Mittwoch, 23. Februar 2011

LIBYEN: Countdown zum Untergang

Gadafis Strategie des blutigen Schreckens verfehlte die Wirkung – Nun geht es dem Diktator um Töten oder Getötet-Werden

von Birgit Cerha

Für sechseinhalb Millionen Libyer haben sich die Tore der Hölle geöffnet, als ob 42 Jahre der brutalsten Diktatur Muammar Gadafis nicht schon der Schrecken genug gewesen wären. Schon spricht man von rund 3000 Toten des gewaltlos konzipierten Widerstandes gegen den Despoten, fast alle wohl friedliche Bürger. Niemand kennt die genauen Zahlen. Vielleicht sind es viel, viel mehr.

Wie sein gescheiterte Kollege, der Ägypter Mubarak, in seiner letzten Rede vor seinem demütigenden Abtritt bewies, so zeigte auch Gadafi Dienstag abend im staatlichen Fernsehen, dass er jeglichen Sinn für die Realität verloren hat.Ein psychologisches Phänomen, das altgediente Diktatoren wohl zu quälen pflegt. Neben der Lächerlichkeit der Reformversprechen, von seinem Sohn Saif al Islam näher erläutert (Änderung der libyschen Flagge, eine neue Nationalhymne, freilich keine Freiheiten oder politischen Rechte), jagt die Brutalität der Aussagen des bedrängten „Führers“ den Libyern noch größere Ängste ein. Hier sprach ein menschenverachtender Despot, zum Kampf bis zum letzten politischen Atemzug entschlossen. „Für Gadafi ist es nun „eine Frage des Tötens geworden oder des Getötet-Werdens“, meint der oppositionelle Schriftsteller Ashour Shamis. Und alles spricht dafür, dass der Oberst, der selbst einst eine Revolution anführte, lieber eines „Märtyrertodes“ erliegt, als freiwillig der Macht zu entsagen. Er habe „Libyen gemacht“, verkündete er seinem Volk, wenn er untergehe, dann dieses Land mit ihm.

Im Osten des Wüstenstaates mit der zweitgrößten Stadt Benghazi konsolidiert die jugendliche Opposition ihre eroberten Positionen, immer mehr Städte auch im Westen entgleiten offenbar der Kontrolle Gadafis. Die Regierung zerbröckelt. Der zweite Mann im Staat, Innenminister und General Abdul Fallah Younis al-Abidi, trat ebenso empört über die Brutalitäten gegen Zivilisten zurück, wie eine Serie hoher Diplomaten, immer mehr Armee-Offiziere und Stammesführer. Dennoch, Gadafi kontrolliert wohl weiterhin Geheimdienst, einen Teil der Armee und der Sicherheitskräfte, wie seine Söldnerlegion. „Er ist sehr stur. Er wird nicht aufgeben. Er wird entweder Selbstmord begehen oder getötet werden,“ analysiert Younis die Lage.

Gadafis Schicksal ist besiegelt. Der Countdown zum Sturz läuft. Die düstere Frage ist lediglich, wie viel Blut noch fließen muss. Im Gegensatz zu Ägypten, wo die Streitkräfte eine mäßigende Rolle spielten und einen sich ebenfalls an die Macht klammernden Präsidenten schließlich zur Aufgabe bewogen, fehlen solche vermittelnde Kräfte in Libyen vollends. Damit drohen den Libyern noch mehr Schrecken. Denn was sich nach Gadafi öffnen wird, ist Chaos und ein politisches und soziales Vakuum, das keine staatliche Institution füllen kann. Es gibt keine organisierten Gruppen innerhalb der libyschen Gesellschaft, noch junge Führerpersönlichkeiten, die eine politische Rolle übernehmen können. Libyschen Exilpolitikern fehlen Kontakt und Glaubwürdigkeit daheim. Verschärft wird die Situation durch äußerst schwach, wenn überhaupt, ausgeprägte Gefühle der nationalen Identität. Dies verheißt dem Wüstenstaat für die unmittelbare Zukunft nach Gadafi wenig Gutes. Nicht wenige befürchten den Ausbruch eines Bürgerkrieges mit unabsehbarer Länge und dramatischen Folgen auch für die Energieversorgung einiger europäischer Staaten.

Gadafi hatte es in vier Jahrzehnten geschafft, sich fast überall in der Welt, insbesondere der arabischen, durch seinen exzentrisch-aggressiven Kurs Feinde zu machen. Niemand wird ihm nachtrauern. Dennoch findet er unter dem ägyptischen Militär, das heute die Macht im Nachbarstaat hält, Kräfte, die bereit sind, ihn zu unterstützten. Denn die Alternative, ein sich vielleicht über ganz Nord-Afrika ausbreitendes Chaos, das auch den größten arabischen Staat im kritischen Aufbau eines neuen System erfassen könnte, erscheint all zu bedrohlich. Doch eine Rettung Gadafis kann auch für Kairo keine Alternative mehr sein.

So lange hatte der Oberst auch in schwierigsten Situationen, mit unzähligen Attentatsversuchen eine erstaunliche, wiewohl brutale, Überlebenskunst entwickelt. Er hat Libyen und sein Volk von der Welt abgeschottet. Und dennoch. Die Welle der Freiheit, die diesen alten Despoten jetzt überrollt, besitzt eine Kraft, die keinen in der Region verschonen wird.

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