Mittwoch, 10. Oktober 2012

„…noch mehr Schmerzen in den Straßen“

Die internationale Sanktionen gegen den Iran treffen nicht das Regime, sondern zunehmend die Schwächsten der Bevölkerung – Dennoch erwägt der Westen eine weitere Verschärfung

von Birgit Cerha

Die Schraube soll noch fester angezogen werden. Deutschland, Frankreich und Großbritannien wollen beim EU-Außenministertreffen am 15. Oktober eine weitere Verschärfung der internationalen Sanktionen gegen den Iran durchsetzen. Zugleich erstrebt Washington noch massivere Restriktionen für Irans Finanz- und Energiesektor und die Schiffahrts-Industrie. De facto sollen alle Export- und Importtransaktionen des iranischen Bankensystems vollends blockiert werden. Ohne Skrupel spricht der britische Staatssekretär für Verteidigung, Philip Hammond, die Absicht seiner Regierung und jener anderer EU-Staaten aus, den Druck auf den Iran so zu verstärken, dass “noch mehr Schmerzen in den Straßen“ einen das Regime ernsthaft gefährdenden Volksaufstand provozierten.
Einst suchten westliche Regierung zum Euphemismus „intelligenter“ Sanktionen Zuflucht, die nur das Regime in Teheran schmerzen und damit zwingen sollten sein Atomprogramm aufzugeben. Inzwischen aber bekennen sich so manche westliche Politiker, wie Hammond, bereits offen zu der erschreckend zynischen und höchst fragwürdigen Kalkulation, durch ein radikales Wirtschaftsembargo die Unzufriedenheit in der Bevölkerung in einem Maße zu schüren, dass die Iraner es wagen, sich gegen ihr skrupellos repressives Regime, ungeachtet vergangener blutiger Fehlschläge solcher Rebellionen, erneut zu erheben und es zumindest zum Einlenken in der Atomfrage zu zwingen, noch besser aber gleich ganz von der Macht zu jagen. Die Straßenproteste und Streiks der mächtigen Bazar-Händler nach einem dramatischen Kurssturz der Landeswährung Anfang Oktober haben die Verfechter dieses harten Kurses im Westen entscheidend ermutigt. Moralische Einwände gegen eine solche Politik werden mit dem Argument vom Tisch gewischt, Leid (auf die iranische Bevölkerung beschränkt) durch Sanktionen sei immer noch besser als Tod durch einen Krieg mit unabsehbaren Folgen.
Dass aber das Leid in einem zunehmend schockierendem Ausmaß die einfachen Menschen im Lande, ja vor allem die Schwächsten trifft, zeigt sich immer deutlicher. Ungeachtet der staatlichen Subventionen für Grundnahrungsmittel, die den Armen im Land das Überleben sichern, sind die Preise für Waren wie Milch, Brot, Reis, Gemüse oder Yogurt seit Jahresbeginn um mehr als 100 Prozent in die Höhe geschnellt.

Amerikanische Gesetze etwa verbieten ausdrücklich Sanktionen gegen Nahrungsmittel, Medikamente und Güter für den humanitären Bedarf. Während der Export solcher Waren in den Iran zwar technisch gestattet ist, haben die Sanktionen gegen iranische Banken fast alle Finanzkanäle für derartige Transaktionen blockiert. Iranische Geschäftsleute bekommen für Importe keine Akkreditive mehr. Hinzu kommt ein dramatischer Kursverlust des Rial, der Anfang Oktober von 10.500 gegenüber dem Dollar vor einem Jahr auf 37.500 stürzte – aus einer Kombination von Sanktionen und hausgemachter Misswirtschaft.

Selbst vor dieser jüngsten Krise lag die Inflationsrate bei etwa 30 Prozent, nun – so befürchten unabhängige Ökonomen – drohe dem Land eine Hyperinflation, in der die Preise vollends ausser Kontrolle geraten – eine Entwicklung, die schließlich zu einer totalen Zerstörung der Wirtschaft führen könnte. Täglich gehen schon jetzt Firmen bankrott, die Arbeitslosigkeit liegt nach Schätzungen bei über 40 Prozent. Nach jüngsten Berichten hat der Industriesektor in diesem Jahr rund 800.000 Arbeiter entlassen, jene, die ihre Jobs noch behalten konnten, sehen sich mit einer existenzbedrohenden Schrumpfung der Löhne konfrontiert. 10.000 Fabriksarbeiter appellierten jüngst in einem offenen Brief an das Regime, ihre unter das Existenzminimum abgesunkenen Löhne zu erhöhen. In dieser Bevölkerungsschichte rekrutiert das Regime seit 1979 seine Hausmacht.

Selbst Öl, das bis zu 90 Prozent der Exporterträge lieferte, bringt kaum noch Devisen. Irans Ölprdoduktion ist als Folge der Sanktionen, amerikanischen Drucks auf asiatische Käufer, sich nach anderen Quellen umzusehen, innerhalb eines Jahres um fast 65 Prozent gesunken, liegt nun mit etwa eine Million Barrel im Tag auf den niedrigsten Stand seit mehr als zwei Jahrzehnten. Und die wichtigen asiatischen Abnehmer, insbesondere China und Indien zahlen fast nur noch in Ware und erzwingen einen niedrigen Gegenwert.

Die Sanktionen treffen vor allem auch die Mittelschicht, jene Bevölkerungskreise, aus der Aktivisten der Zivilgesellschaft hervorgehen, jene, die schließlich eine demokrat9ische Alternative zum repressiven „Gottesstaat“ schaffen können. In dem sich stetig verschärfenden Überlebenskampf, verlieren sie zunehmend die Kraft und Energie sich für politische Reformen, Systemveränderung, die Rechte des einzelnen einzusetzen.

Am dramatischsten aber erweisen sich die Sanktionen auf dem Gesundheitssektor. Iran kann keine lebenswichtige Medikamente mehr importieren. Vor allem diverse Krebskrankheiten, Aids, , Hämophilie, unter der mindestens zehntausende Jugendliche und erwachsene Männer leiden oder Multiple Sklerose müssen weitgehend unbehandelt bleiben. Die entsprechenden Medikamente auf dem Schwarzmarkt höchstens für eine kleine Bevölkerungsschicht mehr erschwinglich. Schon jetzt sterben etwa 70.000 Iraner jährlich an Krebs und alle zwölf Monate kommen etwa 80.000 neue Krebsfälle hinzu. Gesundheitsexperten befürchten, der Iran werde bis 2015 von einem „Krebs-Tsunami“ erschüttert. Die Sanktionen bedeuten damit den langsamen Tod von Zehntausenden Iranern, während das Regime und dessen wichtigste Stütze, die für das Atomprogramm verantwortlichen Revolutionsgarden völlig unberührt bleiben. . Die psychischen Folgen steigender Existenz- und Kriegsängste werden sich erst langfristig zeigen. Die wahre Tragödie für 80 Millionen Iraner, die die Welt als Geisel hält, steht erst am Anfang.

Keineswegs nur Experten hatten von anderen Beispielen, wie etwa Burma oder dem Irak längst verstanden, dass internationale Sanktionen, die direkt auf Einzelpersonen und dann auf das gesamte Finanzsystem zielen, wie im Iran, diese politischen Führer nicht einmal wirklich irritieren, geschweige denn von ihren Methoden und Zielen abhalten. Die Familie des irakischen Diktators Saddam Hussein konnte das zwölfjährige Embargo nutzen, um ihren unermesslichen Reichtum noch zu vergrößern, ihr Leben in Luxus voll zu genießen und zugleich das verzweifelte Volk noch stärker unter seine Knute zu zwingen. Nach einer Studie des UN-Kinderhilfswerkes UNICEF, eine der verlässlichsten über die Folgen der Sanktionen im Irak, bezahlten rund 500.000 Kinder die zwölfjährigen Sanktionen mit ihrem Leben, andere mit ihrer Zukunft – eine alarmierende Aussicht, auch angesichts der Tatsache, dass Irans Bevölkerung dreimal so hoch ist. Nur wenige im Westen haben sich je mit diesem enormen ethischen und moralischen Problem ernsthaft auseinandergesetzt. Vielmehr wiederholt die internationale Gemeinschaft diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit nun im Iran – und dies auch noch ohne geringste Aussicht, ihr deklariertes Ziel - Abkehr vom Atomprogramm – durch solch gigantischen Preis auch zu erreichen.

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