Freitag, 16. September 2011

Die tiefe Sehnsucht nach Gerechtigkeit

Warum die uralten Regeln der Scharia immer noch unter Hunderten Millionen von Muslimen starke Anziehungskraft besitzen

von Birgit Cerha

„Wir sind ein muslimisches Volk. Wir treten für einen moderaten Islam ein und wir werden auf diesem Weg bleiben.“ Mit diesen Worten verkündete der als liberal und pro-westliche geltende Vorsitzende des libyschen Übergangsrates, Mustafa Abdel Dschalil, die Absicht, in dem mit westlicher Hilfe von Diktator Gadafi befreiten Libyen die Scharia, das islamische Recht, als „wichtigste Quelle der Gesetzgebung“ einzuführen. Wollen Libyens neue Führer einen islamischen Staat errichten? Ist Dschalils Ankündigung als Zugeständnis an die politisch starken Islamisten im Lande zu werten? Läßt sich Dschalils bekundete Absicht, einen „demokratischen Rechtsstaat und Sozialstaat“ aufzubauen, mit der Scharia vereinen?

Kein Rechtssystem hat je im Westen eine schlechtere Presse gefunden als das islamische. Gemeinhin wird hier „Scharia“ mit Handabhacken, Steinigung und vielen anderen menschenverachtenden Gräueltaten und demütigender Unterdrückung der Frauen identifiziert. Warum aber besitzt dennoch dieses Rechtssystem unter Hunderten Millionen von keineswegs radikalen Muslimen auch heute noch starke Anziehungskraft?

In zahlreichen islamischen Ländern – etwa Saudi-Arabien, Kuwait, Bahrain, Jemen u.a. -,wo der Islam als die offizielle Religion in der Verfassung verankert ist, gilt die Scharia schon lange als eine oder die wichtigste Quelle der Gesetzgebung. In Pakistan, Ägypten, Iran und Irak u.a. ist zudem noch die Verabschiedung von Gesetzen verboten, die dem Islam widersprechen. In dem nun Demokratie erstrebenden Ägypten etwa besteht die mächtige Moslembruderschaft auf der Scharia, bekennt sich aber gleichzeitig zu einem „zivilen Staat“. „Wir sind gegen einen religiösen Staat“, betont einer ihrer Führer, Abdel Monem Abou el-Fetouh. Scharia bedeute „Freiheit, Gerechtigkeit und Entwicklung, wie es unser Prophet Mohammed gepredigt hat.“

Rechtsexperten weisen darauf hin, dass die bloße Absicht, die Scharia als Grundlage einer Rechtsordnung anzuerkennen, keine konkrete Aussage darstellt. Denn das islamische Recht unterliegt sehr unterschiedlichen Interpretationen. Im Westen wird Scharia sehr oft mit „Fiqh“ verwechselt, was in etwa „islamische Rechtsprechung bedeutet. „Scharia“ hingegen impliziert eine Verbindung zum Göttlichen, einen Katalog von unveränderbaren Glaubenssätzen und Prinzipien, die das Leben nach dem Willen Gottes regeln. Alle Menschen unterliegen diesen Regeln gleichermaßen, auch die Herrscher. Und hier liegt einer der Hauptgründe, warum die Sharia heute noch für so viele Menschen in der arabischen Welt derartige Anziehungskraft besitzt. Es ist die Hoffnung auf ein Ende von Diktatur, Ausbeutung, Unterdrückung und krasser sozialer Ungerechtigkeit, die Sehnsucht nach Gerechtigkeit und der Herrschaft des Rechts.

„Scharia“ (übersetzt etwa „Weg zur Tränke“) stützt sich auf den Koran, der jedoch nur einzelne Anweisungen enthält, die als Grundlage einer Gesetzgebung gelten können. Deshalb trat schon früh in der islamischen Geschichte die Sunna – die Lehren und das vorbildliche Handeln Mohammeds – als Quelle des Rechts in den Vordergrund, gesammelt und schließlich in verschiedenster Weise von islamischen Gelehrten interpretiert. Es herrscht eine große Spannbreite der Interpretation.
Alle Muslime stimmen bestimmten Regeln zu, wie etwa dem Verbot von Alkohol, der Zinsen für geborgte Gelder. Manche Regeln, wie vor allem jene, die die Unterdrückung von Frauen festschreiben, widersprechen den Menschenrechten. Andere wiederum verbieten jede Form von Bestechung, Vergünstigungen oder ungleicher Behandlung von Armen und Reichen. Die Scharia verurteilt auch die immer noch verbreiteten Verbrechen im Namen der „Ehre“ und enthält Regeln zum Schutz von Besitz, auch jenes von Frauen. Im Gegensatz zum allgemeinen Verständnis im Westen, schreibt die Scharia nicht die Verschleierung von Frauen vor, sondern rät ihnen lediglich, sich „bescheiden zu kleiden“. Auch die vor allem im Iran so häufig exekutierte Todesstrafe für „Apostasie“ wird von den meisten islamistischen Bewegungen entschieden abgelehnt.

Aus der Scharia lasse sich der Pluralismus der Interessen, die Partizipation sowie die Versammlung- und Vereinigungsfreiheit herleiten, erläutert der deutsche Islamwissenschaftler Mathias Rohe in der „Süddeutschen Zeitung“. Doch ob tatsächlich der Aufbau einer freien und demokratischen Gesellschaft unter Anwendung der Scharia möglich ist, hängt ausschließlich von deren Interpretation durch die jeweiligen neuen Herrscher ab. Frauen und Nichtmuslime sind nach herkömmlichem Scharia-Verständnis den männlichen Muslimen nicht in allen Bereichen gleichgestellt. Doch über diese Fragen herrschen heute in der arabischen Welt heftige Diskussionen und wachsende Tendenzen zunächst einmal eine Gleichstellung wenigstens auf politischer Ebene durchzusetzen. Graduelle Schritte, wie sie auch einst das Abendland erlebte. Islamistische Bewegungen, suchen heute, wie etwa in Ägypten, den bestehenden Staat zu erobern und dann die Gesellschaft mit Hilfe der Instrumentarien eines modernen Regierungssystems – Verfassung, Legislative etc . nach ihrem Vorstellungen zu verändern. Ihr Ziel: eine demokratisierte Scharia.

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