Donnerstag, 19. September 2013

Die neue Stärke der Al-Kaida im Irak

Von den Ufern des Tigris aus wollen die radikalen Islamisten auch Syrien unter ihre Kontrolle bringen – Maliki spielt ihnen in die Hände
von Birgit Cerha
Im Schatten Syriens und doch direkt beeinflusst von den blutigen Ereignissen im Nachbarstaat, treibt der Irak immer näher dem Rand des Abgrunds zu. Nach einigen Jahren relativer Ruhe reißt eine Serie von Terrorattacken mit erschreckender Regelmäßigkeit und Intensität allwöchentlich Hunderte Menschen in den Tod. Allein im August lag die Bilanz bei 800. Mehr als 5000 Iraker, überwiegend Zivilisten wurden  seit Anfang 2013 bereits gewaltsam getötet. Es ist schon jetzt das blutigste Jahr seit 2008.
Während  das syrische Arsenal an chemischen Waffen die  internationale Gemeinschaft in Bann hält, drohen aus dem östlichen Nachbarland weit dramatischere Gefahren nicht nur für den Irak, sondern auch für Syrien und die ganze Region. Es ist eine Gewalt, die eines Tages auch das Abendland bedrohen dürfte.
„Al-Kaida im Irak“ (AKI), einst von den US-Truppen mit Hilfe lokaler sunnitischer Milizen fast zur Bedeutungslosigkeit reduziert, ist wiedererstanden und dies mit einer Stärke wie nie zuvor. „Die in  regelmäßigen, kurzen Intervallen durchgeführten Großattacken“  ließen auf eine enorme Verbesserung der  „Planungs- und Operationskapazität“ dieses Ablegers des Al-Kaida-Netzwerkes schließen, stellt die einstige Geheimdienstoffizierin der US-Armee,  Jessica D. Lewis, in einer Studie des „Institutes for the Study of War“  fest. Entwicklungen im Irak, die autokratische Politik Premier Malikis, der die arabisch-sunnitische Minderheit zunehmend an den Rand des politischen Geschehens drängte und damit die Entwicklung einer gegen die Regierung gerichteten Rebellenbewegung provozierte, bot AKI, ebenso wie die Eskalation des überwiegend von Sunniten geführten Krieges gegen das Assad-Regime  und die direkte Militärhilfe  der schiitisch-libanesischen Hisbollah für den Diktator im Nachbarland, neue Chancen, ihre radikalen Ziele gewaltsam zu verfolgen.
AKI, auch unter dem Namen „Islamischer Staat des Iraks“ bekannt, wurde 2004 von dem blutrünstigen jordanischen Extremisten Abu Musab al-Zarqawi  als „Tochterorganisation“ der Al-Kaida Osama bin Ladens gegründet. Durch Autobomben, Selbstmordattentate, über Videos verbreitete Ermordung von Geiseln und andere Akte ungeheuerlicher Brutalität, versuchte AKI, alle Ausländer, insbesondere die US-Besatzungstruppen aus dem Irak zu vertreiben und die Bevölkerung zum Widerstand gegen die USA und das die von ihr unterstützte irakische Regierung zu bewegen. Zarqawi wurde durch einen US-Luftwaffenangriff 2006 getötet. Wenige Monate später übernahm der Iraker Abu Omar al-Baghdadi die Führung der Organisation, der er ein „irakisches Gesicht“ zu geben versuchte. Im Jahr darauf gelang es den US-Truppen, gemeinsam mit der von ihnen gegründeten sunnitischen „Erweckungsbewegung“, der überwiegend lokale Gemeinde- und Stammesführer angehörten – AKI empfindliche Schläge zuzufügen.  Der Irakbegann nach Jahren des Blutvergießens auf Stabilität zu hoffen. Bis zum Frühjahr 2010 konnten amerikanische und irakische Truppen laut Aussagen des Oberkommandierenden der US-Truppen im Irak, General Raymond Odierno „34 der 42 AKI-Führer“ festnehmen oder töten. Die Organisation verlor damit „die Verbindung mit (der Al-Kaida Führung) in Pakistan und Afghanistan“.  Zwar konnte sie immer noch Terroranschläge durchführen, doch sie war zerrissen, isoliert und stellte keine ernsthafte Gefahr mehr für den irakischen Staat dar.  Bis zum Abzug der US-Truppen im Dezember 2011 sank die Zahl der Terrortoten auf 300 bis 400 im Monat.
Doch insbesondere in den vergangenen 14 Monaten hat sich nach Einschätzung von Lewis AKI zu einem robusten Terrornetzwerk entwickelt, gefördert durch eine Reihe von Faktoren. So gelang es der AKI-Führung, eine Vielzahl voneinander unabhängig operierender Zellen im Irak aufzubauen und sich zugleich verstärkt auf Autobomben, sog. „Vehicle  borne improvised explosive devices, VBIED, konzentrieren . AKI verfügt heute offenbar über eine Vielzahl von VBIED-Produktionsstätten, die oft nahe der wichtigsten Einsatzzonen, etwa am Rande Bagdads, liegen.
Am 21. Juli 2012 verkündete AKI-Führer Abua Bakr al-Baghdadi den Start einer einjährigen Kampagne, genannt „Durchschlagen der Wände“. Bis 23. Juli 2013 überzog das Netzwerk den Irak mit insgesamt 24 Wellen von Autobomben, die  eine enorme Zahl an Opfern forderte. In diesen Attacken meinen Experten die „robuste und spezialisierte Planungskapazität“ der neubelebte AKI zu erkennen. Sie ließen auf eine äußerst geschickte Führung schließen, die kleine, gut ausgebildete und höchst effiziente Terrorteams einsetzen könne. Die Wellen begannen zunächst an der nordöstlichen Front um die zwischen Kurden und Bagdad heftig umstrittene Ölstadt Kirkuk, sowie auf die Grenzlinein zwischen dem autonomen Kurdistan und dem Rest des Iraks, wo sich die rivalisierenden Sicherheitskräfte Bagdads und der Kurden (Peschmergas) misstrauisch gegenüberstehen, verlagerten sich schließlich weiter nach Süden und zuletzt insbesondere auf Bagdad. Die Anschläge verfolgen stets das Ziel, latente ethnische und religiöse Spannungen (zwischen Kurden und Arabern bzw. arabischen Sunniten und Schiiten) aufzuheizen und zugleich die Unfähigkeit der ungeliebten Regierung Maliki unter Beweis zu stellen. Diesem Zweck diente eindrucksvoll eine Serie von Attacken auf Gefängnisse. Die spektakulärste darunter gelang AKI am 21. Juli, als sie 500 islamistischen Insassen des Gefängnisses von Abu Ghraib, eines der größten und bestbewachten des Landes, die Flucht ermöglichte und 68 Regierungssoldaten töteten. Die Aktion löste unter der Bevölkerung einen Schock aus, bewies sie doch eine dramatische Schwäche der irakischen Sicherheitskräfte und genau dies war ein wichtiges Motiv Baghdadis. Die Entflohenen werden nun zweifellos die Reihen ihrer Gesinnungsgenossen im Irak, aber auch in Syrien entscheidend  stärken.
Siegesgewiss verkündete Baghdadi daraufhin die Gründung des „Islamischen Staates des Iraks und al Sham“ (Großsyriens, d.h. Syrien und Libanon) und betonte die enge Kooperation mit dem Al-Kaida Ableger in Syrien, der Al-Nusra-Front. Obwohl Al-Nusra ihre Eigenständigkeit betont, herrscht längst über die Terroraktivitäten AKIs in Syrien kein Zweifel. Experten überraschte in den vergangenen Monaten die erstaunliche Fähigkeit der AKI, in Syrien zuzuschlagen und gleichzeitig ihre Mordkampagnen im Irak dramatisch zu verstärken. Lewis ist davon überzeugt, dass die strategischen Erfolge von AKI im Irak die Organisation in Syrien stärken werde. „AKI wird von einer sich verschlechternden Sicherheitssituation profitieren, die sich über Staatsgrenzen hinweg ausweitet.“
Für den Irak hat Baghdadi im August eine neue einjährige  Kampagne angekündigt. Er nennt sie  „Soldaten-Ernte“. Diese neue Terrorwelle konzentriert sich auf Bagdad und den Südirak und traf erstmals eine wichtige Infrastruktur-Einrichtung, den Hafen von Umm Kasr am Persischen Golf. Experten sehen darin ein Signal, dass sich AKI nun auf Attacken gegen schwerbewachte Einrichtungen, Infrastruktur und Anlagen der Sicherheitskräfte, konzentrieren werde, um das Vertrauen der Bevölkerung in die Fähigkeit der Regierung, das Land endlich zur Stabilität zu führen, weiter zu untergraben.
Maliki nannte jüngst AKI die größte Gefahr für seine Regierung. Doch seine Strategie, den Krieg gegen Al-Kaida zu gewinnen, dürfte sich als Bumerang erweisen. Massenverhaftungen, mit denen er auf den Sturm von Abu Ghraib reagierte, sind nur dazu angetan, die arabischen Sunniten noch mehr zu vergrämen und zu radikalisieren. Die Spannungen zwischen den irakischen Bevölkerungsgruppen sind dramatisch angewachsen. Gezielte Attacken der AKI, aber auch anderer irakisch-sunnitischer Extremistengruppen auf schiitische Ziele führten bereits zur  Neubelebung militanter Schiitengruppen, die vor sechs Jahren gemeinsam mit den radikalen Sunniten das Land an den Rand des Bürgerkrieges getrieben hatten. Schiitische Milizen haben bereits begonnen, wieder die Kontrolle über Ost-Bagdad zu übernehmen, während die Regierung tatenlos zusieht. Demgegenüber, betont Lewis, dürfte AKI einige Gebiete im Irak voll unter Kontrolle gebracht haben, darunter  nördliche Teile der Provinz Diyala, der Wüstenregionen nordwestlich von Bagdad und westlich von Tikrit, sowie  Gebiete nahe der Grenze zu Kurdistan. AKI hat sich bisher offenbar auch den ungehinderten Zugang zum syrischen Territorium unterhalten, das den Terroristen als Zuflucht und auch als Trainingszentren dienen könnte.
Schlüssel zum AKIs Erfolg ist nach Ansicht Lewis eine offenbar hervorragende Kommunikation, die  Maliki nicht zu stören vermochte, sowie bisher nicht entdeckte Finanzquellen. Weitere Geländegewinne im Irak, aber auch in Syrien dürften die unmittelbaren strategischen Hauptziele des Netzwerkes sein, um dort sicheren Unterschlupf zu finden  und Sprungbretter für die Ausweitung ihrer Terroraktionen.
Die jüngste Geschichte des Iraks hat gelehrt, dass die Haltung der arabischen Sunniten ausschlaggebend ist für Erfolg oder Misserfolg von AKI. Ohne Entscheidung der sunnitischen Stammesführer, mit US-Hilfe dem brutalen Treib en dieser Terroristen Einhalt zu gebieten, wäre es den Amerikanern nicht gelungen AKI so entscheidend zu schwächen. Kann sich Maliki nicht zur Wiedereingliederung der arabischen Sunniten in den politischen Prozess entschließen, dann riskiert er einen Neuausbruch des Bürgerkrieges und er eröffnet damit AKI die erhofft Chance auf neue strategische Gewinne im Irak und damit auch in Syrien.

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