Die Minderheit sieht sich zunehmend gefangen in der
bedrohlichen Falle eines auseinanderbrechenden Landes
[Bild: Zerstörte Kirche St. Mary in Homs]
In einer einzigartigen Demonstration der Einheit begehen die
christlichen Kirchen Syriens heute, Samstag, gemeinsam einen „Tag des Gebetes
für Syrien“ und sie appellieren an die Glaubensbrüder der ganzen Welt, sich
diesem Gebet anzuschließen und das Überleben einer der ältesten christlichen
Gemeinden zu erflehen.
Es ist kaum zwei Monate her, da hatte das Oberhaupt der
syrisch-orthodoxen Kirche von Aleppo, Bischof Yohanna Ibrahim, einen
Verzweiflungsschrei ausgestoßen: „Genug ist genug. Wir sind total erschöpft und
wir können nicht mehr weiter.“ Wenige Wochen später wurde er gemeinsam mit dem
griechisch-orthodoxen Bischof der Stadt, Boulos Yaziji, entführt. Beide bleiben
bis heute in der Gewalt von vermutlich radikalen Islamisten. Das Schicksal der
hohen Würdenträger illustriert dramatisch die tödliche Gefahr, die Syriens
Christen in diesem 26-monatigen Krieg um die Macht in Syrien heute droht.
Während sich die Kämpfe zwischen dem Assad-Regime und seinen Gegnern stetig
verschärfen, bangen die Christen des Landes immer verzweifelter um eine Zukunft, die – wie immer sie aussehen mag –
ihnen nichts Gutes verheißt.
Niemand weiß, wie hoch der Anteil christlicher Opfer unter
den mehr als 70.000 Toten des Krieges ist und auch nicht, wie viele durch Flucht
ihr Leben zu retten versuchten. Berichte
christlicher Quellen, dass die rund 80.000 christlichen Bewohner der Stadt Homs
von Rebellen gegen Assad alle verjagt worden seien lassen die Dramatik der
Situation dieser Minderheit von etwa 2,6 Millionen erahnen. In Syrien
ausharrende, sowie aus dem Land geflüchtete Christen berichten von einer zunehmend
gezielten Gewaltkampagne durch Angehörige der mehr als ein Dutzend radikalen
islamistischen Rebellengruppen gegen sie. Kirchen sind leer, Gottesdienste
abgesagt. Das Muster ähnelt der Tragödie, die die Christen im Irak nach dem
Sturz von Diktator Saddam Hussein 2003 erlitten und die ihre Zahl auf heute etwa
400.000 mehr als halbierte: Attacken auf
Kirchen und Klöster (an die 40 Kirchen und christliche Einrichtungen wurden
laut Kirchenquellen bisher zerstört oder schwer schädigt). Der Terror macht
selbst vor Schulen nicht halt. „Es reicht Christ zu sein, um Zielscheibe von
Gewalt zu werden“, lauten stete Klagen aus der verängstigten Minderheit.
Überfälle, brutale Morde bis zum Köpfen auf offener Straße, für solchen Terror
machen viele, wie Erzbischof Issam John
Darwish aus dem nahen libanesischen Zahle „den Zustrom von (ausländischen) Jihadis“
verantwortlich. Denn mit ihren muslimischen Mitbürgern hatten Syriens Christen
bis zum Ausbruch des Krieges in einer toleranten Atmosphäre friedlich zusammen
gelebt. Auch jetzt suchen und finden im Kriegsgeschehen gefangene Muslime immer wieder in Kirchen Unterschlupf. Dennoch
läßt sich nach Aussagen vieler Christen der Einfluss radikal-islamistischen
Gedankenguts auf syrische Muslime nicht leugnen. „Plötzlich sprechen unsere
muslimischen Nachbarn nicht mehr mit uns“, berichtet in christlicher Bewohner
von Aleppo. Andere bedrängen Christen, sich dem bewaffneten Kampf gegen Assad
anzuschließen. Wenn diese sich weigern, werden sie bedroht und oft auch
ermordet.
Syriens Christen sind nicht nur eine der ältesten Gemeinden
des Orients, sie sind integraler Teil des nationalen Gefüges, nahmen an
nationalen Revolutionen ebenso teil, wie an Rebellionen gegen koloniale
Invasoren, zeichneten sich als Pioniere der Freiheit und Demokratie in der
Region aus und spielten wesentliche Rollen bei der Gründung von politischen, nationalen, sozialen und
humanitären Bewegungen. Deshalb seien die Christen auch stets auf der Seite der
Veränderung, für das Ringen um Freiheit und Demokratie, betont ein christlicher
Intellektueller. Zudem erfüllt Syriens Christen, im Gegensatz zu ihren
Glaubensbrüdern im Libanon, ihr arabisches Erbe voll Stolz. Sie empfinden sich
als integralen Teil der Region.
Dennoch steckt die Minderheit heute in einer zunehmend
lebensgefährlichen Falle. Das alawitische Minderheitsregime Assad hat sich von
Anbeginn seiner Macht nicht nur auf seine eigene Bevölkerungsgruppe, sondern
überwiegend auch auf die anderen Minderheiten des Landes gestützt, die alle
gemeinsam fast die Hälfte der Bevölkerung stellen. So garantierte es den Christen zwar, wie
allen anderen Bürgern, keine politischen Freiheiten, doch volle religiöse und
ein Minimum an Diskriminierung. Christen zählten zur Elite des Assad-Staates
und genossen in Syrien ein Leben in Sicherheit und oft überdurchschnittlichem
Wohlstand. In Ermangelung einer demokratischen Alternative unterstützte die
Mehrheit der Christen traditionell den Status quo und findet sich nun zunehmend
gefangen in der Angst vor gewaltsamer ihre Existenz bedrohender Veränderung und
der realen Sorge, mit den Brutalitäten des Regimes gegen die Zivilbevölkerung
assoziiert zu werden.
Seit Beginn der Rebellion im März 2011 hatten die Christen
versucht, sich aus dem Konflikt herauszuhalten, wiewohl das Regime mit allen
Tricks versucht, sie voll hinter sich zu scharen. In den Augen der militanten
Opposition werden sie deshalb immer mehr als Handlanger des blutrünstigen
Despoten gebrandmarkt.
Obwohl sie etwa zehn Prozent der Bevölkerung stellen, sind
die Christen das „schwächste Glied“ der syrischen Gesellschaft. Denn im
Gegensatz zu fast allen anderen Minderheiten, sind sie fast völlig unbewaffnet,
haben keine Milizen zu ihrem Schutz und keine regionalen Verbündeten. Dennoch
ist Syriens christliche Gemeinde keineswegs geschlossen. Vertreter einer neuen
Gruppe „Syrische Christen für Demokratie“ weisen darauf hin, dass viele ihrer
Glaubensbrüder an Protesten gegen Assad teilgenommen hatten. Doch die Angst vor einer von radikalen
Islamisten beeinflussten oder gar dominierten Zukunft, einem islamischen Staat,
der sie zu einer bedrohten Minderheit degradiert, wird durch Slogans etwa der
mit Al-Kaida verbündeten al-Nusra Front dramatisch genährt, die ihnen für die
Zukunft in einem islamischen Staat die Wahl vor Augen halten, zwischen
Übertritt zum Islam, der Bezahlung eigener Minderheitensteuern oder den Tod.
Noch unmittelbarer aber ist die Sorge der Christen vor einem
Zusammenbruch des syrischen Staates, einem Sicherheitsvakuum, in dem sie zur
Hauptzielscheibe nicht nur radikaler islamistischer Kräfte, sondern brutaler
krimineller Banden werden. Die zunehmende Zahl von Entführungen wohlhabender
Christen zur finanziellen Erpressung wird als düsteres Omen gewertet, ebenso
wie eine neue Methode, „Takbir“ genannt: Mit dem Ruf „Allahu Akbar“ (Gott ist
groß), dreimal ausgerufen, erheben Banden Anspruch auf jegliche Art von Besitz,
sei es Autos, Häuser, Gebäude oder gar Frauen, womit sie sich das „Recht“ auf
Vergewaltigung erwirken.
In dieser Situation wächst die Überzeugung vieler Christen,
sie hätten nur noch die Wahl, in Syrien zu sterben, oder das Land zu verlassen.
Noch versucht die Hierarchie, den Glauben an die Zukunft aufrecht zu erhalten:
Wir gehören zu diesem Land. Die Christen sind hier seit den Tagen des Apostel
Paulus“, betont der maronitische Erzbischof von Damaskus, Samir Nassar. „Syrien
ist für Christen das beste Land der Region.“