Droht dem politisch gelähmten Irak eine neue Runde blutigen Konflikts zwischen den
Bevölkerungsgruppen? – Sie könnte das
Land zerreißen
von Birgit Cerha
„Die Stämme sind bereit zurück zu schlagen und nach Bagdad
zu marschieren. Der Krieg wird beginnen und erst mit dem Sturz von Maliki
(Iraks schiitischem Premierminister) enden.“ Arabische Sunnitenführer ballen
unter Führung von Scheich Ali Hatem
Suleiman, dem „Kronprinzen“ der Dulaim-Konföderation, die Fäuste. Vor vier Monaten hatten die Dulaimis, der
größte Stamm in der an Syrien grenzenden Provinz Anbar, landesweite friedliche Proteste der arabischen Sunniten gegen die Regierung
Maliki vom Zaum gebrochen. Nun hat sich dieser bisher weitgehend unblutige
Konflikt mit einem Schlag dramatisch verschärft. „Die Straße kocht und niemand
weiß, was geschehen mag“, erklärt zutiefst irritiert Scheich Anwar Obeidi,
Führer des größten Stammes in der Ölregion Kirkuk.
Mehr als hundert Menschen waren Dienstag und Mittwoch bei einem Militäreinsatz
gegen ein sunnitisches Oppositionscamp in der nahe von Kirkuk gelegenen Stadt
Hawidscha, sowie bei darauffolgenden Zusammenstößen im ganzen Land ums Leben
gekommen. Beide Seiten schieben sich die
Schuld an den blutigsten Zusammenstössen seit Beginn der Proteste gegenseitig
zu. Und sie drohen, sich als Wendepunkt im friedlichen Kampf der Sunniten um
mehr Rechte im neuen Irak zu erweisen. Eindringlich mahnt Obeidi die Regierung,
den Sunniten entgegen zu kommen, sonst könnten die Hardliner unter ihnen die
Oberhand gewinnen und den Irak in eine erneute Katastrophe mit unabsehbaren
Konsequenzen stürzen.
Der Sturz von Diktator Saddam Hussein 2003 hat Iraks
sunnitische Minderheit, die traditionell die herrschende Elite des Landes
gestellt hatte, dramatisch an den Rand des politischen Geschehens gedrängt. Das
Gefühl zu Bürgern zweiter Klasse degradiert worden zu sein, diskriminiert und
häufig auch gewaltsam verfolgt und verjagt zu werden, ist unter den Sunniten –
zurecht – weit verbreitet. Nicht nur verloren sie ihre Machtpositionen, sie
werden bei der Vergabe von Arbeitsplätzen oder Projekten krass benachteiligt.
Das Schicksal eines Lehrers, der nach drei Jahrzehnten Unterricht in einer Bagdader Schule durch die auf einem Schmierzettel
hingefetzte Notiz „Geh nach Hause“ über
das Ende seiner Lehrtätigkeit informiert wurde, ist eines von unzähligen
Beispielen, wie irakische Sunniten im vergangenen Jahrzehnt ihre Existenz
verloren. In Bagdader Stadtvierteln tauchten jüngst verstärkt Flugzettel,
unterzeichnet von der jüngst gegründeten Schiitengruppe „Mukhtar-Armee“ mit der
Drohung auf: „Die Stunde Null ist gekommen. Verschwinde mit deiner Familie…. Du
bist der Feind.“ Viele Sunniten packen
in Panik und flüchten aus diesen gemischten Stadtvierteln in rein sunnitische
Enklaven.
Obwohl es nach mehr als zweijährigem Bürgerkrieg 2008
gelungen war, das dramatische Blutvergießen zwischen Sunniten und Schiiten
weitgehend zu beenden, hat Maliki, ungeachtet starken US-Drucks, die von der
Macht gestürzte Bevölkerungsgruppe nicht in fairer Weise in den politischen
Prozess mit einbezogen, ja seit eineinhalb Jahren sogar zunehmend wieder mit
allerlei Tricks aus wichtigen Positionen verdrängt und zugleich seine autokratische
Macht ausgebaut. Ermutigt durch die Rebellion der sunnitischen Mehrheit gegen
Diktator Bashar es Assad im benachbarten Syrien, haben die irakischen
Glaubensbrüder einen Forderungskatalog an Maliki aufgestellt, den sie durch
Sit-Ins und andere friedliche Proteste durchzusetzen hofften. Radikale Gruppen fordern den Sturz des
Premiers, gemäßigtere wollen sich mit der Freilassung zahlloser Sunniten
begnügen, die in den vergangenen Monaten willkürlich festgenommen worden waren,
Politiker ebenso, wie einfache Bürger. Besonderes Anliegen ist die Änderung des
2003 verhängten Verbots der Ausübung öffentlicher Ämter für Mitglieder der
gestürzten Baath-Partei, sowie des Anti-Terror-Gesetzes. Sunniten werfen Maliki
vor, diese Gesetze zu krasser Diskriminierung ihrer Bevölkerungsgruppe zu
missbrauchen. Ein wenig ist Maliki unterdessen den Sunniten entgegengekommen,
doch die Hauptforderungen bleiben weiterhin unerfüllt.
Dem Problem zugrunde liegt ein tiefes Misstrauen zwischen
Sunniten und Schiiten, das der zweieinhalb-jährige Bürgerkrieg dramatisch
verschärft hatte. Dieses Misstrauen wird nun auch durch Gefühle der Stärke
gesteigert, die beide Seiten zu einer offenen Konfrontation treiben könnten:
Die Schiiten halten sich für die rechtmäßigen Erben der Macht, da sie die
Bevölkerungsmehrheit bilden und durch Wahlen an die Regierung kamen. Diese neue
Machtelite befürchtet, den Sunniten gehe es in Wahrheit nicht um einen Kampf
gegen Diskriminierung, sondern um die Rückkehr an die Spitze des Staates. Die
Sunniten hingegen stärken Gefühle, die ganze arabisch-sunnitische Welt hinter
sich zu haben. „Diese Überzeugungen sind ein Rezept zur gegenseitigen
Zerstörung“, befürchtet der irakische Politologe Ghassan al-Atiyyah.
Doch die Kraft der Sunniten wird geschwächt durch interne
Konflikte, insbesondere zwischen jenen Gruppen, die den Versuch einer
politischen Kooperation mit Maliki und seinen Schiiten – noch – nicht aufgeben
wollen und den radikaleren Kräften, von denen einige gar zu erneut gemeinsamen Gewaltaktionen mit der wieder
erstarkenden Al-Kaida im Irak neigen mögen. Manche Experten malen schon ein
Schreckensszenario an die Wände: Indem sich radikale Sunniten in Syrien mit
ihren Gesinnungsgenossen in den angrenzenden irakischen Provinzen verbinden,
könnte eine offene sunnitische Revolte die Grenzen niederreisen und das Ende des
modernen Iraks einleiten.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen