Samstag, 11. Mai 2013

Syriens Christen: Sterben oder Flüchten

Die Minderheit sieht sich zunehmend gefangen in der bedrohlichen Falle eines auseinanderbrechenden Landes
 
 von Birgit Cerha

 [Bild: Zerstörte Kirche St. Mary in Homs]

In einer einzigartigen Demonstration der Einheit begehen die christlichen Kirchen Syriens heute, Samstag, gemeinsam einen „Tag des Gebetes für Syrien“ und sie appellieren an die Glaubensbrüder der ganzen Welt, sich diesem Gebet anzuschließen und das Überleben einer der ältesten christlichen Gemeinden zu erflehen.
Es ist kaum zwei Monate her, da hatte das Oberhaupt der syrisch-orthodoxen Kirche von Aleppo, Bischof Yohanna Ibrahim, einen Verzweiflungsschrei ausgestoßen: „Genug ist genug. Wir sind total erschöpft und wir können nicht mehr weiter.“ Wenige Wochen später wurde er gemeinsam mit dem griechisch-orthodoxen Bischof der Stadt, Boulos Yaziji, entführt. Beide bleiben bis heute in der Gewalt von vermutlich radikalen Islamisten. Das Schicksal der hohen Würdenträger illustriert dramatisch die tödliche Gefahr, die Syriens Christen in diesem 26-monatigen Krieg um die Macht in Syrien heute droht. Während sich die Kämpfe zwischen dem Assad-Regime und seinen Gegnern stetig verschärfen, bangen die Christen des Landes immer verzweifelter um eine  Zukunft, die – wie immer sie aussehen mag – ihnen nichts Gutes verheißt.
Niemand weiß, wie hoch der Anteil christlicher Opfer unter den mehr als 70.000 Toten des Krieges ist und auch nicht, wie viele durch Flucht ihr Leben zu retten versuchten.  Berichte christlicher Quellen, dass die rund 80.000 christlichen Bewohner der Stadt Homs von Rebellen gegen Assad alle verjagt worden seien lassen die Dramatik der Situation dieser Minderheit von etwa 2,6 Millionen erahnen. In Syrien ausharrende, sowie aus dem Land geflüchtete Christen berichten von einer zunehmend gezielten Gewaltkampagne durch Angehörige der mehr als ein Dutzend radikalen islamistischen Rebellengruppen gegen sie. Kirchen sind leer, Gottesdienste abgesagt. Das Muster ähnelt der Tragödie, die die Christen im Irak nach dem Sturz von Diktator Saddam Hussein 2003 erlitten und die ihre Zahl auf heute etwa 400.000 mehr als halbierte:  Attacken auf Kirchen und Klöster (an die 40 Kirchen und christliche Einrichtungen wurden laut Kirchenquellen bisher zerstört oder schwer schädigt). Der Terror macht selbst vor Schulen nicht halt. „Es reicht Christ zu sein, um Zielscheibe von Gewalt zu werden“, lauten stete Klagen aus der verängstigten Minderheit. Überfälle, brutale Morde bis zum Köpfen auf offener Straße, für solchen Terror machen viele, wie  Erzbischof Issam John Darwish aus dem nahen libanesischen Zahle „den Zustrom von (ausländischen) Jihadis“ verantwortlich. Denn mit ihren muslimischen Mitbürgern hatten Syriens Christen bis zum Ausbruch des Krieges in einer toleranten Atmosphäre friedlich zusammen gelebt. Auch jetzt suchen und finden im Kriegsgeschehen gefangene Muslime  immer wieder in Kirchen Unterschlupf. Dennoch läßt sich nach Aussagen vieler Christen der Einfluss radikal-islamistischen Gedankenguts auf syrische Muslime nicht leugnen. „Plötzlich sprechen unsere muslimischen Nachbarn nicht mehr mit uns“, berichtet in christlicher Bewohner von Aleppo. Andere bedrängen Christen, sich dem bewaffneten Kampf gegen Assad anzuschließen. Wenn diese sich weigern, werden sie bedroht und oft auch ermordet.
Syriens Christen sind nicht nur eine der ältesten Gemeinden des Orients, sie sind integraler Teil des nationalen Gefüges, nahmen an nationalen Revolutionen ebenso teil, wie an Rebellionen gegen koloniale Invasoren, zeichneten sich als Pioniere der Freiheit und Demokratie in der Region aus und spielten wesentliche Rollen bei der Gründung  von politischen, nationalen, sozialen und humanitären Bewegungen. Deshalb seien die Christen auch stets auf der Seite der Veränderung, für das Ringen um Freiheit und Demokratie, betont ein christlicher Intellektueller. Zudem erfüllt Syriens Christen, im Gegensatz zu ihren Glaubensbrüdern im Libanon, ihr arabisches Erbe voll Stolz. Sie empfinden sich als integralen Teil der Region.
Dennoch steckt die Minderheit heute in einer zunehmend lebensgefährlichen Falle. Das alawitische Minderheitsregime Assad hat sich von Anbeginn seiner Macht nicht nur auf seine eigene Bevölkerungsgruppe, sondern überwiegend auch auf die anderen Minderheiten des Landes gestützt, die alle gemeinsam fast die Hälfte der Bevölkerung stellen.  So garantierte es den Christen zwar, wie allen anderen Bürgern, keine politischen Freiheiten, doch volle religiöse und ein Minimum an Diskriminierung. Christen zählten zur Elite des Assad-Staates und genossen in Syrien ein Leben in Sicherheit und oft überdurchschnittlichem Wohlstand. In Ermangelung einer demokratischen Alternative unterstützte die Mehrheit der Christen traditionell den Status quo und findet sich nun zunehmend gefangen in der Angst vor gewaltsamer ihre Existenz bedrohender Veränderung und der realen Sorge, mit den Brutalitäten des Regimes gegen die Zivilbevölkerung assoziiert zu werden.
Seit Beginn der Rebellion im März 2011 hatten die Christen versucht, sich aus dem Konflikt herauszuhalten, wiewohl das Regime mit allen Tricks versucht, sie voll hinter sich zu scharen. In den Augen der militanten Opposition werden sie deshalb immer mehr als Handlanger des blutrünstigen Despoten gebrandmarkt.
Obwohl sie etwa zehn Prozent der Bevölkerung stellen, sind die Christen das „schwächste Glied“ der syrischen Gesellschaft. Denn im Gegensatz zu fast allen anderen Minderheiten, sind sie fast völlig unbewaffnet, haben keine Milizen zu ihrem Schutz und keine regionalen Verbündeten. Dennoch ist Syriens christliche Gemeinde keineswegs geschlossen. Vertreter einer neuen Gruppe „Syrische Christen für Demokratie“ weisen darauf hin, dass viele ihrer Glaubensbrüder an Protesten gegen Assad teilgenommen hatten.  Doch die Angst vor einer von radikalen Islamisten beeinflussten oder gar dominierten Zukunft, einem islamischen Staat, der sie zu einer bedrohten Minderheit degradiert, wird durch Slogans etwa der mit Al-Kaida verbündeten al-Nusra Front dramatisch genährt, die ihnen für die Zukunft in einem islamischen Staat die Wahl vor Augen halten, zwischen Übertritt zum Islam, der Bezahlung eigener Minderheitensteuern oder den Tod.
Noch unmittelbarer aber ist die Sorge der Christen vor einem Zusammenbruch des syrischen Staates, einem Sicherheitsvakuum, in dem sie zur Hauptzielscheibe nicht nur radikaler islamistischer Kräfte, sondern brutaler krimineller Banden werden. Die zunehmende Zahl von Entführungen wohlhabender Christen zur finanziellen Erpressung wird als düsteres Omen gewertet, ebenso wie eine neue Methode, „Takbir“ genannt: Mit dem Ruf „Allahu Akbar“ (Gott ist groß), dreimal ausgerufen, erheben Banden Anspruch auf jegliche Art von Besitz, sei es Autos, Häuser, Gebäude oder gar Frauen, womit sie sich das „Recht“ auf Vergewaltigung erwirken.
In dieser Situation wächst die Überzeugung vieler Christen, sie hätten nur noch die Wahl, in Syrien zu sterben, oder das Land zu verlassen. Noch versucht die Hierarchie, den Glauben an die Zukunft aufrecht zu erhalten: Wir gehören zu diesem Land. Die Christen sind hier seit den Tagen des Apostel Paulus“, betont der maronitische Erzbischof von Damaskus, Samir Nassar. „Syrien ist für Christen das beste Land der Region.“