Sonntag, 23. Dezember 2012

Verfassungsreferendum zeigt tiefe Spaltung Ägyptens


Mit einem mehrheitlichen „Ja“ erzielt Präsident Mursi einen „Pyrrussieg“ – Dem Land drohen neue Konfrontationen

von Birgit Cerha
Ägyptens Moslembrüder haben noch jede Wahl seit dem Sturz Präsident Mubaraks vor fast zwei Jahren gewonnen. Das mehrheitliche „Ja“ zu dem von ihnen und Präsident Mursi propagierten,  hochumstrittenen Verfassungsentwurf beim Referendum am 15. und 22. Dezember überrascht deshalb nicht. Nach dem bisher offiziell noch nicht bestätigten Ergebnis stimmten vergangenen Samstag bei der Abstimmung in überwiegend von Islamisten dominierten ländlichen Regionen 71 Prozent für den Verfassungsentwurf, der nach Überzeugung der Opposition Ägypten den Weg zu einem theokratischen Staat ebnet, und nur 29 Prozent votierten mit „Nein“. Die beiden Wahlrunden erbringen damit ein Gesamtergebnis von etwa  64 Prozent „Ja“ und 33 Prozent „Nein“-Stimmen und Mursi und seine Moslembruderschaft feiern einen Triumph.
In Wahrheit aber zerstreut dieses Ergebnis keinerlei Zweifel an der Legitimität der ersten Verfassung für ein demokratisches Ägypten. Denn die Wahlbeteiligung lag bei nur 33 Prozent so niedrig, dass de-facto nur 21 Prozent aller wahlberechtigten Ägypter das neue Grundgesetz billigten – ein „Pyrrussieg“ für Mursi, der die tiefe Spaltung der ägyptischen Gesellschaft krass wie nie zu Tage fördert. Da viele hochmobilisierte Anhänger der Moslembruderschaft ihr „Ja“ für ein Dokument gaben, dessen Inhalt sie gar nicht kennen oder verstehen, gilt dieses Votum wohl vor allem dem Präsidenten, für den sie keine Alternative sehen. Andere stimmten für die Verfassung, weil sie , tief ermüdet und frustriert durch die zweijährigen, teils blutigen Turbulenzen, sich von Mursis Argumenten überzeugen ließen, dass Ägypten nun den Weg zu „Recht und Ordnung“, endlich zu Stabilität und der heißersehnten wirtschaftlichen Erholung finden werde. Ein „Nein“ würde die Ära der konfliktgeladenen Orientierungslosigkeit mit all den gravierenden sozialen Konsequenzen drastisch verlängern.
Die Opposition, die  die Verfassung als „Verrat an ihrer Revolution“ gegen Mubarak sieht, da sie weder Menschenrechte, noch Meinungsfreiheit und schon gar nicht den Schutz der koptischen Minderheit garantiert, bemängelt „gravierende Unregelmäßigkeiten“, über die Ägyptens Justiz zu entscheiden habe. So wurden an manchen Orten Kopten an der Stimmenabgabe gehindert, Wahllokale an Orten, in denen Verfassungsgegner die Mehrheit bilden,  verspätet geöffnet oder frühzeitig geschlossen und in einigen koptischen Regionen hielten radikale Fundamentalisten zur Einschüchterung von Wählern Demonstrationen  ab.
Die „Nationale Rettungsfront“ (NRF), der jüngst unter Leitung von Friedensnobelpreisträger Mohammed el Baradei neugegründete Dachverband der Opposition, hatte schon vor Beginn des Referendums klargestellt, dass er selbst bei einem „ja“-Votum die Verfassung anfechten werde, weil sie von der von Islamisten dominierten Verfassungsbildenden Versammlung ohne Konsens dem Land aufoktroyiert wurde. Die niedrige Wahlbeteiligung , die zugleich eine Niederlage der Opposition bedeutet, die für ein „Nein“ geworben hatte, verstärkt aber deren Argument der Illegitimität der Verfassung,
Ägypten stehen nun mehrere Optionen offen. Radikalere Gruppen der Opposition sind zur Fortsetzung ihrer weitgehend friedlichen Proteste gegen Mursi und die Verfassung entschlossen. Für die bisher durch ihre Desorganisation und Zerstrittenheit den Moslembrüdern hoffnungslos unterlegene Opposition bieten sich nun aber neue Möglichkeiten. Der Streit um die Verfassung hat diverse Gruppen geeint, wie nie zuvor – diesmal gegen die Islamisten, für die einige der Revolutionäre gegen Mubarak lange Sympathie als vom Regime jahrzehntelang verfolgte Mitstreiter empfunden hatten. Solche Gefühle starben mit zunehmender Repression gegen Demonstranten durch den neuen Herrscher. Unter Führung Baradeis und des ehemaligen Chefs der Arabischen Liga, Amr Moussa, hat die NRF begonnen, sich als Kristallisationspunkt jener Hälfte Ägyptens herauszubilden, die eine freiheitliche, demokratische und tolerante Gesellschaftsordnung ersehnt. Doch sie haben viel aufzuholen, um die Mobilisierungsfähigkeiten ihrer Gegner zu erreichen. Die Zeit ist kurz, denn schon Ende Februar sollen die Ägypter ein neues Parlament wählen. Mursis Image erscheint durch seine wiederholt dokumentierte Selbstherrlichkeit angekratzt. Durch eine kluge, besonnene Strategie bietet sich deshalb der Opposition durchaus eine Chance genügend Vertrauen zu gewinnen, um eine starke Kraft im neuen Parlament zu bilden, damit jene die Demokratie gefährdenden Verfassungsartikel zumindest zu blockieren und den Präsidenten zu einem echten Konsens zu zwingen. Die Alternative  ist ein langer, blutiger Konflikt mit unabsehbaren sozialen Folgen für einen großen Teil der bitterarmen Bevölkerung.

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