Montag, 10. Oktober 2011

Chaotische Schlacht um Ägyptens Zukunft

Blutige Zusammenstöße bei Kopten-Demonstration werfen viele Fragen auf – Massenexodus der zunehmend verängstigten Christen

von Birgit Cerha

Ägypten steht unter Schock. Der – relativ – friedliche Weg zu Freiheit, Würde und Demokratie ist ernsthaft gefährdet. Bei den schwersten Zusammenstößen seit dem Sturz Präsident Mubaraks im Februar kamen Sonntagabend 24 Menschen ums Leben und an die 300 wurden verletzt. Was eigentlich geschah, ist weitgehend unklar. Nach einer rasch einberufenen Sondersitzung der Regierung kündigte der herrschende Militärrat sofortige Untersuchungen an.
Die Unruhen begannen mit einer Demonstration von Kopten und Muslimen im Zentrum Kairos. Nach Berichten von Augenzeugen störten mit Stöcken und Messern bewaffnete Männer in zivil die friedlichen Proteste, Rufe wie „Islamiya“ – ein Slogan der radikal-fundamentalistischen Salafisten – erschallten. Sicherheitskräfte schritten ein und Militärfahrzeuge fuhren ohne Warnung in die Menge. Augenzeugen berichten von grauenvollen Szenen. Die Unruhen breiteten sich auf mehrere Teile Kairos aus.

Protestkundgebungen der Kopten, die seit dem Sturz Mubaraks insbesondere durch Salafisten unter Druck geraten, sind nichts Ungewöhnliches. Doch diesmal hatten die Demonstranten, denen sich auch viele Muslime anschlossen, die Inbrandsetzung einer Kirche durch fanatische Muslime im oberägyptischen Assuan nur zum Anlass genommen, um ihrer tiefen Bitterkeit über den herrschen Militärrat Luft zu machen. Die Kopten werfen den Sicherheitskräften vor, Attacken gegen sie untätig zuzusehen. Die Minderheit klagt über gezielte Einschüchterungsversuche durch Salafisten, die seit dem Sturz Mubaraks ihrem Haß gegen die Christen freien Lauf lassen können.

Seit März sind nach Angaben der ägyptischen Menschenrechtsorganisation an die 100.000 Kopten aus dem Land geflüchtet. Manche halten zwar diese Zahlen für übertrieben, fest steht jedoch, dass die Minderheit, die etwa zehn Prozent der 80-Millionen Bevölkerung zählt, zunehmend um ihre Sicherheit und Zukunft bangt. Mehr als ihre muslimischen Brüder quält die Kopten die Enttäuschung über die neuen Herrscher, die keines der Versprechen, die ihr gleiche Rechte im neuen Ägypten sichern sollen, bis heute erfüllt haben.

Gemeinsam mit Muslimen riefen Kopten Sonntag Abend „Tantawi (der Chef des Militärrates) ist illegitim“ und „Nieder mit Tantawi“, während Gegenstimmen die Einheit von Militär und Bevölkerung beschworen. Viele Ägypter zeigen sich überzeugt, dass das Miitär bewußt das Blutbad angezettelt hätte, um einen tiefen Keil zwischen Kopten und Muslime zu treiben. Einseitige Berichte des staatlichen Fernsehens, die Kopten beschuldigten, sie hätten randaliert und mindestens 86 Soldaten getötet, wirken wie Aufrufe an Muslime zur Gewalt. Der Großscheich von Al-Azhar, die oberste religiöse Autorität des sunnitischen Islam, reichte Montag demonstrativ dem Koptenpapst Shenuda die Hand, um die Einheit zwischen Christen und Muslimen am Nil zu beschwören.

Ägyptische Demokratie-Aktivisten sind davon überzeugt, dass das herrschende Militär, einst als Verteidiger der Revolution gegen Mubarak gefeiert, nun ein äußerst gefährliches Spiel begonnen habe. Durch das Schüren der Unruhe im Land könnten die Generäle eine Übergabe der Macht an demokratisch gewählte Institutionen aufschieben oder gar blockieren. Tatsächlich vertrauen viele Ägypter nicht mehr darauf, dass der Militärrat tatsächlich aus der Politik ausscheiden werde. So wurde die ursprünglich auf sechs Monate festgesetzte Übergangsperiode auf zwei Jahre verlängert. Die seit 20 Jahren herrschenden Notstandsgesetze, die den Sicherheitskräften freie Hand bei Verhaftungen und Folter lassen und deren rasche Aufhebung Tantawi Ende Februar versprochen hatte, wurden weiter verlängert. Ebenso werden immer noch Zivilisten vor Militärgerichte gestellt. In den Medien wird zunehmend offen über die wahren Absichten der Generäle spekuliert. So schreibt die unabhängige „Saut al-Umma“, Ägypten werde heute von einer „Geheimgesellschaft regiert“ und sie meint damit die 20 Generäle des Militärrates. Einige von ihnen wollten „die Revolution begraben“ und „das alte Regime wieder errichten“, während allerdings andere wohl mit den Zielen der Revolution sympathisierten. Doch, klagt der Autor, „die politischen Mechanismen“ und die „echten Loyalitäten“ dieses Gremiums „bleiben im dunkeln“.

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