Dienstag, 25. Oktober 2011

Tunesiens islamische Wahlsieger versprechen Mäßigung

Nach den erfolgreichen Wahlen steht der größte Test auf dem Weg in eine friedliche demokratische Zukunft erst bevor

von Birgit Cerha

Nachdem sie den „arabischen Frühling“ gebaren, weisen die Tunesier nun mit den ersten erfolgreichen Wahlen nach turbulenter Revolution den Bruderstaaten wieder den Weg. Ein wenig unerwartet erwiesen sich die Wahlen zu einer Verfassungsgebenden Versammlung vergangenen Sonntag tatsächlich als ein eindrucksvoller Erfolg, der der gesamten Region Hoffnung gibt, dass der Sturz eines Diktators tatsächlich in einen friedlichen Weg zu einer demokratischen Zukunft münden kann. Die Wahlen verliefen nahezu ohne Zwischenfälle mit einer sensationell hohen Beteiligung, häufig in euphorischer Stimmung. Internationale Beobachter bescheinigen ihnen zudem auch volle Korrektheit. Befürchtete Demonstrationen wegen angeblichen Wahlbetrugs blieben aus. Der Hauptverlierer, die „Progressive Demokratische Partei“ (PDP) gestand ihre Niederlage ein, während niemand der gemäßigt islamistischen Ennahda ihren Sieg streitig macht.
PDPs schwere Verluste kamen überraschend, wiewohl weite Bevölkerungskreise dieser säkularen Partei eine gewisse Nähe zu Kreisen um den gestürzten Diktator Ben Ali nachsagen. Ennahdas Erfolge hingegen entsprachen den Erwartungen. Sie spiegeln die Stimmung in diesem offensten, liberalsten aller arabischen Länder, wo dennoch breite Bevölkerungsschichten islamischen Werten höchste Bedeutung beimessen und einer Partei, die sich zu dieser Ideologie bekennt, stärker als anderen vertrauen, das Land zum Wohl der Menschen, ohne Diebstahl, Nepotismus und himmelschreiender Korruption zu regieren und vor allem auch die Wirtschaft aus der Stagnation zu führen. Wie keiner anderen Partei ist es Ennahda gelungen, sich nach jahrzehntelangem, schmerzlichen Kampf gegen Ben Ali als glaubwürdige Gegner der Diktatur Vertrauen zu verschaffen.
Es ist der erste entscheidende Erfolg einer islamistischen Partei bei völlig freien Wahlen in der arabischen Welt und er unterstreicht zugleich die unverrückbare Tatsache, dass diese Gruppierungen integraler Bestandteil der politischen Landschaft der Region sind, in Tunesien ebenso wie in Ägypten, in Libyen, im Jemen oder anderswo.

Ennahdas Erfolg aber bedeutet keineswegs, dass Tunesien nun den ersten Schritt zu einem islamischen Staat setzt. Sollte Parteichef Ghannouchi tatsächlich ein derartiges Geheimziel verfolgen – offiziell leugnet er dies – so ist der Weg dorthin nicht nur lange, sondern auch mit großen Hindernisse bepflastert. Ennahda konnte nur die meisten Stimmen auf sich vereinen und keine Mehrheit in der neuen Versammlung gewinnen. Das verhinderte das Wahlgesetz und die Beteiligung von rund hundert Parteien. Zudem läuft das Mandat der Versammlung nur ein Jahr mit dem Hauptziel, eine neue Verfassung zu erarbeiten und anschließend muß Ghannouchis Partei sich erneut dem Volk zur Wahl für ein Parlament und einen Präsidenten stellen. In diesem einen Jahr kann die Ennahda viel Vertrauen verspielen, wenn sie ihre Versprechen, insbesondere den Kampf gegen die rasant gestiegene Jugendarbeitslosigkeit und die drückenden sozialen Probleme, nicht glaubwürdig einhält. Die Frist für diesen ersten Test einer Islamistenpartei in führender politischer Position ist all zu kurz.
Vor allem geht es aber darum, die Ängste der starken liberalen und säkularen Kräfte (die vielleicht 40 Prozent der Bevölkerung ausmachen) vor Islamismus und Scharia (dem islamischen Recht) zu zerstreuen. Deshalb präsentiert sich die Ennahda unter Ghannouchis Führung als die liberalste aller islamischen Parteien der Region. Sie meidet eine klare Positionierung zur Scharia, die weitreichende Interpretationen zuläßt. Die Rechte der Frauen, in Tunesien weit fortgeschritten, will er auch weiterhin garantieren, das Recht auf Bildung ebenso, wie jenes auf freie Berufswahl oder Ablehnung islamischer Bekleidung (Kopftuch). Zudem, so betont die Parteiführung, gelte es nun, dem Aufbau eines neuen Staates, wirtschaftlicher Entwicklung und interner Sicherheit höchste Priorität zu geben, nicht moralischen Fragen. Demokratie, Pluralismus, Meinungsfreiheit sind die Begriffe, zu denen sich Ghannouchi öffentlich bekennt, nicht zuletzt auch um die Jugend, die Träger der Revolution, anzuziehen.
Doch Ennahda ist kein einheitlicher Block. Ghannouchis Liberalismus teilen zwar viele seiner ebenfalls aus dem Exil heimgekehrten Kader, doch nicht viele jener Islamisten, die in Ben Alis Gefängnissen schmachteten und dort Sympathie für weit radikaleres Gedankengut entwickelten. Zudem, so fürchten liberale Tunesier, könnten extreme Salafisten-Randgruppen im Schatten der Ennahda Auftrieb bekommen und verstärkt, auch gewalttätig eine Islamisierung der Gesellschaft einfordern. Mit solchen Aktionen haben sie bereits begonnen.

Die Wahlen sind zweifellos ein großer, bisher wohl der einzige Lichtblick in den Ländern des „arabischen Frühlings“. Doch sie markieren erst das Ende der ersten Phase der Revolution. Nun beginnt erst der steinige Weg zum Aufbau eines neuen Staates. Er erfordert Verständigung, Kompromiss und Kooperation zwischen allen Gruppen der Gesellschaft. Die Ennahda könnte anderen arabischen Islamisten ein Beispiel dafür setzen, dass sich Demokratie und Islam vereinen lassen.

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