Sonntag, 27. Januar 2013

Ägypten kommt nicht zur Ruhe

Blutige Proteste nach Todesurteilen gegen Fussball-Hooligans in Port Said symbolisieren eine unverändert tiefsitzende Misere 

von Birgit Cerha 

 
Militärhelikopter kreisen über Port Said, den Mittelmeerhafen an der Mündung des Suez-Kanals. Mit einem Großeinsatz versuchen Ägyptens Sicherheitskräfte, die aufgebrachte Stadt nach zweitägigen blutigen Unruhen wieder zu befrieden. Geschäfte und öffentliche Büros blieben Sonntag geschlossen, Hotelgäste wurden aus Angst vor neuer Gewalt nach Hause geschickt. Zugleich halten in Kairo und anderen Städten nun schon den dritten Tag teils gewaltsame Proteste gegen Präsident Mursi an. Mehr als 30 Menschen kamen bereits ums Leben, an die 300 wurden verletzt und Hunderte festgenommen. Diese blutigen Ereignisse sind dramatisches Zeichen dafür, dass Ägypten auch zwei Jahre nach Revolutionsbeginn unter einem neuen, freigewählten Herrscher keine Ruhe findet. Während in Kairo, Alexandria und in anderen Städten Demonstranten ihre tiefe Frustration über die anhaltende Instabilität, die sich deshalb stetig verschlechternden wirtschaftliche und soziale Lage und die Sorge darüber auslassen, dass Präsident Mursi durch seine Politik das Land spaltet und ins Chaos führt, beschuldigt der neue Führer seine Gegner, durch immer wiederkehrende Proteste die Stabilisierung und ökonomische Erholung zu vereiteln.
Ganz anders geartet sind die Unruhen in Port Said, wo die ganze Stadt im Aufruhr steht, und doch sind sie zugleich eng mit Ägyptens Grundmisere verwoben. Das weltweit grausamste Fussball-Rowdytum hatte sich am 1. Februar 2012 in dieser rund 500.000 Einwohner zählenden Stadt  ereignet. Kurz nach Beginn eines Matches zwischen der Heimmannschaft Al-Masyr gegen den berühmten Kairoer Verein al-Ahly waren – angeblich – Al-Masry-Fans mit Messern und Schusswaffen auf das Spielfeld gestürmt und auf die Kairoer Mannschaft losgegangen. In der daraufhin ausgebrochenen Panik kamen 74 Menschen ums Leben. 61 Personen wurden daraufhin wegen Mordes und neun Polizisten wegen Nachlässigkeit angeklagt. Samstag wurden in dem aus Sicherheitsgründen nach Kairo verlegten Prozess 21 der Angeklagten wegen Mordes zum Tode verurteilt. Über die anderen Angeklagten will das Gericht erst am 9. März entscheiden.
Während Familienangehörige der Getöteten und Al-Ahly-Fans, genannt „Ultras“, in Kairo über die Urteile jubelten, machte sich in Port Said die Empörung gewaltsam Luft. Angehörige versuchten, das Gefängnis, in dem die Verurteilten einsitzen, zu stürmen und unzählige Sympathisanten sehen den Richterspruch als politisch motiviert und als erneuten Beweis für die Marginalisierung einer ganzen Stadt. Eine wachsende Animosität zwischen Kairo und Port Said hat ihre Wurzeln in der jüngeren Geschichte.
Einst war Port Said Zentrum des ägyptischen Widerstandes in dem von Israel, Großbritannien und Frankreich nach der Verstaatlichung des Suez-Kanals 1956 geführten Krieges, ebenso wie elf Jahre später während des israelischen Überraschungsangriffs auf Ägypten. Und nach dem anfänglich für Ägypten erfolgreichen Krieg von 1973 verlieh Präsident Sadat Port Said den für die wirtschaftliche Entwicklung so entscheidenden Zollfreistatus. Doch als ein Bürger der Stadt 1999 eines Attentatsversuchs auf Präsident Mubarak bezichtigt und erschossen wurde,  verlor die Stadt nach altbewährter Methode, ganze Gemeinden als Sündenböcke zu diffamieren, zu bestrafen und damit das Volk zu spalten um es besser kontrollieren zu können, einen großen Teil ihrer Privilegien und wurde in den darauffolgenden Jahren mehr und mehr marginalisiert. In Wahrheit, so behaupten die Bürger Port Saids, sei der angebliche Attentäter nichts anderes als ein armer Mann gewesen, der Präsident Mubarak einen Beschwerdebrief überreichen wollte und Ägyptens Herrscher wollte durch solch brutale Reaktion dem Volk beweisen, dass er „unerreichbar“ sei.
Port Said wurde seither im Entwicklungsprozeß sträflich vernachlässigt und viele Bürger der Stadt sind nun nach Einschätzung von Bashir Abdel Fattah vom „Al-Ahram Zentrum für politische und strategische Studien“ überzeugt, dass sie nun auch im neuen Ägypten für ein Verbrechen zahlen, das sie nicht begangen haben. Tatsächlich ist die Justiz der Behauptung von Augenzeugen und Al-Masry-Fans nicht nachgegangen, dass von Mubarak-Anhängern angeheuerte Provokateure die Gewalttaten auf dem Spielfeld verübt hätten, um einerseits einen Stimmungsumschwung zugunsten des alten Regimes, das dem Land derartige Gewaltakte erspart hätte, zu bewirken. Anderseits – so die These – wollten Angehörige der Polizei Rache an den „Ultras“ nehmen, die, gut organisiert, eine wichtige Rolle im Widerstand gegen die Sicherheitskräfte während der Revolution gespielt hatten. Tatsache ist, dass seit dem denkwürdigen 1. Februar 2012 die Bewohner Port Saids sich von der Mehrheit der ägyptischen Medien pauschal kriminalisiert fühlen und dies durch Hassattacken regelmäßig zu spüren bekommen. Derartige Demütigungen steigern den aufgestauten Ärger über die sich stetig verschlimmernden sozialen Probleme und die geringen Zukunftschancen noch zusätzlich. Ein nationaler Dialog, zu dem nun der „Nationale Verteidigungsrat“ aufruft, ist dringend geboten.
 

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