Sonntag, 17. Februar 2013

LEXIKON: Jabhat al Nusra

Die wachsende Macht der Jihadis in Syrien - Größte Gefahr für die Zukunf

von Birgit Cerha

„Wir sind human und wir hassen niemanden.“ Entschieden wehrt sich Hadschi Rasoul, leitender Kommandant der „Jabhat al-Nusra“ (JN) in Syriens größter Stadt Aleppo gegen das in seinen Augen „falsche Image“, das sich im Westen von seiner militanten Jihadi-Gruppe breitmacht. Seit einigen Wochen meldet JN in immer rascherer Reihenfolge Sieg um Sieg, Geländegewinn um Geländegewinn im Kampf gegen die Streitkräfte Baschar el Assads. Die Erfolge beschränken sich allerdings weitgehend auf den Osten Syriens, wo JN, gemeinsam mit anderen Rebellen u.a. neben zwei wichtigen Militärstützpunkten den größten Damm am Euphrat unter ihre Kontrolle brachte. Aber auch in Damaskus hat JN bei Kämpfen die Führung übernommen, dort allerdings erweist sich der Widerstand des Regimes als all zu stark.
Unter der Vielzahl von kleinen, fanatischen Islamistengruppen stechen die JN-Kämpfer unterdessen als die weitaus effizientesten und diszipliniertesten hervor, sie übertreffen selbst die zahlenmäßig viel stärkere „Freie syrische Armee“ (FSA). JNs Kampfmethoden reichen von Selbstmordattentaten, ferngesteuerten Autobomben, über Attacken auf Straßenkontroll-Posten, Geschäfte, die Alkohol verkaufen, Attentate auf Offiziere der Armee und Angehörige der gefürchteten Assad-Miliz „Shabiha“, bis zu Morden an Journalisten. Bis heute ist es JN allerdings nicht gelungen, eine Stadt oder ein Gebiet voll unter ihre Kontrolle zu bringen.
JNs radikale Ideologie, ihre Verbindung mit dem Al-Kaida Terrornetzwerk bewog das US-Außenministerium im Dezember die Gruppe auf die Liste der Terrororganisationen zu setzen, in der Hoffnung, dass es ihr damit nicht gelingen möge, „den Kampf des syrischen Volkes für ihre eigenen üblen Zwecke“ zu missbrauchen. Doch die Absicht, „Al-Nusra“ durch solche Brandmarkung auf der syrischen Szene zu isolieren, erwies sich als Trugschluß. Die militante Opposition hat erkannt, dass sie auf diese disziplinierten Kämpfer nicht verzichten kann. Ohne zu zögern stellten sich 29 islamistische Gruppen nach der Entscheidung des US-Außenministeriums in Solidarität hinter JN und selbst die demokratische, säkulare Opposition wagt es, angesichts ihrer eigenen Schwäche und der Übermacht des Feindes nicht, die Eröffnung einer zweiten Front – gegen Nusra und deren Sympathisanten – zu riskieren.
„Jabhat al-Nusra“ kündigte offiziell ihre Geburt im Januar 2012 durch ein Video an, in dem sie die Verantwortung für riesige Explosionen von Autobomben übernahm, die Gebäude des syrischen Sicherheitskräfte und des Geheimdienstes in Damaskus und Aleppo zerstört und Dutzende Menschleben gefordert hatten. Seither bekannte sich JN zu mehr als 600 Terroranschlägen in Syrien. Nur allmählich dringen Informationen über die Gruppe an die Öffentlichkeit. Viel bleibt noch im Dunkeln, doch eine im Januar erschienene Studie des 2008 in London von Aussteigern aus der islamistischen Szene gegründeten anti-islamistischen „Thinktanks“ „Quilliam Foundation“ lässt ein klareres Bild erkennen. Eine Reihe von Ähnlichkeiten in Struktur, Organisation, Taktik und Zielsetzung zwischen JN und „Al-Kaida im Irak“ (AKI) lässt nach Ansicht der Autoren der Studie auf eine gemeinsame Entwicklungsgeschichte der beiden Terrorgruppen schließen, die bereits in der Zeit der US-Invasion im Irak 2003 begann. Viele JN-Kader stammen aus dem Jihadi-Netzwerk, das der später im Irak getötete Abu Musab al Zarqawi für den Kampf gegen die US-Besatzung im Irak aufgebaut hatte, nachdem er seinen Einsatz an der Seite von Terrorchef Osama bin Laden in Afghanistan beendet und über den Iran in den Irak gezogen war. Syrische Jihadis, die sich mit Zarqawi im afghanischen Herat für den Kampf um einen islamischen Staat ausgebildet hatten, richteten in Ost-Syrien „Gästehäuser“ ein und organisierten von dort aus den Zustrom von gleichgesinnten Kämpfern aus verschiedensten Teilen der islamischen Welt in den Irak. In dieser Zeit bot sich das offizielle Syrien als wichtigste Brücke an, über die Geld (vorwiegend aus Saudi-Arabien und den Golfstaaten), Waffen und Jihadis in den Irak gelangten. 2007 änderte Assad seine Politik, versuchte das Zarkawi-Netzwerk zu zerschlagen, was ihm jedoch nie vollständig gelang. Viele syrische Kämpfer flüchteten damals in den Irak und kehrten 2011 wieder zurück, um ihrem einstigen Gönner Assad den Dolch ins Herz zu stoßen. Nach Einschätzung von Nada Bakos, die für den US-Geheimdienst CIA jahrelang Zarqawis Spur verfolgt hatte, zählten syrische Jihadis von Anfang an zu Zarkawis Netzwerk und einige dieser Militanten stünden ihrer Ansicht nach nun an der Führungsspitze von Al-Nusra.
Über die Identität des Al-Nusra Führers herrscht selbst in Expertenkreisen bis heute Unklarheit. JN nennt ihn Abu Mohammed al-Julani, ein Name, den Familien in dem nicht von Israel besetzten Teil der syrischen Golanhöhen tragen. Doch zweimal wurde sein Tod gemeldet, einmal 2006 im Irak und 2008 in Syrien. Experten glauben jedoch, dass er noch am Leben sei. Nach Recherchen von „Quilliam“ dürfte der JN-Chef zum engsten Führungskreis von Zarqawi gehört haben, tatsächlich Syrer oder vielleicht auch Iraker aus Mosul sein. Er selbst achtet streng darauf, seine Identität zu verschleiern, verhüllt bei Treffen mit anderen Jihadi-Führern stets sein Gesicht.
Unterdessen herrscht aber wenig Zweifel daran, dass Al-Nusra immer noch starke Bindungen an Al-Kaida im Irak unterhält, die heute, neben einigen kleineren Jihadi-Gruppen auch ihre wichtigste Finanzquelle bleibt. Hinweise auf direkte Kontakte mit der Al-Kaida Zentrale im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet gibt es jedoch nicht.
Nach den Informationen von „Quilliam“ haben die Al-Nusra-Führer bei Sitzungen zwischen Oktober 2011 und Januar 2012 nahe von Damaskus und Homs fünf Hauptziele festgelegt, zu denen nach dem Aufbau einer militanten Gruppe das Bemühen zählt, dem Kampf gegen Assad einen „islamischen Charakter“ zu geben. Von befreiten Gebieten, sog. „sicheren Hafen“ aus soll JN mit der Machtausübung beginnen, um einen islamischen Staat in Syrien und schließlich ein „Kaliphat in Bilad al-Sham“ (der Levante) zu errichten. Diese Zielsetzung gründet sich auf eine religiöse Prophezeiung, in mehreren Hadith (Sammlungen von Mohammed zugeschriebenen Sprüchen) nachzulesen, wo es heißt: „Das Zentrum des islamischen Reiches ist in al-Sham“ (der Levante). Laut „Quilliam“ sehen Al-Nusra-Führer in der Revolution in Syrien eine hervorragende Gelegenheit, um für die Realisierung dieser Prophezeiung zu kämpfen und damit unermessliche Ehre zu erlangen.
Al-Nusra unterscheidet sich von den anderen Rebellengruppen durch ihre Kampferfahrung im Irak. Im Gegensatz zu allen ihren Mitstreitern, auch der chaotischen FSA sind diese Jihadis nicht nur trainiert, erfahren, sondern auch gebildet und verfolgen einen klaren Plan, während etwa die von Deserteuren der syrischen Streitkräfte geführte FSA über den Sturz Assads hinaus keine klaren Ziele für die Zukunft des Landes entwickelt hat und damit zunehmend an Vertrauen unter der Bevölkerung verliert. Auch hebt sich die JN durch ihre Disziplin von den oft wahllos mordenden und plündernden Kämpfern anderer Gruppierungen ab. In einem Viertel von Aleppo etwa hat JN ein Sharia (islamisches Recht)-Gericht eingerichtet, das zwar Bürger wegen Alkoholkonsums etwa bestraft, aber auch der Tötung von Nicht-Sunniten, die allein wegen ihrer Religionszugehörigkeit als Anhänger Assads verdächtigt kollektiv „bestraft“ werden, Einhalt gebietet und damit der Bevölkerung ein wenig Sicherheitsgefühl vermittelt.
JN ist bedacht, die katastrophalen Fehler der äußerst brutalen Al-Kaida im Irak zu vermeiden, um nicht die Chance auf Sympathiegewinn unter der Bevölkerung zu verlieren, wie es im Irak geschah. Ihre Führer betonen, dass in ihrem Kampf Zivilisten so weit wie möglich schonen. Doch ihre Autobomben und Selbstmordattentate zeigen ein anderes Bild. Nach dem Vorbild etwa der ägyptischen Moslembrüder und der libanesischen Hisbollah hat auch JN begonnen, der Zivilbevölkerung humanitäre Hilfe zu leisten, Lebensmittel, Mehl zum Brotbacken, Medikamente etc. zu verteilen. Die Jihadis gewinnen damit unter kriegsgequälten Zivilisten Achtung und ein wenig Sympathie. Junge Syrer, die sich mit Waffengewalt vom Assad-Regime zu befreien suchen, schließen sich zunehmend JN an, weil deren Disziplin und kämpferische Flexibilität und Effizienz ihnen ein gewisses Maß an Hoffnung vermittelt.
Doch was nach dem Sturz Assads? Wie JN ihr Ziel eines islamischen Staates verwirklichen und welche geografische Grenzen, wenn überhaupt, er haben soll, dazu haben sich die Jihadis bis heute nicht geäußert. Ihre Ideologie schließt jede Zusammenarbeit mit Pro-Demokratie-Aktivisten aus. Und düster sieht die Zukunft für die Nicht-Sunniten in einem Reich aus, in dem JN herrschen will. Das islamische Recht, das in seiner strengsten Auslegung zur Geltung kommen sollte, verheißt Christen und Juden im besten Fall eine Zukunft als „Bürger zweiter Klasse“. Alewiten und Schiiten hingegen gelten als Häretiker und dass Al-Nusra an Angehörigen der alewitischen Religionsgemeinschaft des Assad-Regimes blutige Rache zu nehmen gedenkt, das ließ sie bereits jetzt erkennen, wenn sie „Rache an den Nusayrin (Alewiten) für deren Misshandlung der Sunniten“ ankündigen.
Als unmittelbar größte Gefahr durch JN sieht Nada Bakos die Möglichkeit, dass diese Jihadis ihre Taktik in andere Regionen exportieren. „Je länger der Krieg in Syrien anhält, desto stärker wird JNs regionales Netzwerk. Die Zeit arbeitet für Al-Nusra. Während sie kämpfen, bietet sich ihnen die Chance, die Strukturen ihrer Gruppe aufzubauen. Da es keine Hoffnung auf einen wirkungsvollen Kompromiss in Syrien gibt, hat JN derzeit viel Grund zu Dankbarkeit.“

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen