Freitag, 12. April 2013

Stürzt Ägypten ins totale Chaos?

Immer lauter wird der Ruf nach Rückkehr der Militärs – Doch gravierende Repressionen bringen die Offiziere  in Misskredit und verschlimmern die Hoffnungslosigkeit
 
von Birgit Cerha
 
„Nach mir das Chaos.“  Wie andere Diktatoren in der Geschichte suchte auch Ägyptens „Pharao“ Hosni Mubarak in den Tagen größter Not, während der Rebellion im Januar und Februar 2011,  zu diesem Leitspruch Zuflucht, von dem er hoffte, er werde seine Macht retten. Es half nichts. Wenn der 85-Jährige heute, Samstag, mehr als zwei Jahre nach seinem dramatischen Sturz wieder vor seine Richter tritt, oder wie im ersten Prozess 2011 auf einem Krankenbett in den Gerichtssaal geschoben wird, dann wird er sich wohl schmerzlich bestätigt finden. Keineswegs nur seine Anhänger haben längst begriffen, dass sich Ägyptens Absturz in die Katastrophe kaum noch verhindern lässt.
So verwundert es auch nicht, dass der erneut aufgerollte Prozess gegen den Diktator, dessen beide Söhne, einst Symbole für Macht und Reichtum,  und den ehemaligen Innenminister Habib al Adly, sowie sechs Sicherheitschefs wegen Verschwörung zum Mord und versuchten Mord von Hunderten friedlichen Demonstranten zwischen dem 25 und 31. Januar 2011 am Nil kaum noch Interesse weckt. So gering angesichts der dramatischen Entwicklungen im heutigen Ägypten ist die Bedeutung geworden, die der Großteil der Bevölkerung einer Abrechnung mit der 30-jährigen, teils sehr brutalen und sehr korrupten Diktatur Mubaraks beimisst. Vor zwei Jahren hatten die Ägyptens Revolutionäre den „ Prozess des Jahrhunderts“ gefeiert, denn zum ersten Mal in der arabischen Welt musste sich ein vom Volk gestürzter Diktator persönlich vor dem Richter für seine Taten verantworten. Lebenslange Haft hatte Mubarak dafür erhalten. Nun wurde der Prozess wegen Verfahrensmängeln neu aufgerollt mit neuen Korruptionsvorwürfen gegen  gestürzten Diktator angereichert.
 
Doch Abrechnung mit jener Clique, die sie gewaltsam unterdrückt und bestohlen hatte, ist längst nicht mehr das Hauptanliegen der Mehrheit des ägyptischen Volkes. Vielmehr quält viele Ägypter die Sorge, dass sich die Geschichte – unter anderen, islamistischen Vorzeichen – wiederholen, ja das Land ins totale Chaos stürzen könnte. „Der Staat bricht zusammen, politisch, ökonomisch, sozial und im Sicherheitsbereich. Ich glaube nicht, dass uns noch viel Zeit bleibt“, um Ägypten zu retten. Kaum alarmierender könnte die Warnung Mohammed el Baradeis, des Friedensnobelpreisträgers und derzeitigen Chefs der säkularen oppositionellen „Nationalen Rettungsfront“ (NRF) klingen. Mursis, des islamistischen Präsidenten, Ägypten schlittert mehr und mehr außer Kontrolle  und – was vielleicht noch schlimmer erscheinen mag – die Suche nach einer Alternative wird immer hoffnungsloser.
 
Politisch herrscht Stillstand: die säkulare Opposition unter Führung von Baradei boykottiert die von einem Gericht erzwungene Verschiebung der Parlamentswahlen auf September. Der Aufbau eines neuen demokratischen Ägyptens wird durch die fehlende Beteiligung säkularer Kräfte, die die Revolution getragen hatten, blockiert. Mursi herrscht ohne Parlament auf der Basis eines Pakts mit dem von ihm pro- forma entmachteten Militär , das sich nach einer äußerst problematischen Übergangsphase, der Offiziere des „Höchsten Militärrates“ die Macht übernommen hatten, nicht mehr um Politik und Aufrechterhaltung der Sicherheit im Lande kümmert, sondern um die Erhaltung und Vermehrung seiner vor allem ökonomischen Privilegien. Bis zu 40 Prozent der ägyptischen Wirtschaft werden nach Schätzungen von den Streitkräften kontrolliert.
 
Ägyptens Bauern warnen vor einer großen “ Revolte der Hungernden“, wenn sie zur Erntezeit im Mai weiterhin keinen Treibstoff finden. Mursi hat es nicht geschafft, den „Internationalen Währungsfonds“  für den so dringend benötigten Kredit von 4,8 Mrd. Dollar zu gewinnen. Nur die Golfstaaten, allen voran Katar, helfen. Doch die Devisenreserven sind seit Dezember um 60 Prozent auf 13,4 Mrd. Dollar geschrumpft. Arbeitslosigkeit und Elend verschlimmern sich dramatisch. Mursis Popularität hat einen Tiefpunkt erreicht, verschlimmert durch eine drastische Zunahme von Attacken gegen die koptische Minderheit, bei der sich die Sicherheitskräfte des Vorwurfs nicht erwehren können, sie hätten die Angreifer geschützt oder gar unterstützt und Mursi sich auf verbale Sympathiebezeugungen beschränkt.
 
In dieser Situation nehmen die Stimmen jener zu, die nach einer – vorübergehenden -  Rückkehr der Militärs in einer kurzen Übergangsperiode rufen, in der das Volk gegen repressive Willkür geschützt , eine neue Verfassung erarbeitet, neue Präsidentschafts- und Parlamentswahlen abgehalten würden: de facto eine Entmachtung von Mursis Moslembruderschaft.  Mehr als eine Million Unterschriften hat eine von der Unruheregion um Suez gestartete Kampagne zu diesem Zweck bereits gesammelt. Doch nun geraten Ägyptens Streitkräfte zunehmend ins Zwielicht. Während der Revolution hatten sie alles daran gesetzt, sich als Beschützer der friedlich gegen die Diktatur demonstrierenden Masse zu präsentieren, ja sich sogar mit ihr zu solidarisieren. Nun aber sind Details eines Berichts durchgesickert und in ägyptischen Medien, sowie im britischen „Guardian“ veröffentlicht worden, der von einem von Mursi eingesetzten Untersuchungskomitee verfasst worden war. Danach hat sich das Militär während der wochenlangen Revolte gegen Mubarak brutalster Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht. U.a. hatten Ärzte in Militärspitälern Operationen an verletzten Demonstranten auf Anordnung von Offizieren ohne Anästhesie durchgeführt. Von einer Reihe anderer Foltermethoden ist ebenfalls die Rede. Können die freiheits- und demokratiehungrigen Ägypter diesen Kräften tatsächlich vertrauen, dass sie das Land in einer Übergangsperiode tatsächlich zu Demokratie und Freiheit führen?
Keiner – weder die Moslembruderschaft unter Mursi, noch die säkulare Opposition -  hat ein klares Konzept und die  Fähigkeit zu einer starken Führung, um Ägypten in eine neue, stabile Ära zu führen. Der säkularen Oppositon ist längst die „Straße“ entglitten. Berufsverbände, sozial benachteiligte Gruppen haben gelernt, ihre Nöte durch Proteste  kund zu tun, wenn nötig auch mit Gewalt.  Wer kann diesem Teufelskreis noch Einhalt gebieten?

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