die Wogen zu glätten, damit der Libanon nicht erneut von einer Flutwelle der Gewalt überschwemmt werde. Die Armee entschuldigte sich für den Tod Wahids, Mawlawi wurde gegen Bezahlung einer Strafe von 333 Dollar freigelassen und auch die entführten Pilger dürften bald wieder heimkehren. Die Hochspannung aber bleibt. Denn je länger der blutige Konflikt zwischen Opposition und Regime im großen syrischen Nachbarn andauert, desto mehr sinkt die Chance des Libanons, sich aus diesem Konflikt heraus zu halten. Obwohl die syrische Armee 2005 nach 29 Jahren ihre Truppen aus dem Libanon abgezogen hatte, blieb der Einfluss des damaszener Regimes auf Politik und Sicherheitskräfte de facto bis heute ungebrochen. Doch das Land ist seit 2005 gespalten in einen starken das syrische Assad-Regime unterstützenden Block, angeführt von den Schiitengruppen Hisbollah und Amal, eine drusischen Splittergruppe und etwa der Hälfte der politische organisierten Christen des Landes. Sie vertreten, wie Assad, die Überzeugung, dass es bei dem Syrienkrieg in Wahrheit um eine gewaltsame Veränderung der regionalen Ordnung zum Nachteil des expandierenden Irans mit stillschweigender Unterstützung des Westens durch arabische Golfstaaten gehe. Auf der anderen Seite stehen die Sunniten, die andere Hälfte der Christen, die meisten Drusen, die die Revolte in Syrien als Teil des „arabischen Frühlings“ erachten. Die Syrienkrise hat die Kluft zwischen den beiden Blöcken entscheidend, ja vielleicht unüberbrückbar vertieft. Zentrum der aktuellen Krise im Libanon ist der an Syrien grenzende Norden mit der zweitgrößten Stadt des Landes, Tripoli mit seiner sunnitischen Bevölkerungsmehrheit, die sich seit langem von der von Schiiten dominierten Beiruter Regierung bitter vernachlässigt fühlt. In den vergangenen Monaten wurde Tripoli und der nahe der Grenze liegende Bezirk Akkar zu einer wichtigen Basis für die Unterstützung der sunnitischen Rebellen gegen Assad. Von Akkar aus beschießen Kämpfer häufig syrische Armee-Positionen, vor allem mit dem Ziel, eine stets an Bedeutung zunehmende Schmuggelroute für Waffen und andere materielle Unterstützung der Rebellen aus dem Libanon abzusichern. Zugleich entwickelte sich Tripoli zur Brutstätte radikaler sunnitischer Salafisten, die weitgehend ungehindert und zunehmend von Saudi-Arabien und Katar unterstützt ihren syrischen Gesinnungsgenossen Hilfe leisten. Auch amerikanische Waffen sollen auf diesem Wege zu den syrischen Rebellen gelangen. Das syrische Regime, so erläutert Hilal Khashan, Politologieprofessor an der Amerikanischen Universität in Beirut, könne nicht zulassen, dass seine Opposition im Nordlibanon eine starke Basis aufbaut. Beiruter Analysten sind davon überzeugt, dass die jüngsten blutigen Zwischenfälle von Syrien über seine libanesischen Verbündeten angezettelt worden waren, als deutliche Warnung nicht nur an den Libanon, sondern die gesamte Region, dass Damaskus immer noch die Macht besitzt , den kleinen Levantestaat in blutige Turbulenzen mit unabsehbaren Folgen für die gesamte Region zu stürzen. Wieder droht der Libanon zur Bühne zu werden für einen Stellvertreterkrieg, in dem die unschuldigen Bürger des Landes, nicht zuletzt auch durch die Machenschaften ihrer korrupten Führer, einen hohen Preis bezahlen müssen. Noch bleibt eine kleine Hoffnung, dass die Aufrufe libanesischer Politiker zur Besonnenheit und die enorme Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung das Schlimmste verhindern.
Weiterlesen ...

Samstag, 19. Mai 2012

Insider und reformorientierter Staatsmann

Der überzeugte Säkularist Amr Moussa könnte ein wirkungsvolles Gegengewicht zur islamistischen Strömung bilden

von Birgit Cerha

Gegner und Kritiker vor allem unter den jugendlichen Demokratie-Aktivisten, die Präsident Hosni Mubarak zu Fall gebracht hatten, reihen ihn ein in die verhasste Gruppe der „Feluls“ (der „Überreste“ des alten Regimes). Dennoch liegt Amr Moussa in allen Meinungsumfragen an der Spitze aller Kandidaten für die Präsidentschaft im neuen Ägypten. Die energische Wahlkampagne, die den 75-Jährigen seit Monaten in alle Städte und viele Dörfer des Landes führt, verschafft ihm ein beträchtliches Maß an Bewunderung. Er war der erste, der nach dem Abtritt Mubaraks im Februar 2011 seine Bereitschaft zur Nachfolge in einem neuen demokratischen System angemeldet hatte. Dabei hatte Moussa dem autokratischen System Mubaraks und dessen Vorgänger Sadat als hochbegabter Diplomat und schließlich zehn Jahre lang, bis 2001, als Außenminister gedient. In dieser Zeit, das werfen ihm heute seine Kritiker vor, habe er niemals offen diktatorische Mißbräuche des Regimes angeprangert.
Wiewohl wortgewaltig ist Amr Moussa ein geübter Diplomat, der sich auch hohes internationales Ansehen erwarb. Und er besitzt große politische Überlebenskraft. Sein weit größerer Bekanntheitsgrad unter der Bevölkerung als jener aller anderen Mitbewerber könnte ihm tatsächlich den Weg an die Spitze des Staates ebnen. Als Außenminister und während seiner zehnjährigen Amtszeit als Chef der Arabischen Liga gewann er unter den Ägyptern durch seine scharfe Kritik an israelischen Repressionen gegen die Palästinenser, am Krieg gegen Gaza und der anschließenden Blockade derartige Sympathien, dass der berühmte Popstar Shaaban Abdul Rahim ihn sogar in einem Lied verewigte: „Ich hasse Israel, aber ich liebe Amr Moussa“. Er verlor auch nicht an Popularität als Mubarak ihn 2001 an die Spitze der Arabischen Liga abschob, vermutlich weil er seine wachsende Beliebtheit als Gefahr für seine eigene Position zu fürchten begonnen hatte – eine Entscheidung, die Moussa heute u.a. als Beweis für die Missstimmungen zwischen ihm und dem Präsidenten anführt. Die zehn Jahre als Außenminister seien“ die schwierigsten seines Lebens“ gewesen, gestand er jüngst.

Am 3. Oktober 1936 in Kairo geboren, schloß er 1957 sein Studium der Rechtswissenschaften an der Kairo Universität ab und trat in den diplomatischen Dienst ein. Er wurde an zahlreiche Botschaften entsandt und vertrat Ägypten auch in der UNO, bis er 1991 das Amt des Außenministers übernahm. In dieser Funktion, wie auch später als Chef der Arabischen Liga, hob er sich durch offene und mitunter auch sehr scharfe Kritik an Israel und westlicher Politik gegenüber der arabischen Welt von der Haltung des Präsidenten ab. 2003 etwa wetterte er im BBC gegen den von den USA angeführten Irak-Krieg: „Glauben Sie das B-52-Bomber dem Irak Demokratie bringen werden?“ Er kritisierte auch scharf westliche Länder, dass sie 2006 den Sieg der islamistischen Hamas bei palästinensischen Wahlen nicht anerkannten. Hingegen setzte er seinen vollen Einfluß ein, um die Unterstützung der Arabischen Liga für die Bombardierungskampagne der NATO in Libyen 2011 zu gewinnen. Später gestand er allerdings ein, dass er wegen der wachsenden Zahl ziviler Opfer Zweifel an der Richtigkeit dieser Entscheidung hege.

Seine Versuche, seine größte Schwäche – die lange Karriere in einem weithin verhaßten Regime – in Stärke umzuwandeln, zeigt teilweise Erfolg. Zwar vermag er bei Wahlveranstaltungen zweifellos Bürger mit seinen Versprechen von politischen, vor allem aber auch ökonomischen Reformen auf seine Seite zu ziehen. Viele – wie viele werden allerdings erst die Wahlen zeigen – glauben an ihn als den erfahrenen Insider, der die Spielregeln der teilweise immer noch herrschenden politischen Kräfte kennt wie kein anderer der Kandidaten und damit als einziger die Voraussetzung, aber auch die Kraft besitzt, das Land aus dieser turbulenten Übergangsphase zur überlebenswichtigen Stabilität zu führen. „Er kennt Präsidenten und Könige. Sein Programm wird uns retten“, meinen Anhänger. Im Militär, aber auch in der Elite des Landes bringt man Moussa ein beträchtliches Maß an Vertrauen entgegen. Wiewohl überzeugter Säkularist, gibt er sich als kluger Demokrat, der sich nun offen bereit erklärt, mit der islamistischen Parlamentsmehrheit zusammen zu arbeiten. Unabhängige Analysten glauben, Moussa könnte tatsächlich als Präsident ein wirkungsvolles Gegengewicht zur islamischen Strömung bilden. Er versteht es, sich als einschüchternder Staatsmann zu präsentieren, nur um sich gleich darauf volksnah in den Straßen unter die Menschen zu mischen.

Doch viele der jungen Revolutionäre halten ihn wegen seiner langjährigen Nähe zu Mubarak für unwählbar. Sie werfen ihm vor, dass er erst zu Beginn der Revolution vorsichtig begonnen habe, sich vom Präsidenten zu distanzieren und noch 2010 offiziell seine Bereitschaft bekundet hatte, Mubarak im Fall einer erneuten Kandidatur wieder zu wählen. Nie habe er die massive Korruption angeprangert, ja sich vielmehr wohlwollend über den vom Präsidenten für die Nachfolge vorbereiteten Sohn Gamal, der seine Position zu gigantischer Bereicherung genutzt hatte, geäußert.

Doch viele Revolutionäre halten ihn wegen seiner langen Nähe zu Mubarak für unwählbar. Sie werfen ihm vor, dass er sich erst zu Beginn der Revolution vorsichtig vom Präsidenten zu distanzieren begonnen habe und noch 2010 offiziell seine Bereitschaft bekundet hatte, Mubarak wieder zu wählen. Wie immer er zur Revolution stand, die er auch heute im Wahlkampf, im Gegensatz zu seinen Rivalen, nicht glorifiziert, Moussa besitzt das Charisma und die Entschlossenheit, sich voll auf Ägyptens Probleme – in erster Linie die gravierende Armut – zu konzentrieren und zugleich keine neuen Gräben – weder gegenüber den Islamisten, noch gegenüber den mächtigen Militärs, aufzureißen. Stabilität, Reform und Fortschritt setzte er sich zu seinen primären Zielen, die er in einer Amtszeit, in vier Jahren, erreichen will. Denn nochmals ist der heute 75-Jährige entschlossen nicht zu kandidieren.

Weiterlesen ...

„Der einzige, der Veränderung bringen kann“

Abdel Monein Abul Futuh präsentiert sich als das „fehlende Bindeglied“ zwischen Ägyptens Islamisten und Säkularisten – Doch ist er ein „Fundamentalist in Tarnung“?

von Birgit Cerha

Abdel Monein Abul Futuh, der 60-jährige Arzt und langjähriges Führungsmitglied der ägyptischen Moslembruderschaft, hat Charisma und ein starke Ausstrahlung. Seine Anhänger sind überzeugt, er sei „der einzige, der Veränderung bringen“, der die tiefe Kluft zwischen Islamisten und säkularen Liberalen in der ägyptischen Gesellschaft überwinden kann, wenn ihn das Volk zum ersten Präsidenten des „neuen Ägypten“ wählt. Die Chancen dafür stehen gut.Seine steigende Popularität im Wahlkampf beruht vor allem auf seiner Fähigkeit, die radikalen Gegensätze zwischen Islamisten und Säkularisten in der Gesellschaft zu neutralisieren – allerdings mit einer bewußt sehr vage gehaltenen Plattform. So spricht er Liberale ebenso an wie Ultra-Islamisten: „Ägypten braucht ein Ende der Polarisierung im Land“ und: „Wir sind in Wahrheit alle Islamisten, warum also sollen wir darüber streiten?“ Die Unterschiede, so seine Botschaft, lägen nur in der religiösen Praxis. Vor allem seine oft wiederholte Warnung, religiöse Predigten mit Parteipolitik zu vermischen, spricht säkulare Liberale ebenso an wie zumindest einige Islamisten. Mit der Feststellung, ein Muslim habe das Recht zum Christentum zu konvertieren – nach Ansicht der meisten sunnitischen Gelehrten Apostasie (Abfall vom Glauben), der mit dem Tode zu bestrafen sei – versucht Futuh vor allem auch die koptische Minderheit (etwa neun Millionen) zu gewinnen. Auch unter den revolutionären Demokratie-Aktivisten, deren Aktionen entscheidend den Fall Präsident Mubaraks im Februar 2011 ermöglicht hatten, findet Futuh viele Sympathisanten. Wael Ghonim, einer der jungen Revolutionsführer, stellt sich offen hinter den sich so gemäßigt gebenden Islamisten und dürfte damit vermutlich viele Gleichgesinnte beeinflussen. Doch als die salafistische „Al-Nour“-Partei und ihre „Mutterorganisation „al-Dawa al Salafiya, eine der größten, radikalsten und bestorganisierten religiösen Bewegungen in Ägypten, Futuh ihre Wahlunterstützung zusagte, setzte in manchen liberalen und koptischen Kreisen ein gewisses Unbehagen ein. Ist er vielleicht gar nur ein getarnter Fundamentalist? Tatsächlich hat Futuh in den letzten Tagen vor der Wahl seine Positionen etwas verhärtet, spricht entschlossener als zuvor von der Durchsetzung der Sharia, des islamischen Rechts. Schloss er vielleicht einen Geheimpakt mit den Salafisten? Futuhs liberaler Medientberater, Ali al Bahnasawy, leugnet dies entschieden. Doch Nader Bakhar, Sprecher der Nour-Partei, spricht es offen aus: „Nur unter Futuh als Präsident werden die Salafisten die Freiheit bekommen, ohne Einmischung des Staates ihre Bekehrungsaktivitäten durchzuführen.“ „Wir wissen nicht, wer er wirklich ist“, gibt sich Zaid Akl, politischer Analyst des „Al-Ahram Zentrums für politische und strategische Studien“ in Kairo skeptisch. „Er gewann an Popularität, weil manche Ägypter sich nach Veränderung sehnen, aber sie wollen keine radikalen Veränderungen. Ideologie treibt die ägyptischen Wähler nicht an.“

1951 in Kairo geboren, schloss Futuh 1976 an der Kairoer Universität sein Medizinstudium ab. Mit einer Gynäkologin verheiratet und Vater von sechs Kindern, erwarb er sich über die Jahre durch seine medizinische Praxis auch in Hilfsorganisationen im internationalen Bereich beträchtliche Sympathien. Während seines Studiums schloss er sich in den 70er Jahren der verbotenen Moslembruderschaft an und betrieb politischen Aktivismus unter Studenten. Berühmt wurde nun auch im Wahlkampf eine Konfrontation mit dem 1981 ermordeten Präsidenten Sadat. Eine Audioaufnahme davon stellten Anhänger jüngst in YouTube. Bei einer Begegnung mit Sadat beschuldigte Futuh den autokratischen Präsidenten, sich mit Heuchlern zu umgeben und politische Aktivitäten der Islamisten zu unterdrücken.

18 Jahre lang arbeitete Futuh im Führungsgremium der Moslembruderschaft und saß in dieser Zeit drei Mal insgesamt fünf Jahre lang Gefängnisstrafen ab. 2009 wurde er in einem Mini-Coup von Hardlinern der Organisation gegen Reformer aus dem Führungsteam entfernt, da er sich im Laufe der Jahre von einem radikalen Islamisten zunehmend zu einem Gemäßigten gemausert hatte. Doch seine Aktivitäten als Gründungsmitglied der Gamaa-al Islamiya, jener Extremistenorganisation, die in den 90er Jahren durch blutigen Terror den Tourismus, das Rückgrat der ägyptischen Wirtschaft, fast vollends lähmte und durch ihre Brutalitäten Angst und Schrecken verbreitete, bereute er offiziell nie.

Unter Ägyptens jungen Demokratie-Aktivisten fand er Sympathie, als er sich ihren Demonstrationen von Anfang an anschloss, schon zu einem Zeitpunkt, da die Moslembruderschaft noch zögerte. Während der 18-tägigen Sitzstreiks gegen Mubarak auf dem Kairoer Tahrir-Platz richtete er Feldspitäler ein. Sein Sohn Huzaifa wurde während der Rebellionen zweimal verletzt. Auch kritisierte er im Gegensatz zu anderen Mitgliedern der Bruderschaft wiederholt offen das Militär, das er für Brutalitäten an Demonstranten verantwortlich machte. Als er sich im März 2012 einer Entscheidung der Moslembruderschaft, keinen Präsidentschaftskandidaten aufzustellen, widersetzte und seine Kandidatur anmeldete, schloss die konservative Führung den unliebsam gewordenen Liberalen aus der Organisation aus. Die islamistische Bewegung ist damit noch tiefer gespalten. Skeptiker am Nil fragen sich: wird der einst so entschieden auftretende Fundamentalist, von seinen salafistischen Sympathisanten beeinflusst zu seinen alten Positionen zurückkehren? Der betont vage Charakter seiner Botschaften und seines Programms könnte für Ägypten – so meinen Kritiker – nicht weniger, sondern mehr Gefahren in sich bergen.

Weiterlesen ...

Ägypten: Auf dem Weg zur „Zweiten Republik“

In einer Stimmung der Verwirrung wähle4n die3 Ägypter zum ersten Mal frei ihre Präsidenten und zugleich einen Weg in eine unklare Zukunft mit gigantischen Problemen

von Birgit Cerha

„Die Szene erinnert an ein Fußballmatch, in dem die beiden Teams (die Islamisten und die „Feloul“ –„die Überbleibsel des gestürzten Regimes“) um Unterstützung eines dritten Teams, (die Revolutionäre) werben, die vom Spiel disqualifiziert wurden.“ So beschreibt die angesehene ägyptische „Al-Ahram“ die auf Hochtouren laufende Kampagne für die ersten freien Präsidentschaftswahlen in Ägypten am 23. Und 24. Mail. Die Wahlen bilden den Höhepunkt eines chaotischen Übergangsprozesses von 60 Jahren Diktatur in eine ungewisse Ära der Demokratie. Die Hohe Wahlkommission hat die seit dem Sturz Präsident Mubaraks im Februar 2011 herrschende Verwirrung und tiefe Unsicherheit über die Zukunft des Landes noch durch den abrupten Ausschluß einer Reihe führender Kandidaten unter fadenscheinigen „technischen“ Vorwänden wesentlich gesteigert. In Wahrheit ging es dem regierenden Militärrat darum, radikalen Politikern – Islamisten, wie auch Anhängern des alten Regimes – den Aufstieg zur Macht im neuen Ägypten zu verwehren. Somit läßt sich eine sichere Wahlprognose wagen: Der erste Präsident der „Zweiten Republik“ Ägypten wird kein Radikaler sein. Fast ebenso sicher ist, dass keiner der zwölf Kandidaten am 24. Mail als klarer Sieger hervorgehen wird. Erst eine Stichwahl am 16. Und 17. Juni wird die Entscheidung bringen.
Die Ägypter sind nach mehr als einem Jahr anhaltender Proteste gegen den politisch überforderten Militärrat frustriert, erschöpft und von wachsender Sorge um ihre ökonomische Lebensbasis gequält. Sie sind politisch und ideologisch tief gespalten. Die erste Fernsehdiskussion von zwei Spitzenkandidaten für das Amt des Staatschefs, die die arabische Welt je erlebte, heizte zwar die Wahleuphorie zumindest in manchen Bevölkerungskreisen auf. Doch sie zeigte zugleich deutlich, wo tiefe Bruchlinien die Gesellschaft spalten: Soll sich Ägypten künftig von zeitlosen islamischen Lehren leiten lassen oder von Regeln, die sich an immer wieder verändernde Forderungen des Volkes orientieren? Die Diskussion zwischen zwei der vier Spitzenkandidaten – dem liberalen Islamisten Abdel Monein Abul Futuh und dem überzeugten Säkularisten Amr Moussa, langjähriger Außenminister unter Mubarak und anschließend Chef der Arabischen Liga - brachte keine Antwort.

In Meinungsumfragen liegt der 75-jährige Mussa nicht zuletzt dank seines hohen Bekanntheitsgrades vorne. Seine politische Erfahrung und intimen Kenntnisse des politischen Systems machen ihn für zum Garanten für Stabilität. An zweiter und dritter Stelle liegen der aus der Moslembruderschaft ausgeschiedene Futuh, sowie Mubaraks letzter Premier und ehemaliger Luftwaffenkommandant Ahmed Shafik, wohl Favorit der Militärs. Doch Meinungsumfragen haben in Ägypten keine Tradition, ihr Verläßlichkeitsgrad ist ungewiss. Am schwersten einzuschätzen sind die Chancen von Mohammed Mursi, dem Kandidaten der Partei der Moslembrüder „Freiheit und Gerechtigkeit“, der stärksten politischen Kraft im Parlament. Dem in Kalifornien ausgebildeten Ingenieur, die zweite Wahl der „Brüder“ nachdem ihr Vorzugskandidat Khairat al-Shater disqualifiziert worden war, fehlt das Charisma für einen sicheren Sieg. Doch im Gegensatz zu den anderen Kandidaten kann er sich auf den hervorragenden Organisationsapparat der Moslembrüder stützen, die bei den jüngsten Parlamentswahlen 46 Prozent der Stimmen errungen hatten. Doch auch die radikaleren Salafisten verfügen über ein dichtes Netz an engagierten Anhängern. Sie sind jedoch gespalten. Die stärkste Gruppierung, die „Nour-Partei“, wirbt für Futuh, der einst zu den Gründungsmitgliedern der „Gamaa al Islamiya“ gezählt hatte, die durch ihren Terror gegen Touristen in den 90er Jahren das Land in Panik versetzt hatte. Hat sich Futuh tatsächlich gemäßigt? Beweist die Unterstützung durch „Nour“ nicht das Gegenteil? Zweifel daran könnten ihm Stimmen unter den jungen Revolutionären, säkularen Liberalen und auch Kopten kosten, die er so intensiv umwirbt.

Wem immer die Ägypter ihr Vertrauen schenken, der neue Präsident wird gigantische politische Herausforderungen zu meistern haben. Vor dem Hintergrund einer katastrophalen ökonomischen Krise und schockierenden Verarmung der Bevölkerung gilt es rasch heikle Verfassungsfragen zu lösen. Das von Islamisten dominierte Parlament will die Macht des Präsidenten beschneiden, doch eine neue Verfassung wurde, entgegen der Übergangspläne, bis heute nicht erarbeitet. Vor allem aber geht es um die künftige Rolle der Streitkräfte, die sich bis Ende Juni aus der Politik zurückziehen wollen. Doch ihre Fangarme reichen in alle Ecken des Staates und der Wirtschaft. Und was geschieht mit dem bisher unangetasteten geheimen Netz des allmächtigen Sicherheitsapparates? Der wirklich gefährliche Machtkampf am Nil wird erst beginnen.

Weiterlesen ...

Dienstag, 8. Mai 2012

Al Kaida gewinnt an Stärke im Jemen

Verfehlt der gemeinsame amerikanisch-jemenitische Anti-Terrorkrieg sein Ziel? – Der militärischen fehlt die politische Strategie

von Birgit Cerha


Amerikanische Anti-Terrorexperten hegen keine Zweifel: „Al-Kaida auf der Arabischen Halbinsel“ (AKAH), die weitaus widerstandsfähigste Gruppe in dem einst von Osama bin Laden geflochtenen Terrornetzwerk, wird immer stärker. Mit dem bevorstehenden Ende des mehr als zehnjährigen amerikanischen Militärengagements in Afghanistan verlagert sich der Anti-Terrorkrieg der Supermacht nur weiter nach Südwesten. Als jüngsten Beweis für die anhaltende Gefahr, die dem Westen, ja selbst dem amerikanischen „Heimatland“ vom südlichen Zipfel der Arabischen Halbinsel droht, liefert der US-Geheimdienst Bruchstücke von Informationen über die Planung eines „ambitionierten Bombenanschlags auf ein Flugzeug Richtung USA“, die zu vereiteln gelungen sei. Der Terrorakt sollte mit einer ausgeklügelten Weiterentwicklung der „Unterhosenbombe“ durchgeführt werden, die zu Weihnachten 2009 beinahe eine Passagiermaschine über Detroit zur Explosion gebracht hatte. Doch die Zündung der Bombe war fehlgeschlagen. Nach Erkenntnissen des US-Geheimdienstes führt auch diesmal die Spur wieder zur AKAH im Jemen und deren saudischen Bombenbastler Ibrahim al-Asiri, der den Mechanismus dieser nichtmetallischen, von Metalldetektoren auf Flughäfen nicht zu erkennenden Bombe verfeinert haben dürfte. Ob Vollkörperscanner eine solche Bombe, die ein Selbstmordattentäter in der Unterwäsche verstecken könne, entdecken würden, bleibt vorerst unklar.

Schon vor Wochen stellte John Brennan, Anti-Terror-Berater von US-Präsident Obama, alarmiert fest, dass AKAH im Jemen immer stärker Fuß fasse „sehr, sehr gefährlich“ sei und „enge Bindungen zum Al-Kaida-Kern in Pakistan“ unterhalte. Somit herrscht wenig Zweifel, dass sich der amerikanische Anti-Terror-Krieg in nächster Zukunft immer stärker auf das dahinsiechende Armenhaus auf der Arabischen Halbinsel konzentrieren wird.

Die mehr als einjährige demokratische Rebellion gegen den jahrzehntelangen Diktator Ali Abdallah Saleh hatte den Jemen in noch größeres Chaos gestürzt. AKAH verstand es, diese Situation für sich zu nutzen. Die Al-Kaida-Militanten schlugen sich verstärkt auf die Seite islamistischer Süd-Jemeniten, die gegen die Zentralregierung in Sanaa rebellieren. Heute lassen sich die Mitglieder dieser Ansar al Sharia kaum noch von AKAH unterscheiden. Gemeinsam haben sie südjemenitische Regionen in den Provinzen Abyan, Shabwa, Hadramout, Marib und Lahdsch unter ihre Kontrolle gebracht. Sogar die südjemenitische Hafenstadt Aden ist nach Aussagen unabhängiger Jemeniten „reif“ in die Hände der Al-Kaida zu fallen.

Als Abd-Rabbu Mansur al-Hadi nach langen mühseligen amerikanisch-saudischen Vermittlungsbemühungen im Februar Saleh im Präsidentenamt ablöste, schwor der neue Herrscher über fast unregierbar gewordenen Staat, den Kampf gegen al-Kaida mit offener und wohl auch geheimer US-Hilfe wesentlich zu verstärken. Doch dafür müßte er zuerst einmal die seit dem Sturz Salehs zersplitterten Streitkräfte wieder einen – ein äußerst schwieriges Unterfangen. Dennoch haben die Attacken auf Islamisten-Ziele und deren Gegenangriffe seit Februar dramatisch zugenommen. Und die USA setzen wieder verstärkt Dohnen und Raketen gegen mutmaßliche Stellungen der Extremisten ein. Sie verfolgen damit das Ziel, AKAH in der Hoffnung zu köpfen, das Terrornetzwerk damit schließlich völlig auszuschalten. Doch die jüngsten Entwicklungen lassen eine gegenteilige Wirkung befürchten. AKAH erweist sich als äußerst widerstandsfähig. So manches deutet darauf hin, dass sie die Gruppe vom Tod ihres in den USA geborenen „geistlichen Führers“ Anwar al-Awlaki und dem Chefredakteur des Propaganda-Magazins „Inspire“, Samir Khan durch eine US-Drohne vergangenen September wieder erholt hat. Nach siebenmonatiger Pause erschien eben wieder eine Ausgabe dieser Internetzeitschrift, die vor allem Islamisten in westlichen Ländern Instruktionen für Terrorakte erteilt. Auch die Lücke, die der Tod des seit langem wegen seiner Beteiligung am Terroranschlag gegen das US-Kriegsschiff Cole im Jahr 2000 gesuchten AKAH-Führungsmitglieds Fahd al-Kuso riss, wird die Gruppe rasch wieder schließen. Al-Kuso war Sonntag durch eine Rakete getötet in einer einsamen südjemenitischen Gebirgsregion getötet worden.

Die Erfahrungen im Jemen geben Kritikern des Einsatzes von Drohnen im Anti-Terror-Krieg zumindest teilweise recht. Trotz des verstärkten Einsatzes von Drohnen zur Tötung von mutmaßlichen Extremisten hat sich die Zahl der AKAH-Militanten laut jemenitischem Außenministerium seit 2009 von 300 auf tausend erhöht. Wieviele Zivilisten dabei ums Leben kamen, bleibt Schätzungen vorbehalten. Unter ihnen ist der 16-jährige Sohn Awlakis, der vergangenen Oktober durch eine US-Drohne getötet worden war und nachweislich nicht in Terroraktivitäten verwickelt war. Trotz der zivilen Opfer hat Obama Ende April entschieden, die Drohnenangriffe weiter auszuweiten. Der US-Geheimdienst CIA darf künftig bei bloßem Terrorverdacht Drohneneinsätze fliegen. Bisher durften nur auf Terroristen gezielt werden, die auf Geheimdienst- und Militärlisten geführt werden. Nun muß nicht mehr eindeutig feststehen, wer bei den Anschlägen getötet werden könnte.

Washington ist drauf und dran im Jemen die Fehler von Afghanistan zu wiederholen, mit möglicherweise fatalen Folgen. Fundierte Kenner des Landes, wie der Amerikaner Gregory Johnson, beklagen die ausschließliche Konzentration der US-Führung auf den militärischen Kampf gegen Al-Kaida im Jemen, wo man vollends des fruchtbaren Nährboden für extremistische Gedankengut außer acht läßt. So findet AKAH vor allem in den Regionen des Süd-Jemen starken Zulauf, die seit Jahrzehnten zunächst von der Regierung in Aden und dann von jener des vereinten Jemen in Sanaa vollends vernachlässigt wurden. Mehr als in anderen Gebieten fehlt es dort an Strom und sauberem Wasser, an Arbeitsplätzen und anderen Einkommensquellen. Nach dem Vorbild der Taleban in Afghanisten versucht AKAH gemeinsam mit ihren lokalen Gesinnungsgenossen, die hier den Kern eines islamischen Staates errichten wollen, die Lücke zu füllen. Sie versorgen die bitterarmen Menschen mit überlebenswichtigen Gütern, liefern kostenlos Strom und Gas, versuchen die Not zu lindern. Wenn die von den USA unterstützten Streitkräfte des jemenitischen Staates, der sie so sträflich vernachlässigt, dann gegen die al-Kaida-„Wohltäter“ losschlagen und dabei immer wieder auch Zivilisten treffen, machen sie sich die Bewohner dieser Regionen zu ihren Erzfeinden. Dabei spielt die Tatsache, dass die Islamisten islamisches Recht auch gewaltsam durchzusetzen suchen, eine untergeordnete Rolle.

Weiterlesen ...

Mittwoch, 2. Mai 2012

Erneute Gewalt verschärft Spannung und Verwirrung in Ägypten

Inmitten politischer Turbulenzen und Streiks kämpfen 13 Kandidaten in der ersten freien Präsidentschaftswahlkampagne am Nil von Birgit Cerha
Drei Wochen bevor rund 50 Millionen Ägypter aufgerufen sind, zum ersten Mal in der modernen Geschichte Ihres Landes in freien und fairen Wahlen ihr Staatsoberhaupt zu bestimmen, haben sich die Spannungen im Land drastisch verschärft. Unbekannte bewaffnete Männer attackierten Mittwoch sechs Stunden lang mit Steinen, Messern und Gewehrschüssen Demonstranten, die vor dem Verteidigungsministerium in Kairo gegen den herrschenden Militärrat protestierten. Mindestens elf Demonstranten kamen dabei ums Leben und mehr als 150 Menschen wurden verletzt. Zwei führende Präsidentschaftskandidaten, der unabhängige Islamist Abdul Moneim Aboul Fotouh, und der Führer der „Partei für Freiheit und Gerechtigkeit“ (PFG) der Moslembruderschaft, Mohammed Mursi suspendierten aus Protest ihre Wahlkampagne, während die salafistische „Nour“-Partei, die gemeinsam mit der PFG 70 Prorzent der Parlamentssitze kontrolliert, den Boykott eines Treffens mit dem Militärrat beschloss. Viele der attackierten Demonstranten sympathisieren mit dem salafistischen Geistlichen Hazem Abu Ismail, der nicht als Präsidentschaftskandidat zugelassen wurde, weil seine Mutter die ägyptisch-amerikanische Doppelstaatsbürgerschaft besitzt und damit die Bestimmung einer nach dem Sturz von Präsident Mubarak im Februar 2011 beschlossenen Verfassungsreform nicht erfüllt. Abu Ismail präsentiert sich nun als Opfer eines „Komplotts“ durch die Militärs, die dem politischen Aufstieg der Safafisten einen Reigel vorschieben wollten. Die Attacken von Schlägertrupps in zivil gegen die Demonstranten folgen einem seit einem Jahr am Nil häufig praktizierten Muster. In weiten Kreisen der Bevölkerung ist man davon überzeugt, dass derartige Angriffe zumindest von Teilen des Regimes unterstützt werden. Meist verfehlte solche Gewalt aber die offenbar angestrebte einschüchternde Wirkung. So dürften sich auch in den kommenden Tagen bis zur ersten Runde der Wahlen am 23. und 24. Mai die Spannungen nur noch weiter verschärfen. Seit er die Macht am Nil vor mehr als einem Jahr übernahm, hat der ursprünglich durchaus populäre Militärrat dramatisch an Sympathie im Volk verloren. Die Liste der Beschwerden ist lang, sie reicht von gewaltsamen Einschüchterungsversuchen Oppositioneller bis zu Massenverhaftungen. Etwa 15.000 Zivilisten wurden bisher von Militärgerichten abgeurteilt, während die Streitkräfte sich de facto keinerlei Rechenschaft unterziehen müssen. Der Militärrat ist mit massiver Kritik an dem chaotischen politischen Übergang von der Diktatur Mubaraks in eine demokratische Zukunft konfrontiert. Der Polizeiapparat wurde bis heute nicht reformiert, während Kriminalität und Rechtlosigkeit immer mehr die Bevölkerung in tiefe Unsicherheit stürzen. Das Chaos verschärft die Wirtschaftskrise und viele Ägypter befürchten, die Militärs würden nicht von der Macht lassen, bevor sie sich nicht vollends durch Sondervollmachten und Privilegien abgesichert hätten. Ein Beispiel dafür ist ein vom Militärrat jüngst im Parlament durchgeboxtes Gesetz, das den Offizieren das Recht gibt, zu entscheiden, welche Verbrechen unter ihre Jurisdiktion fallen, wie etwa von Angehörigen der Streitkräfte verübte Korruption. Bis Ende Juni muss das Militär nach den Übergangsregeln die Macht abgeben, nachdem ein neuer Präsident in vermutlich einem zweiten Wahlgang am 16. Und 17. Juni gewählt wurde. Und auch der Wahlprozess selbst versetzt zwar viele Ägypter in hoffnungsvolle Euphorie, gibt aber zugleich auch Anlass zu tiefer Skepsis. Die Kommission, die die Wahlen überwacht, wurde von den Militärs ernannt. Gegen ihre Entscheidungen kann nicht berufen werden und alte Wahllisten wurden nicht neu überarbeitet. Zehn der 23 Kandidaten wurden von der Wahlkommission disqualifiziert, Prominentester darunter Mubaraks ehemaliger engster Vertrauter und militärischer Geheimdienstchef Omar Suleiman, sowie der ultrakonservative Anwalt Hazem Salah Abu Ismail. Mubaraks letzter Premier Ahmed Shafik wurde zuerst ausgeschlossen und zwei Tage später doch zugelassen, ein Verhaltensmuster der heutigen ägyptischen Führer, das viele in tiefe Unsicherheit und Verwirrung stürzt. Laut Umfragen besitzt der langjährige Außenminister und seit 2001 Chef der Arabischen Liga, Amr Moussa dank seines hohen Bekanntheitsgrades die größten Wahlchancen, gemeinsam mit dem charismatischen islamistischen Arzt und engagierten Gegner des Mubarak-Regimes, Abdel Abol Fotouh, der sich zwar als gemäßigt präsentiert, dennoch die Unterstützung der ultra-konservativen Salafisten und eines beträchtlichen Teils der Moslembrüder gewann. Die beiden dürften in der Stichwahl um den Sieg kämpfen. Doch Umfragen am Nil sind nicht verläßlich und im Land der Pharaonen, so ein alte Weisheit, müsse man immer das Unerwartete erwarten.
Weiterlesen ...