Mittwoch, 13. Juni 2012

Ägyptens Zukunft in der Schwebe

Höchste Richter entscheiden über den Weg aus 60-jähriger Diktatur – Legalistisches Chaos stürzt das Land in tiefe Ungewißheit

von Birgit Cerha

Am 16. und 17. Juni sollen die Ägypter in zweiter Runde zum ersten Mal frei ihren Präsidenten wählen. Am 1. Juli – so versprachen die seit dem Sturz Präsident Mubaraks im Februar 2011 herrschenden Generäle – soll der „Höchste Militärrat“ die Macht im Staat an das demokratisch gewählte Staatsoberhaupt abgeben. Die Ära der Demokratie sollte damit am Nil beginnen. Doch ob diese historischen Ereignisse tatsächlich eintreten, ist höchst ungewiss. Denn während der Wahlkampf zwischen den beiden Kandidaten – dem sich revolutionär gebenden Kandidaten der „alten Ordnung“, Shafik, und jenem der von Mubaraks Diktatur massiv unterdrückten Moslembruderschaft, Mursi, in voller Heftigkeit tobt, beginnt Ägyptens Höchstes Verfassungsgericht heute, Donnerstag, - nur zwei Tage vor der Stichwahl - Beratungen über zwei Schicksalsentscheidungen für das Land:

1. Muss Ahmed Shafik, Mubaraks letzter Premierminister und in den Augen vieler, insbesondere der revolutionären Kräfte, Symbol des alten Regimes und Sachwalter der Interessen der so lange herrschenden Elite, disqualifiziert werden?

2.Sind die ersten Parlamentswahlen nach Mubarak vom vergangenen November verfassungswidrig?

Beide Entscheidungen, die die Richter in einem seit dem Sturz Mubaraks ausgebrochenen legalistischen Chaos fällen müssen, haben gravierende, aber bisher höchst ungewisse Konsequenzen.

Nach seiner Machtübernahme vor mehr als einem Jahr setzte der Militärrat die bis dahin geltende Verfassung von 1971 aus, entwarf neue in einem Referendum im März 2011 gebilligte Artikel und später noch 63 weitere. Alle drei Grundgesetze könnten nun zur Anwendung kommen. Höchste Aktualität besitzt das „Isolations-Gesetz“, das das von der Moslembruderschaft und den radikaleren islamistischen Salafisten zu fast 75 Prozent dominierte Parlament im April in großer Hast verabschiedet hatte, um die Kandidatur des verhassten ehemaligen militärischen Geheimdienstchefs, engsten Beraters und Vizepräsidenten Mubaraks, Omar Suleiman für die Präsidentschaft zu blockieren. Das Gesetz hatte dies nicht erreicht, doch Suleiman wurde schließlich disqualifiziert, weil er nicht genügend Unterschriften für seine Kandidatur sammeln konnte. Opfer des Gesetzes, das hohe Funktionäre des alten Regimes vom Präsidentenamt ausschließt, wurde jedoch Shafik. Die Disqualifikation wurde jedoch bis zu einer Entscheidung des Höchsten Verfassungsgerichts ausgesetzt.

Das Gericht, so meinen Beobachter am Nil, könnte die Entscheidung einfach aufschieben und würde damit das Land in große Ungewissheit stürzen. Ein beratendes Juristengremium empfahl den Höchstrichtern unterdessen, sich nicht – was ebenfalls eine Option wäre – für unzuständig zu erklären, womit Shafik automatisch disqualifiziert wäre, sondern die Verfassungswidrigkeit des “Isolations-Gesetzes zu entscheiden, da es für bestimmte Persönlichkeiten (Premier und Vizepräsident) aber nicht andere hohe Funktionäre gelte.

Die Folgen einer Disqualifiktion Shafiks so kurz vor den Wahlen sind unklar. Es gibt drei Optionen: Mursi könnte sich allein den Wählern stellen; der im ersten Wahlgang Drittplazierte, der linke politische Aktivist Hamdeen Sabahi könnte in die Stichwahl aufsteigen oder die erste Wahlrunde müßte wiederholt werden, womit die Machtübergabe des Militärrates aufgeschoben wäre.

Aus Kreisen des Höchstgerichts ist unterdessen durchgesickert, dass die Parlamentswahlen für verfassungswidrig erklärt würden. Unter Druck insbesondere der Moslembruderschaft hatte der Militärrat kurz vor den Wahlen ein Gesetz abgeändert, das ein Drittel der Parlamentssitze unabhängigen Kandidaten vorbehielt, während die Parteien um die anderen zwei Drittel werben mußten. Das neue Gesetz gestattet Parteimitgliedern, auch für Unabhängige reservierte Sitze zu erobern. Insbesondere die Moslembrüder verhinderten damit, dass Anhänger des alten Regimes als Unabhängige ins neue Parlament einziehen und sicherten sich zudem, gemeinsam mit dem Salafisten die überwältigende Mehrheit.

Wird das Parlament aufgelöst – noch ist unklar, wer dazu die Macht besäße – könnte es zur Gänze neu gewählt werden oder auch nur zu einem Drittel. Ein solcher Schritt könnte die politische Landschaft verändern, denn die Moslembruderschaft hat in den vergangenen Monaten durch ein weithin als problematisch angesehenes Verhalten im Parlament möglicherweise beträchtlich an Popularität eingebüßt. Unklar ist allerdings auch, ob die Verfassungsgebende Versammlung, die nach monatelangem Streit zwischen Islamisten, die sie zu dominieren suchen und Säkularisten in der Nacht auf Mittwoch endlich von 85 Prozent der Parlamentarier (die anderen, alle Gegner der Islamisten, boykottierten die Entscheidung) gewählt wurde von einem neuen Parlament neu bestellt werden müßte. Damit blieben vor allem die Machtbefugnisse des Präsidenten, die in einer neuen Verfassung erst festgelegt werden müßte, für viele Monate ungeklärt.

Ägyptens Höchstgericht stand lange, insbesondere in den 80er Jahren, im Ruf höchster Kompetenz und Unabhängigkeit. Etwa die Hälfte der 18 Richter wurde in dieser Zeit berufen. Die anderen wurden später ernannt, als Mubarak „mehr kooperative“ Juristen einzuschleusen versuchte. Ihre Entscheidungen werden Ägyptens Weg in die Zukunft weisen.

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