Montag, 18. Juni 2012

Ägypten: „Schlimmer als am Nullpunkt“

Das Militär sichert sich in einem „sanften Coup“ gegen die Moslembruderschaft weitreichende Macht und verurteilt die Präsidentschaftswahl zur Bedeutungslosigkeit

von Birgit Cerha



In einer großen Zeremonie werde Ägyptens neuer, am 16. Und 17 Juni gewählter Präsident am 30. Juni angelobt werden und der seit dem Sturz Präsident Mubaraks im Februar 2011 regierende „Höchste Militärrat“ (HMR) werde, wie versprochen, die Macht übergeben. Mit dieser Erklärung versuchten Montag die HMT-Generäle ein empörtes Volk zu beschwichtigen und erfüllten zugleich ein ihrem wichtigsten Verbündeten und Finanzier, USA, gegebenes Versprechen. Doch niemanden vermag diese Farce zu überzeugen. Noch steht nicht fest, wer von den beiden für viele Ägypter de facto unwählbaren Kandidaten – dem Moslembruder Mursi oder dem Ex-General und Ex-Premier Mubaraks Shafik – der neue Präsident sein wird. Beide beanspruchen den Sieg für sich und damit einen Erfolg, der in den vergangenen Stunden fast jede Relevanz verlor. Denn was ein historischer Tag für das Land der Pharaonen werden sollte – der Aufstieg des ersten in freien Wahlen vom Volk bestellten Herrschers – erwies sich als schwere Enttäuschung. Nur wenige Stunden nach Schließung der Wahllokale verkündete der HMR ein Verfassungsdekret, das ihm auch für die nächste Zukunft weitreichende Machtbefugnisse sichert. Nachdem Donnerstag das Verfassungsgericht überraschend das erst vor vier Monaten gewählte Parlament aufgelöst hatte, übernimmt nun der Militärrat die Gesetzgebungshoheit bis eine neue Volksvertretung gewählt ist. Er erhält auch die Kontrolle über das Budget und die volle Autorität über die Streitkräfte, ein besonderes Anliegen des HMR). Mitgliedern des Militärrates, allen voran dessen Chef, Feldmarschall Tantawi, sind die Posten auf Lebenszeit gesichert.

Vor allem gilt auch die Verfassungsgebende Versammlung aufgelöst, die das von der Moslembruderschaft (MB) und den radikaleren islamistischen Salafisten dominierte Parlament gewählt hatte. Die Militärs werden eine Kommission nach ihrem Geschmack einsetzen, die binnen drei Monaten einen Verfassungsentwurf erarbeiten und diesen dem Volk zur Billigung vorlegen soll. Innerhalb eines Monats nach Annahme der neuen Verfassung sollen dann Parlamentswahlen stattfinden. Ob dieser Zeitplan eingehalten wird, ist äußerst fraglich. Zumindest bis zu einem Übergang zu einem demokratischen System – falls dieser je stattfindet – hat auch die Polizei nach einem eben verabschiedeten Dekret de facto unumschränkte Befugnisse zu verhaften, wen sie will. Die islamistische und säkulare Opposition ist ebenso schockiert wie Angehörige der in Ägypten sehr lebendigen Zivilgesellscvhaft. Der Friedensnobepreisträger Mohammed el Baradei spricht von einem „schweren Rückschlag für die Demokratie und die Revolution.“ Der Menschenrechtsaktivist Hossam Bahgal klagt, der „Arabische Frühling“ habe Ägypten in eine „Militärdiktatur“ geführt und eine Demokratieaktivisten faßt die Sorge vieler zusammen: Ägypten sei in eine Lage zurückgefallen, die „schlimmer“ sei „als der Nullpunkt“.

Dieser von den Offizieren der Mubarak-Ära sorgfältig geplant Coup richtet sich in erster Linie gegen die Moslembruderschaft, den Erzfeind des herrschenden Establishments seit Jahrzehnten. Seit Beginn der Proteste gegen Mubarak im Januar 2011 sprachen die Kräfte des alten Regimes von einem Komplott der Moslembrüder (MB) und versuchten, diese in Teilen der Bevölkerung sehr populäre und bestens organisierte Kraft zu schwächen und zu isolieren. Innerhalb der MB setzten sich die Hardliner durch, die in den vergangenen Monaten zunehmend ihre revolutionären und demokratischen Partner vor den Kopf stießen und wichtige Teile der ägyptischen Gesellschaft, Liberale, Frauen und Kopten, in tiefe Ängste vor einer drohenden Islamisierung des Landes stürzten. Als sie schließlich neben dem Parlament, der Verfassungsgebenden Versammlung auch noch die Präsidentschaft zu erobern schienen, starteten die anti-islamischen Generäle ihren Coup. Dabei geht es den Offizieren keineswegs nur darum, Ägypten vor einer verstärkten Islamisierung zu retten, sondern vor allem auch sich ihre Machtposition im Staat und in der Wirtschaft, die weitreichenden Privilegien, die die Streitkräfte auch als Empfänge von Milliarden von Militärhilfe aus den USA geniießen, zu erhalten.

Die MB ist entschlossen, die Auflösung des Parlaments mit legalistischen Mitteln zu bekämpfen. Laut Verfassung von 1971 (wobei umstritten ist, ob diese auch derzeit gilt) steht ein solcher Schritt nur dem Präsidenten zu. Manche Aktivisten verkünden eine neue Periode der Proteste. Die Generäle aber spekulieren mit der Müdigkeit der ägyptischen Bevölkerung nach 17-monatigen Turbulenzen mit ihren gravierenden Auswirkungen auf die Wirtschaft und das Einkommen der Bevölkerung. Ein großer Teil der Ägypter sehnt sich nach Ruhe und Stabilität. Die Stimmung am Kairoer Tahrir-Platz, der Geburtsstätte der Revolution, Sonntag und Montag war erstaunlich gedämpft, ja resigniert.

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