Montag, 3. Mai 2010

LIBANON/ISRAEL: „Krieg ist wieder in der Luft“

Der geopolitische Hintergrund des Konflikts um mutmaßliche Scud-Lieferungen Syriens an Hisbollah – Provokationen bergen enorme Gefahren

von Birgit Cerha

Ungeachtet der Tatsache, dass Israelis und Palästinenser nach intensiver US-Vermittlung wieder durch indirekte Verhandlungen einen Weg zu Friedensgesprächen suchen, wachsen in der Region Spannungen und Kriegsängste. Die Palästinenser hatten im März die Verhandlungen abgebrochen, da ungeachtet US-Drucks in Ost-Jerusalem 1.600 neue Wohneinheiten für Juden baut. Nun wollen die Israelis diese Pläne aber – vorerst? – aufschieben, wenn die indirekten Verhandlungen beginnen. Das zumindest gibt Washington der arabischen Seite zu verstehen.
Doch zugleich herrscht an anderer Front Hochspannung. „Krieg ist in der Luft“, „die Situation ist sehr ernst“, warnen unabhängige Analysten in der Region, während sich über dem Libanon, vier Jahre nach dem zerstörerischen israelischen Feldzug gegen die schiitische „Hisbollah“ neues Unheil zusammenbraut. Eskalierende Verbalattacken, Drohungen und Warnungen aller Seiten steigern die Ängste der Libanesen, die sich von der Vernichtung ihrer Infrastruktur durch die Israelis 2006 kaum erst erholt haben.

Syrische Waffenlieferungen „an diese Terroristen“ (gemeint ist Hisbollah) bedeuteten eine ernsthafte Gefahr für Israel und könnten einen Krieg auslösen, warnt US-Außenministerin Clinton, während Verteidigungsminister Gates nach einem Besuch des israelischen Verteidigungsministers Barak in Washington alarmiert feststellt: „Wir haben eine Situation erreicht, in der Hisbollah weit mehr Raketen besitzt als die meisten Regierungen der Welt.“

Zugleich warnt Hisbollah-Chef Nasrallah, seine Organisation könne im Falle eines erneuten Krieges Infrastruktur-Ziele „tief innerhalb Israels“ treffen. „Wenn ihr (die Israelis) den (Beiruter) Rafik-Hariri-Flughafen (wie 2006 geschehen) attackiert, werden wir gegen den (Tel Aviver) Ben-Gurion Flughafen zurückschlagen. Wenn ihr unsere Ölraffinerien angreift, werden wir gegen eure schlagen“ und ebenso will Hisbollah in Erinnerung 2006, als Israel fast die gesamte Infrastruktur des Levantestaates zerstört hatte, mit Fabriken und Kraftwerken verfahren, sollten diese erneut attackiert werden. Hisbollah, so Nasrallah, stehe das Recht zu, jede Waffe zu besitzen, die sie wünscht, um ihr Land gegen israelische Bedrohungen zu schützen. Selbst Libanons pro-westlicher Premier Saad Hariri bekräftigt in diesem Zusammenhang ebenso, wie Präsident Suleiman das Recht der Hisbollah, wie des Libanons auf Selbstverteidigung.

Auch Syriens Präsident Assad stellt klar, dass sich sein Land „auf jede Art israelischer Aggression“ vorbereite und sein strategischer Verbündeter Iran lässt keine Zweifel offen, dass er „mit aller Kraft“ hinter Syrien stehen werde (so Vizepräsident Mohammed Reza Rahimi bei einem jüngsten Besuch in Damaskus).

Ausgelöst wurde diese jüngste Eskalation durch Israels Präsidenten Peres, zum Auftakt einer Reise nach Frankreich im April vor Syriens mutmaßlich aggressiven Absichten warnte: „Syrien will angeblich Frieden. Gleichzeitig liefert es Scud-Raketen an Hisbollah, die nichts anderes im Sinn hat, als den Staat Israel zu bedrohen.“ Seither schüren Beschuldigungen und Gegenattacken die Kriegsängste, während Israel bis heute keinerlei Beweise für seine Behauptungen liefern konnte, Syrien diese entschieden zurückweist und Nasrallah jede Information über den Stand seines seit 2006 offenbar massiv aufgerüsteten Waffenarsenals verweigert. Behauptungen Baraks, Syrien hätte Hisbollah an die 45.000 Raketen, darunter auch jene zur Panzerabwehr geliefert, machen in israelischen Medien die Runde.



Scuds verfügen über eine größere Reichweite und können weit größere Gefechtsköpfe tragen als alle Raketen, die Hisbollah in der Vergangenheit gegen Israel abgefeuert hatte. In Händen der Schiitenmiliz würden sie das Gleichgewicht der Kräfte in der Region zweifellos zum Nachteil Israels verschieben. Dennoch halten unabhängige Militärexperten diese Waffe wegen ihrer geringen Mobilität, der Schwierigkeiten, sie in geheimen Lagern zu verstecken, in Händen von Guerillas für ungeeignet. „Hisbollah muß dahinschweben können wie Schmetterlinge und stechen wie Bienen. Sie braucht nicht etwas, das dahintrampelt wie ein Ochse“, meint der britische Militärexperte Charles Heyman. „Es ist ganz einfach“, lautet auch die Analyse der amerikanischen Denkfabrik Strategic Forecasting Inc. „STRATFOR“, „Hisbollah braucht keine Scuds.“ Diese einst von Moskau den Syrern gelieferten Raketen sind nach Ansicht von Militärexperten weniger hochentwickelt als jene, die Hisbollah bereits in ihrem Arsenal besitzt.

Warum also die Scud-Krise gerade jetzt? Kein Zweifel seit 2006, als es Israel trotz seines massiven Militäreinsatzes nicht gelang, die Widerstandsorganisation zu zerschlagen, beobachtet der Judenstaat die erneute Aufrüstung der Guerillas mit tiefem Unbehagen. Zugleich gewinnt die Warnung des damaligen US-Außenministers Haigh von 1982, „nur eine international anerkannte Provokation“ würde eine „verhältnismäßige Vergeltungsaktion gegen den Libanon rechtfertigen“, neue Bedeutung. Die Scud-Geschichte, so meinen vor allem libanesische Analysten verschafft den Israelis diesen „Kriegsgrund“ gegen Hisbollah, bewiesen oder nicht. Zudem lenkt sie hervorragend vom Konflikt über die fortgesetzte jüdische Siedlungspolitik (Lexikon) ab, die US-Präsident Obama so irritiert. In der Frage der Bewaffnung der Hisbollah finden sich Washington und Jerusalem voll auf einer Seite. Außerdem verfolgen die Israelis die Annäherungsbemühungen zwischen den USA und Syrien mit voll Mißtrauen. Tatsächlich hat der Scud-Konflikt, zur Erleichterung der Israelis, auch die Bestätigung eines neuen US-Botschafters für Syrien nach fünfjähriger Unterbrechung durch den US-Kongress verzögert.

So stellt denn auch der libanesische „Daily Star“ alarmiert fest: „Mit oder ohne Raketen, wir haben nun eine Krise großen Ausmaßes“. Denn sie hat weiterreichende regionalpolitische Bedeutung und – wie stets in der jüngeren Vergangenheit – könnte auch nun wieder der Libanon zum Schlachtfeld der Interessen anderer werden. Israels Hauptsorge nämlich gilt dem Iran und dessen Atomprogramm. Teheran, vor bald drei Jahrzehnten Geburtshelfer der Hisbollah,( Lexikon) die sich inzwischen zum wichtigsten Erfüllungsgehilfen des „Gottesstaates“ in der Region entwickelt hat, setzt voll auf seine libanesischen Verbündeten, wie auch die allerdings weit weniger schlagkräftige palästinensische Hamas. Sollte Israel seine wiederholten Drohungen wahr machen und in einem Präventivschlag Irans atomare Anlagen zu vernichten suchen, dann sind die geistlichen Herrscher nach eigenen Worten fest entschlossen, einen Raketenregen auf den Judenstaat niederprasseln zu lassen. Hisbollahs Arsenal gilt dabei als entscheidende Ergänzung zur iranischen Shehab-3, die israelische Ziele treffen kann.

Niemand in der Region freilich, darin sind sich Experten einig, dürfte heute einen Krieg wegen dessen unabsehbaren Auswirkungen riskieren wollen. Doch alle zündeln mit dem Scud-Feuer. Assad könnte, enttäuscht über den ausbleibenden US-Druck auf Israel zur Rückgabe der syrischen Golanhöhen, um größere Aufmerksamkeit Obamas gegenüber den strategischen Zielen der Syrer gebuhlt haben. Doch solche Strategie erwies sich als Bumerang, Israel stellte indirekt bereits klar, dass – im Gegensatz zur Vergangenheit – nun auch Syrien im Zuge eines Feldzugs gegen Hisbollah direktes Ziel seiner Attacken sein könnte. Israel und Washington könnten nach Ansicht des Chefs des Carnegie Middle East Centers im Libanon, Paul Salem, die Scud-Krise als Druckmittel nutzen, um Syrien klarzumachen, dass die fortgesetzten engen Beziehungen an den Iran strategische Folgen nach sich ziehen könnten.

Im Libanon befürchtet man, radikalere Kreise in Israel könnten die Ergebnisse der Versuche Obamas, Teheran durch verschärfte Sanktionen zur Aufgabe der Urananreicherung zu zwingen, nicht abwarten und sich durch einen massiven Schlag gegen Hisbollah eine Atempause verschaffen wollen. Wenn Hisbollah so weit geschwächt wäre, dass sie zumindest kurzfristig kein Raketenfeuer entfachen kann, verringerte sich für Israel das Risiko eines Präventivschlags gegen den Iran.

Wenn Obamas Friedensversuche zwischen Israelis und Palästinensern zusammenbrechen und vielleicht bis Jahresende die Sanktionspolitik der UNO ihre Wirkung gegen Teheran verfehlt, dann, so meint Salem, „fürchte ich, dass Israel Teherans Verbündete außerhalb des Irans attackieren wird. Hisbollah ist der stärkste.“ Andere, wie Hilal Khashan, Politikwissenschafter an der American University of Beirut, befürchten allerdings, die Geschichte könne sich all zu leicht wiederholen und die Scud-Krise könnte sich sehr rasch als der entscheidende Funke erweisen, der einen unabsehbaren Flächenbrand auslöst.

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