Freitag, 8. Juli 2011

Die Geburt des arabischen Bürgers

Der „arabische Frühling“ hat den Mittleren Osten nachhaltig verändert - Gefährliche Hürden auf dem Weg zur Demokratie – doch eine friedfertige, offene Jugend weckt neue Hoffnung

von Birgit Cerha


Als eine tunesische Polizistin dem jungen Obstverkäufer in Sidi Bonazizi eine Ohrfeige verpaßte, da ahnte sie nicht, dass sie mit ihrem Akt der Aggression und Demütigung die Geschichte des Mittleren Ostens nachhaltig verändern würde. Zutiefst frustriert, wie so viele seiner Altersgenossen in der arabischen Welt, über die Aussichtslosigkeit einen Weg aus Armut und Unterdrückung zu finden, übergoss sich der junge Tunesier Mohammed Bonazizi auf dem Marktplatz mit Benzin. Sein „Märtyrertod“ am 17. Dezember 2010 entfachte eine Revolution, wie sie der Mittlere Osten noch nie erlebte. Kaum ein Monat später verließ Diktator Zine el-Abidine Ben Ali nach 24 Jahren der Diktatur das Land. Nach 18 Tagen friedlicher Massenproteste, die das Regime gewaltsam zu zu stoppen versucht hatte, folgte ihm in Ägypten Hosni Mubarak nach 30-jähriger autokratischer Herrschaft.
Ein radikaler geopolitischer Wandel hat die Region erfaßt. Mit seiner Verzweiflungstat hat Bonazizi die Mauer der Furcht, die seit Jahrzehnten die Menschen in arabischen Ländern in verängstigter Unmündigkeit hielt, durchstoßen. Von Marokko bis zum Jemen erhoben sie sich seither gegen die korrupten, repressiven Regime, die ihre legitimen politischen, ökonomischen und sozialen Bedürfnisse so lange so sträflich ignoriert hatten und einer zunehmend gebildeten Jugend eine würdevolle Zukunft verweigern. Die konkreten Ursachen der Rebellionen freilich variieren von Land zu Land. Amnesty International wertet aber den „arabischen Frühling“ als Signal gegen alle repressiven Regime weltweit.

Das Ergebnis dieser Welle der Erneuerung nach jahrzehntelanger quälender politischer Stagnation freilich läßt sich noch nicht absehen. Die Erfolge von Tunesien und Ägypten werden bitter getrübt durch ungeheuerliche Brutalität, mit der sich der Libyer Gadafi, der Tunesier Saleh und der Syrer Assad an die so plötzlich und so massiv bedrohte Macht klammern und all drei dabei ein erstaunliches Phänomen erleben: Gewehrläufe, Folter und Blut treiben nur noch mehr freiheitshungrige Menschen auf die Straßen. Doch trotz Hunderter, ja Tausender Opfer zeichnet sich in diesen drei Ländern vorerst keine Lösung ab. Noch mehr Blut wird fließen, bis die Diktatoren unweigerlich das Feld räumen müssen. Mittelfristig ist ihr Schicksal längst besiegelt, selbst in jenen Ländern, wo die staatliche Repressionsmaschinerie, begleitet von Reformversprechungen – wie etwa in Marokko, in Jordanien oder in Bahrain vorerst reformhungrige Bürger wieder beschwichtigte, oder in Saudi-Arabien Revolten durch massive Geldflüsse im Keim erstickte.

Zu erwähnen sei, was angesichts der aufsehenerregenden Turbulenzen meist übersehen wird: In den beiden arabischen Ländern, die sich bereits in Demokratie üben – Irak und Libanon – haben die vergangenen Monate das Gewaltpotential erneut gefährlich gesteigert.

So ist die Euphorie über den – relativ – friedlichen Sturz der Diktatoren in Tunesien (Bilanz etwa 300 Tote) und Ägypten (mehr als 800) düsteren Gefühlen von Ungewissheit und Angst gewichen. Noch geben diese beiden Länder aber Hoffnung. In Tunesien bildet eine breite, gebildete Mittelschichte, wie nirgends sonstwo in der arabischen Welt die beste Basis für den Aufbau eines demokratischen Systems. Doch kontrarevolutionäre Kräfte des alten Regimes legen beträchtliche Hürden auf diesen Weg. Ähnlich in Ägypten, dessen Schicksal wie das keines anderen arabischen Landes ein Signal setzt für die gesamte Region. Hier zeigt sich noch deutlicher als Tunesien, dass der Abgang des Diktators das Tor zu Freiheit und Mitbestimmung der Bürger noch lange nicht öffnet. Das Militär, seit Jahrzehnten die Stützte des Regimes präsentiert sich zwar als Beschützer und Förderer der von jugendlichen Kräften getragenen Revolution, ist in Wahrheit jedoch ängstlich darauf bedacht, seine eigenen Machtpositionen und Interessen zu wahren, nach Möglichkeit allerdings ohne Blutvergießens. So gelingt es einer disziplinierten, hartnäckig ihre Ziele von Freiheit, Menschenwürde, Mitbestimmung, sozialer Gerechtigkeit und Kampf gegen Korruption verfolgenden Jugendbewegung immer und immer wieder wichtige Forderungen durchzusetzen. Doch die Liste des Unerfüllten ist noch lang.

Sechs Monate seit Beginn des „Arabischen Frühlings“ läßt sich dessen Ausgang nicht absehen, doch so manche Lehre bereits daraus ziehen: Jedes Land muss seine eigenen Lösungen finden. Obwohl der Ursprung der Revolution nationalistischen Charakter trug, werden islamische Bewegungen künftig eine wichtige Rolle spielen. Dabei zeichnet sich aber – in Ägypten bereits stark zu erkennen – eine Spaltung zwischen den dogmatisch orientierten alten Garde und einer weit offeneren, sich zu demokratischen Werten bekennenden jungen Generation ab. Jenseits aller ideologischen Grenzen läßt sich eine Gemeinsamkeit erkennen, die der Region und darüber hinaus der gesamten internationalen Gemeinschaft Hoffnung gibt: eine plötzlich so aktiv gewordene Jugend, die nicht nur enormen Mut, Beharrlichkeit und Disziplin zeigt, sondern – von Ausnahmen abgesehen – entschlossene Gewaltlosigkeit und Friedfertigkeit und die Sehnsucht nach Modernität, die ein Zusammenleben mit der westlichen Welt bedingt. Der angesehene libanesische Analyst Rami Khouri nennt diese Entwicklung „die Geburt des arabischen Bürgers“.

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