Sonntag, 24. August 2014

Amerli – das nächste Sindschar?

Tausenden turkmenischen Schiiten in der von IS belagerten nordostirakischen Kleinstadt droht ein Massaker
 
 von Birgit Cerha

Während sich am Wochenende nach einem blutigen Überfall bewaffneter Schiiten auf eine sunnitische Moschee in der irakischen Provinz Diyala die Spirale der Gewalt durch Racheaktionen in verschiedenen Landesteilen immer schneller drehte, appellierte der UN-Sonderbeauftragte für den Irak, Nickolay Mladenov an die internationale Gemeinschaft, der vom Tode bedrohten Zivilbevölkerung im nordostirakischen Amerli sofort zu Hilfe zu eilen. In dieser überwiegend von schiitischen Turkmenen bewohnten Kleinstadt ereignet sich eine humanitäre Tragödie. Ein Arzt der Stadt spricht von „unsagbarem Leid“, einem Schicksal, das jenem der Yeziden in Sindschar gleichen könnte. Doch während Massaker an Yeziden, drohender Hungertod die USA  zur humanitären Intervention bewogen hatten, macht die Pein von Amerli in der Weltöffentlichkeit keine Schlagzeilen.
Bis zu 20.000 Menschen, darunter mehr als 7.000 Kinder, kämpfen nach mehr als 70-tägiger Belagerung mit dem Tod durch Hunger, Durst oder Krankheiten, für deren Behandlung es keine Medikamente mehr gibt.
Nachdem Terroristen des „Islamischen Staates“  (IS) am 20 Juni Mosul erobert hatten, begannen sie, von schiitischen Turkmenen bewohnte Dörfer in der Region zu stürmen. Nur Amerli, im Nordosten gelegen, hielt als letzte Bastion von 31 schiitischen Dörfern stand, doch vollends vom Feind umringt, ohne Fluchtweg nach Süden oder in den kurdischen Norden.  Seit 17. Juli ist die Kleinstadt von IS belagert und täglichen Raketenangriffen ausgesetzt. Mindestens sechs Offensiven der IS wurden von rund 400 nur mit Kalaschnikows bewaffneten Bewohnern – lokalen Polizisten und Freiwilligen – abgewehrt, darunter auch im letzten Moment eine 24-stündige Attacke am 3. August.
Schockierende Berichte dringen aus Amerli. Am 22. Juli, inmitten der brütenden Sommerhitze, begann IS die Wasser und Stromversorgung zu blockieren. Die Bewohner können sich nur noch aus Brunnen mit salzigem und unsauberem Wasser versorgen. Alte, Kranke und Kleinkinder erkrankten und einige starben bereits. Unterdessen sind die Nahrungsmittelreserven aufgebraucht, ebenso die Medikamente. Ein Helikopter der irakischen Streitkräfte bringt zweimal pro Woche Nahrungsmittel, nicht mehr als ein halbes Kilo pro Familie. Das reicht nicht. Manche Familien essen nur jeden dritten Tag. Doch die Flüge über von IS-kontrolliertes Gebiet sind noch gefährlicher als der riskante Einsatz für die Yeziden auf dem Sindschar-Berg gewesen war. Die kleine Landezone liegt nur eineinhalb Kilometer von IS-Positionen entfernt. Die Helikopter werden regelmäßig mit Raketen attackiert.
Iraks höchster schiitischer Geistlicher, Großayatollah Sistani, rief eindringlich zur Hilfe für die Glaubensbrüder in Amerli auf. Die irakische Luftwaffe bombardierte mehrmals von IS besetzte Dörfer, in der Hoffnung, einen Fluchtweg freizukämpfen. Doch ohne Erfolg. Turkmenische Milizionäre aus der nur 25 km von Amerli entfernten, von kurdischen Peschmerga kontrollierten Stadt Tuz Khurmatu starteten am 8. August einen Rettungsversuch, doch wurden alle massakriert, als sie mit ihrem Kleintransporter etwa sieben Kilometer vor der Stadt an einen Panzer des IS gestoßen waren.
Amerlis Zivilbevölkerung sitzt in der Todesfalle. Gibt sie, durch Hunger und Durst geschwächt, den Widerstand auf, dann ist ihr das grauenvolle Schicksal der Nachbardörfer gewiß: Alle Bewohner werden getötet, nur die Mädchen lässt IS für seine Kämpfer am Leben. Amerlis Turkmenen fühlen sich von ihrer jahrzehntelangen Schutzmacht Türkei im Stich gelassen, aber auch von den Peschmerga und der internationalen Gemeinschaft, die den Yeziden zu Hilfe geeilt war. Dabei könnte eine gemeinsame amerikanisch-kurdische Militäraktion, so meinen Kenner der Lage, einen sicheren Korridor schaffen und die Eingeschlossenen vielleicht schon in ein bis zwei Tagen retten.

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