Freitag, 25. Februar 2011

Die große arabische Revolte

Durch hemmungslose Repression, gemischt mit Profitgier, gestützt auf uralte Patriarchalstrukturen bauten arabische Herrscher ihre Familienreiche auf – Nun naht ihr Ende

von Birgit Cerha

Ein politischer Sturm fegt über die arabische Welt, rüttelt Land um Land aus jahrzehntelanger Stagnation, Volk um Volk aus verzweifelter Resignation, Frustration und Lethargie, weckt lange schlummernde Hoffnung vor allem unter der Jugend, endlich den Anschluss an die moderne Zeit zu finden, die eigene Zukunft mitzugestalten. In Tunesien, in Ägypten, in Libyen, im Jemen, in Bahrain, in Algerien sind Hunderttausende, mit der digitalen Welt vernetzte Menschen entschlossen, sich nicht mehr von gar nicht wohlmeinenden patriarchalen Herrschern entmündigen und an den Rand der Gesellschaft drängen zu lassen. Ihr Zorn richtet sich gegen die jahrzehntelang Politik und Wirtschaft dominierenden Autokraten, die ihre Länder wie ein großes Familienunternehmen beherrschen und dabei aufkosten der Massen grenzenlosen persönlichen Reichtum aufhäufen.
Die Veränderung kostet mancherorts – wie eben in Libyen – eine große Zahl von Opfern, löst unfassbares Grauen durch einen wild um die zerbröckelnde Macht kämpfenden Despoten und dessen Familie aus. Doch längst steht fest: Die Stunde der macht- und profitgierigen Autokraten-Clans hat nun endlich auch in der arabischen Welt geschlagen. Gigantische Umwälzungen stehen bevor.

Die Massenproteste in Tunesien, insbesondere aber in Ägypten, in Libyen und im Jemen haben eines gemeinsam: Der Zorn der Bevölkerung konzentriert sich vor allem auf die beabsichtigte Perpetuierung der autokratischen Familienherrschaft. Ein in die Enge gedrängter jemenitischer Präsident verkündete rasch, dass er nicht nur selbst am Ende der gegenwärtigen Amtsperiode 2013 abtreten, sondern nicht, wie beabsichtigt, seinen Sohn zum Nachfolger küren werde. In Ägypten konnte sich Mubarak lange nicht zu einer ähnlichen Erklärung entschließen, bis sein Schicksal besiegelt war und ihm gar keine andere Wahl mehr blieb.

Wie kam es, dass sich arabische Autokraten gleich Monarchen Erb-Dynastien aufbauen konnten? Ölreichtum, aber auch großzügige Auslandshilfe (wie etwa im Jemen oder in Ägypten) hat es den Herrschern ermöglicht, wichtige Teile der Bevölkerung nach einem Klientelsystem bei der Stange zu halten, sich selbst und ihrem engeren, wie weiteren Familien- und Freundeskreis Oligopole zu schaffen. Gamal Mubarak, der Sohn des ägyptischen Präsidenten, sicherte sich die Kontrolle über Privatisierungen und „Kommissionen“ von Auslandsinvestitionen. Schätzungen des derart aufgehäuften Vermögens der Familie reichen von 20 bis (wohl übertriebene) 70 Mrd. Dollar.

Ein klassisches Beispiel für die Verflechtung zwischen Politik und Privatwirtschaft ist der Fall Ahmed Ezz, des Ex-Chefs der ägyptischen Regierungspartei und engen Freundes von Gamal Mubarak. Er wurde unterdessen formell angeklagt, sich widerrechtlich die Kontrolle über einen staatlichen Stahlkonzern angeeignet und sich mit dessen Hilfe den Marktanteil seiner „Ezz Steel Company“ innerhalb eines Jahrzehnts von 35 auf 60 Prozent gesteigert zu haben. In Tunesien hatte die ehemalige Friseurin Leila Ben Ali ihre Rolle als Frau des Diktators genutzt, um ihre Verwandten in Schlüsselpositionen in der Wirtschaft zu hieven und ihnen den Kauf von Lizenzen zu ermöglichen. Die US-Botschaft in Tunis schätzte 2006, dass etwa die Hälfte der Großunternehmer des Landes in Blutsverwandtschaft zum Präsidenten und dessen Frau standen.

Das Verhaltensmuster der Despoten zum Kauf machterhaltender Loyalitäten ist überall ähnlich. Staatliche Dienstleistungen wie Bildung und Gesundheitsvorsorge werden (insbesondere in den Ölstaaten am Persischen Golf) gratis zur Verfügung gestellt. Strategisch wichtige Gruppen (Militär, Geheimdienst, obere Ebenen der Staatsbürokratie, wichtige Teile der Privatwirtschaft) werden für den Machterhalt gezielt privilegiert. Wo politische oder moderne Institutionen der Zivilgesellschaft formell existieren, werden sie durch das informelle Klientelsystem ihres Einflusses beraubt bzw. zerschlagen. Jahrhunderte alte patriarchale Sozialstrukturen sicherten bis heute den Herrschern, die über ihr Volk wie das Oberhaupt einer Großfamilie regieren, unangefochtene Autorität. Wo dies nicht voll funktionierte, half häufig massive Repression. So blieb den Menschen kaum anderes übrig, als in ihren traditionellen Institutionen (Religionsgemeinschaften, Stammesverbände, Familie, Volksgruppen) Zuflucht zu suchen.

Als sich Islamisten schon vor Jahren aufzulehnen begannen, erwies sich das in Wahrheit für die arabischen Potentaten am Golf ebenso etwa wie in Ägypten oder im Jemen als Glücksfall, denn damit verminderte sich etwa im Fall Mubaraks der Demokratisierungsdruck seines amerikanischen Verbündeten, während sich u.a. insbesondere der Jemen zusätzliche Finanzhilfe für den Anti-Terrorkampf sichern konnte und sich die Potentaten damit alles Nötige für die Aufstandsbekämpfung kaufen konnten, um es gegen jeden unliebsamen Gegner einzusetzen.

Wo Diktatoren dennoch intern in Bedrängnis gerieten, verstärkten sie erneut die alten Stammesstrukturen und –loyalitäten und suchten in weiterer Folge bei der engsten Familie Rückhalt. Der irakische Diktator Saddam Hussein hielt sich ebenso an dieses Muster, wie der jemenitische Präsident Saleh und der Libyer Gadafi. Der persönlich durch Usurpation erworbene Reichtum soll der Familie erhalten bleiben, indem der Sohn die Nachfolge an der Spitze des Staates übernimmt.

Für die sechseinhalb Millionen Libyer bedeutete die jahrzehntelange Herrschaft Oberst Gadafis auch Schikanen und Exzesse seiner sieben Söhne zu ertragen, die der Anspruch auf eine beherrschende Sonderrolle, wenn nicht gar die Macht in dem vom Vater geführten „Familien-Unternehmen“ Libyen eint. Sie alle fürchten nun um das riesige Vermögen, das der 68-jährige Diktator in den vergangenen 41 Jahren aufgehäuft hat. Nach einem von WikiLeaks verbreiteten Kabel der US-Botschaft vom Mai 2006 hat Gadafis Familie „große Beteiligungen im Öl- und Gassektor, in der Telekommunikation, im infrastrukturellen Bereich, in Hotels, Medien und dem Vertrieb von Konsumgütern“.

Den Kindern hat der Diktator regelmäßige, höchst lukrative Einkünfte aus der Nationalen Ölgesellschaft gesichert. Mohammed, der einzige Sohn der ersten Frau Gadafis, besitzt große Beteiligungen am Telekom und Internet-Sektor, der dritte Sohn, Saadi, ehemaliger Fußballer und Chef der libyschen Fußball-Föderation, ist mit zahlreichen anderen Unternehmen verknüpft. Hannibal Gadafi, der exzentrische Playboy, arbeitete in der Ölindustrie, geriet aber mit dem Oberst in Konflikt wegen seines aggressiven Benehmens sogar im Ausland, wo er etwa in der Schweiz wegen Körperverletzung verhaftet worden war und der Vater daraufhin zwei schweizer Geschäftsleute in Libyen als Geiseln nahm. Khamis, der sechste Sohn ist Chef des 32. Bataillons, das als eine der wenigen effizienten Kampftruppen im Land gilt und bei der brutalen Niederschlagung der Demonstrationen in Benghazi eingesetzt wurde. Schlüsselfigur im internen und externen Sicherheitsapparat spielt Gadafis Schwager Abdullah Senussi, ein Hardliner mit einem Ruf von besonderer Brutalität. Er soll eine entscheidende Rolle in der Beratung des Diktators in diesem Überlebenskampf und bei der menschenverachtenden Grausamkeit spielen, mit deren Hilfe sich Gadafi retten will.

Eine Sonderrolle nimmt seit Jahren Saif al Islam ein, der zweite Sohn, der eine Universitätsausbildung in Wien genoß, anschließend an der London School of Economics studierte und eine Doktorat für Politologie erwarb. Er trat jahrelang als Vermittler in äußerst heiklen außenpolitischen Fragen auf und setzte sich in Reden und Interviews wiederholt für Reformen, Demokratisierung und Achtung der Menschenrechte in der Heimat ein, für Freiheiten „wie sie in Holland existieren“, beteuerte er einem westlichen Reporter. Doch nun im politischen Todeskampf der Familie schockierte der im Westen ausgebildete Intellektuelle durch einen offensichtlichen Rückfall in die Barbarei, als er vom „Kampf bis zum letzten Mann, bis zur letzten Frau“ sprach. Gerüchte, er sei unterdessen zur Opposition übergewechselt, konnten bisher noch nicht bestätigt werden.

Ein ähnliches Bild einer tief im Staat, in den Sicherheitskräften und in der Wirtschaft verstrickten Herrscherfamilie bietet sich im Jemen und dementsprechend groß ist dort auch der Zorn der Bevölkerung. Seit Präsident Ali Abdullah Saleh 1978 in Sanaa die Macht übernahm regiert er das Land wie einen Mafiastaat. Er stützt sich auf ein System der Manipulation, das Familienmitglieder an die Schaltstelle der Macht und Wirtschaft bugsiert, während er die mächtigen Stämme zur Absicherung der eigenen Herrschaft durch Vergünstigungen (aus den nun versiegenden Ölexporten und internationaler Finanzhilfe) loyal erhält bzw. gegeneinander ausspielt. Nepotismus und Korruption erreichen im bitterarmen Jemen Hochblüten.

Der Präsident ist Partner der einzigen Verteilerorganisation von Öl und Gas. Seinen Sohn Ahmed, Chef der Republikanischen Garden, hat Saleh nun – vorerst? – aufgrund öffentlichen Drucks von der Nachfolge ausgeschlossen. Doch eine Aufstellung der Positionen von Mitgliedern der engeren und weiteren Familie gibt tiefen Einblick zum Extrem entwickeltes machtpolitisches Familienunternehmen: Ahmed al-Kohlani, Schwiegervater der 18-jährigen vierten Frau Salehs, ist Gouverneur von Aden; der Halbbruder Ali Mohsen al-Hamar ist Armeekommandant mit enger Verstrickung im Ölgeschäft und anderen Wirtschaftsunternehmen; die zentralen Sicherheitskräfte unterstehen dem Neffen des Präsidenten, Yahya Mohammed, zwei Halbbrüder, zwei weitere Neffen und ein Onkel sind Kommandanten in den Streitkräften, mehrere Schwäger, Schwiegersöhne und ein Sohn eines Schwagers sitzen in der Regierung. Sie alle sind eng verflochten mit den großen Wirtschaftsunternehmen des Landes. Während ein immer größerer Teil der Bevölkerung dramatisch verarmt, schöpft ein winziger Kreis der Herrscherfamilie immer größeren Reichtum.

Auch im Jemen, wie anderswo in der arabischen Welt will ein perspektivlos gewordenes Volk Betrug und Raub nicht länger hinnehmen.

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Arabiens Erbherrscher


Familien oder Clans kontrollieren heute direkt elf der insgesamt 21 Mitgliedsstaaten der Arabischen Liga. Drei davon sind Republiken, die anderen Monarchien. Einzig Syriens verstorbenem Präsidenten Hafez el Assad gelang die Verwirklichung des Traums von der Erbherrschaft seiner Familie, ein Ziel das Ägyptens gestürzter Präsident Mubarak verfehlte und ebenso Libyens und des Jemens Herrscher zwar lange verfolgten, doch nun nicht erreichen werden.

Seit dem Tod seines Vaters im Jahr 2000 hat Bashar el Assad seine Macht, die sich seit Jahrzehnten mit Hilfe repressiver Methoden auf die kleine Minderheit der Alawiten stützt, konsolidiert, dem Volks zwar Reformen versprochen, doch weitgehend nicht eingehalten. Ein dichtes Netz von Geheimdiensten schreckt die Bürger von Massendemonstrationen ab. Dennoch genießt Bashar, auch trotz systemimmanenter massiver Korruption, ein gewisses Maß an Sympathien, die seine Macht nicht unmittelbar gefährden.

Von den Ölmonarchien am Persischen Golf muss König Hamad bin Isa al Khalifah um seine Macht fürchten, wenn er seinen demonstrierenden Untertanen nicht echte demokratische Reformen bietet. Die sunnitische Al-Khalifa Familie ließ sich vor mehr als 200 Jahren auf der kleinen, überwiegend von Schiiten bewohnten Halbinsel nieder und beherrscht sie seit 1783 mit autoritären Methoden. Fast alle wichtigen Funktionen in Staat und Wirtschaft sind den Khalifas und einigen engen Verbündeten vorbehalten, während die Bevölkerungsmehrheit an den Rand gedrängt bleibt. Hier liegt der gefährliche Sprengstoff.

Die Unruhen in Bahrain lassen Saudi-Arabien erzittern, eine der reichsten Königsfamilie der Welt, zudem einzigartig durch sein geschlossenes politisches System und einer puritanischen Version des Islams, die der Bevölkerung aufgezwungen wird. Seit der Gründung des Königreiches 1932 durch Abd-el-Aziz regierten nach dessen Tod 1953 bis heute nacheinander dessen Söhne. Die Al-Sauds halten das Monopol der Macht fest in Händen. Trotz des gigantischen Reichtums wächst die Zahl der Arbeitslosen, doch König Abdullah erwies sich als „sauberer“ Herrscher, der durch großzügige finanzielle Gaben, nicht aber durch Reformen, das Volk ruhig zu halten sucht. Die rund 10.000 Prinzen aber, die kräftig und oft überschweifend am Reichtum mitnaschen, steigern Unzufriedenheit über soziale Ungerechtigkeiten und Repressionen.

In Kuwait, Katar, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Oman dürften die Herrscherfamilien, die über teilweise eine sehr kleine heimische Bevölkerung regieren in unmittelbarer Zukunft von Rebellionen verschont bleiben. Auch die Monarchien Jordanien und Marokko sind, ungeachtet einiger Protestkundgebungen stabil, nicht zuletzt dank des hohen Ansehens, das sie als direkte Nachkommen-Familien des Propheten Mohammed im Volk genießen.

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