Freitag, 14. Dezember 2012

Hochspannung vor Verfassungsreferendum in Ägypten

Das Land ist – unversöhnlich – tief gespalten, die Opposition im Dilemma und kein Ausweg aus der Krise zeichnet sich ab
 
von Birgit Cerha
 
„Der echte Ägypter sagt Nein zum Verfassungsentwurf“,.  Solch schwarze Aufschriften an Plakat- und Häuserwänden in Kairo und anderen ägyptischen Städten konkurrieren mit der Werbung für „die beste Konstitution in der Geschichte Ägyptens“. Eine emphatische, fast hysterische Kampagne der zwei unversöhnlichen Lager, in die Ägypten 22 Monate nach Beginn einer so hoffnungsvollen Revolution für Würde und Freiheit heute gespalten ist, reißt das Land noch weiter auseinander. Präsident Mursi und seine hochorganisierten islamistischen Anhänger verbinden mit Hilfe der Moscheen den Samstag zur Volkabstimmung stehenden Verfassungsentwurf mit dem Glauben an Allah. Die Gegner, die nach groben Schätzungen wohl auch rund 50 Prozent der Bevölkerung hinter sich haben dürften, fürchten den erneuten Rückfall in Despotie, die sie nach all dem Leid der vergangenen Jahrzehnten unter allen Umständen verhindern wollen.
Vor wenigen Monaten hatte Mursi im Wahlkampf um die Präsidentschaft  eine Verfassung „für alle Ägypter“ verheißen. Doch das Dokument, das nun dem Volk zur Billigung vorliegt, setzt sich über die Wünsche und Grundprinzipien der ägyptischen Nationalisten, der Liberalen, der Linken und der Christen hinweg.  Die Stimmung in beiden Lagern verheißt Eskalation der Konflikte. Vergeblich versuchte das Militär, untermauert von vagen Drohungen einer möglichen Intervention, die Wogen zu glätten. Versöhnungsgespräche, zu denen die Generäle beide Seiten gerufen hatten, wurden auf unbestimmte Zeit verschoben, weil die Reaktionen auf die Einladung „nicht das gewünschte Ausmaß erreicht hatten“.
Da Mursi sich weigerte, dem Drängen der erstmals seit dem Sturz Diktator Mubaraks vereinten Oppositionsgruppen nachzugeben und das Referendum abzusagen oder zumindest zu verschieben, bis ein Konsens gefunden ist, wählen die Ägypter am Samstag in einer Atmosphäre extremer Anspannung und Polarisation . Ägyptische Analysten halten den politischen und sozialen Kontext, in dem das Votum stattfindet für mindestens ebenso wichtig wie das Dokument selbst. „Wie können wir über ein im allgemeinen Konsens geschaffenes Dokument sprechen, wenn die Straße so tief gespalten ist“, schreibt der Kommentator Ziad Bahaaeddin.  „Wie können wir glauben, dass die Ratifizierung eines solchen Dokuments zu Stabilität und Entwicklung führt?“ In einer gemeinsamen Erklärung  beklagt eine Gruppe von Universitätsprofessoren die „tiefe ideologische und politische Polarisierung, die den aufkeimenden demokratischen Übergangsprozess an den Rand des Abgrunds treibt“. Und diese ägyptische  Intelligenz schiebt offen Mursi die Verantwortung für nicht geschaffenen Konsens zu.  Unter den Verfassern ist auch ein Präsidentenberater.
Der unter Führung des Friedensnobelpreisträgers Mohammed el Baradei neugebildete  „Nationale Rettungsfront“ (NRF) aus liberalen, linken und nationalistischen Fraktionen kritisiert den Entwurf, weil er ihrer Ansicht nach soziale, ökonomische Bedürfnisse der Bevölkerung vernachlässigt, nicht die Wünsche des ägyptischen Volkes spiegelt und eine „präsidiale Diktatur“ in Kraft setzen werde.
Die NRF gab ihren ursprünglichen Boykottplan vorerst auf und wirbt emphatisch für ein „Nein“, da ein Boykott die Verabschiedung der Verfassung garantieren und der Protest durch  ein „Nein“ weit klarer zum Ausdruck käme. Mursi wirbt für das „Ja“ mit dem Argument, dass ansonsten Ä’gypten wieder an den Nullpunkt zurückgeworfen wäre. Die Opposition knüpft ihre Beteiligung jedoch an fünf Bedingungen, darunter jene, dass das Referendum nur an einem Tag – dem 15. Dezember – stattfindet und nicht, wie nun geplant, in zwei Teilen, da angesichts eines angedrohten Boykotts der Richter, die eine lückenlose Überwachung, wie es die derzeit geltenden Verfassungsbestimmungen vorschreiben, an einem Tag nicht gewährleistet ist.
Das Mursi alle fünf Bedingungen erfüllen wird, erscheint zweifelhaft und damit steht ein großes Fragezeichen über dem gesamten Prozeß, der unter Ausländsägyptern bereits begonnen hat. Beobachter halten es für höchst wahrscheinlich, dass Mursis Moslembrüder dank der starken Disziplin ihrer Bewegung ein mehrheitliches „Ja“ erreichen. Die Opposition wird dies kaum akzeptieren und die Spaltung wird sich so noch tiefer in das Land fressen.

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