Samstag, 27. November 2010

SAUDI-ARABIEN: Krise in Saudi-Arabiens Gerontokratie

Krankheit und Altersschwäche von König und Kronprinz machen die ungelöste Nachfolgefrage in einem der reichsten staaten der Welt akut

von Birgit Cerha

„Es schwelt keinerlei Konflikt über die Nachfolge: Es ist der König, dann der Kronprinz und dann Nayef (seit 1975 saudischer Innenminister)“, versucht Mustafa Alani vom Gulf Research Center in den Vereinigten Arabischen Emiraten Sorgen über mögliche Turbulenzen in Saudi-Arabien zu zerstreuen, nun, da nicht nur der 86-jährige Kronprinz Sultan schwer erkrankt ist, sondern auch König Abdullah. Der 87-jährige unterzieht sich nach einer – keineswegs lebensbedrohlichen, wie man offiziell betont – Operation an der Wirbelsäule in den USA noch intensiven medizinischen Tests. Nachdem Sultan bereits seit Jahren vermutlich an einem Krebsleiden laboriert, hatte der Monarch Nayef zum Stellvertretenden Premierminister ernannt, ein Posten, der als Sprungbrett auf den Königsthron gilt.

Abdullah, der 2005 die Macht im ölreichsten Staat der Welt übernommen hatte, zeigte in den vergangenen Monaten zudem deutliche Anzeichen von Altersschwäche. Seine engsten Berater, so heißt es, müssten regelmäßig seinen Texten klaren Sinn verleihen. Sultan gilt bereits als regierungsunfähig und der Aufstieg des 77-jährigen Hardliners Nayef an die Spitze des Königreiches ist keineswegs gesichert.
Ungeachtet äußerer Ruhe und Stabilität herrscht unter Kennern Saudi-Arabiens wenig Zweifel, dass hinter den Kulissen ein heftiger Konflikt um die Nachfolge tobt. Die Frage ist höchst kompliziert und von einem dichten Schleier des Geheimnisses umhüllt. Gerne erinnern Saudi-Arabien-Experten an ein altes Cliche: „Jene, die wissen, was sich in der Königsfamilie ereignet, sprechen nicht, jene, die sprechen, wissen nichts.“

Das Königreich gleicht einem in altmodischer Weise geführten Familienunternehmen. Der König ist nicht nur Premierminister, er ernennt die Parlamentsmitglieder und bestimmt seinen Nachfolger. Bis heute ging die Nachfolge strikt auf die Söhne des 1953 verstorbenen Gründers Abdul Aziz Ibn Saud (vermutlich um die 30 an der Zahl) über. 19 sind heute noch am Leben. Nur vier von ihnen kämen jedoch aufgrund ihres Gesundheitszustandes und ihrer Position für das höchste Staatsamt infrage. Dies bedeutet, dass die Enkel des Gründervaters mehr und mehr die Hierarchie der Monarchie dominieren. Und da auch Abdul Aziz’ Söhne mehrere Frauen und unzählige Kinder haben, hat sich die Zahl der nach Macht strebenden Prinzen dramatisch erweitert und damit die Nachfolgefrage entscheidend kompliziert. Die Schlüsselfrage dabei ist, welcher Familienzweig gibt den Ton an?

Die zweite Generation der al-Sauds konnte dem Königreich eine erstaunliche Stabilität bescheren, weil die drei Hauptclans der Familie einander kontrollieren: Der Faisal-Clan, genannt nach Abdul Aziz’ Nachfolger König Saud; die Abdullah-Fraktion des gegenwärtigen Königs und der Sudairi Clan, genannt nach Abdul Aziz’ achter Frau. Sultan ist dessen ältestes Mitglied, Nyaef und Salman, der Gouverneur von Riad und Favorit unter westlichen Diplomaten für die Nachfolge, sind seine Vollbrüder. Jahrelang hatten die Sudairis ihre Fäden gezogen, um Abdullah vom Königsthron fernzuhalten. Vergeblich. Dennoch einigte man sich im kritischen Moment immer auf einen Kompromiß undiese byzantinische Machtregelung hat bisher Hunderte potentiell machtgierige Prinzen in Schach gehalten.

Tief besorgt, dass dies in der nächsten Generation nicht mehr möglich sein könnte, hat Abdullah 2006 einen Familienrat, „Loyalitätskommission“ genannt, bestellt, dem alle noch lebenden Söhne Abdul Aziz, 13 Enkel und je einem vom König ausgewöhnten Sohn des Königs und des Kronprinzen angehören. Diese Regelung könnte Abdullah aber durch die Ernennung Nayefs zum stellvertretenden Premier selbst untergraben haben. Das zumindest befürchtet etwa Prinz Talal, ebenfalls einer der Söhne Abdul Aziz aus dem Sudairi-Clan, der – im Gegensatz zu Sultan – zum progressiven Zweig der Sauds zählt.

Zudem hat der Monarch, um die Position seiner Familie im Machtgefüge zu stärken, jüngst seinen Sohn Mitab zum Oberkommandierenden der 100,000 Mann starken Saudischen Nationalgarde, der schlagkräftigsten militärischen Kraft im Königreich ernannt, was zu Rivalitäten mit anderen Zweigen der Familie führt.

Dank riesiger, von ihnen kontrollierter Medienunternehmen, gelang es den Sauds bis heute, ihre internen Konflikte vor der Öffentlichkeit weitgehend zu verbergen. Ihren teilweise hochgebildeten Bürger bleibt vorerst nur das Internet, um ihrer Sehnsucht nach einem Ende der Entmündigung, nach Mitbestimmung, nicht nach dem Sturz des Königshauses, aber nach einer konstitutionellen Monarchie Luft zu machen.

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AFGHANISTAN: Der Wahrnehmungskrieg in Afghanistan

von Dr. Arnold Hottinger

Assymetrische Kriege, wie jener, der heute in Afghanistan und in Pakistan geführt wird, sind Kriege der Wahrnehmung. Es gibt keine Entscheidungsschlachten. Die unzähligen und immer andauernden Kleinaktionen, Überfälle, Anschläge, Terroraktionen, Bedrohungen und Erpressungen, aus denen ein solcher Krieg besteht, sollen dazu dienen, die Wahrnehmung der Bevölkerung dahin zu beeinflussen, dass sie zu erkennen glaubt, weder sie selbst sei in der Lage, sich wirksam zu verteidigen noch irgendwelche Schutzmächte, die ihr zu helfen oder mindestens geregelte Verhältnisse zu schaffen vorgeben, vermöchten dies. Auch die Wahrnehmung der Schutzmacht selbst muss in diesem Sinne beeinflusst werden, wenn die Seite des "Widerstandes" das Kräftemessen gewinnen soll.

Doch auch auf der Gegenseite der "Ordnungsmacht" spielt die Wahrnehmung eine entscheidende Rolle. Denn auch die Ordnungsmacht wird von einer Bevölkerung getragen. Wenn diese ihr den Rückhalt entzieht, verliert sie den Krieg. Weshalb die Ordnungsmacht alles tut, was sie vermag, um sich Vertrauen und Zuversicht ihrer eigenen Bevölkerung, und auch der ihrem Schutz unterstellten, zu bewahren. Das bedeutet, die Ordnungsmacht führt einen doppelten Meinungskampf: die Zuversicht der eigenen Bevölkerung muss erhalten bleiben und jene der beschützten Bevölkerung muss bewahrt oder wiedergewonnen werden.

Ein prominentes Opfer dieses Wahrnehmungskrieges ist die faktische Lage des realen Kräfteverhältnisses, weil beide Seiten auf Gedeih und Verderb die Wahrnehmung zu beherrschen suchen, bestimmt die Scheinlage den Verlauf und Ausgang des Krieges, nicht die tatsächlich vorhanden Kräfte. Mit anderen Worten, was auf beiden Seiten geglaubt wird, erweist sich als kriegsentscheidend, nicht was auf beiden Seiten an Kräften wirklich vorhanden ist. Operativ heisst das nichts anders, als dass beide Seiten dazu verdammt sind, nach Kräften zu lügen. Ob sich eine Propagandalüge als wirksame Kriegswaffe erweist oder nicht, hängt nicht vom Wahrheitsgehalt solcher Lügen ab, sondern davon ob sie geglaubt werden oder nicht.

Aussagen um der Wahrnehmung willen

Man muss diese Sachlage berücksichtigen, wenn man die an die Aussenwelt gerichteten Aussagen der Kriegsführenden zur Kenntnis nimmt. Sie haben stets einen Zweck; nämlich die Wahrnehmungen der Aussenwelt zu beeinflussen und nicht die faktische Lage zu schildern. Mit einer durch diese Tatsachen gegebenen Brille hat man alle Kriegsberichte und Kampfdarstellungen zu lesen, die der Ordnungsmacht so gut wie die der Rebellen. So zum Beispiel der in sehr objektiv erscheinenden Darstellungen gehaltene, durchaus "sachlich" wirkende, beinahe 100 seitige Bericht, den jüngst das Pentagon dem amerikanischen Kongress vorlegte. Er spricht von "langsamen Fortschritten" in entscheidenden Kriegsbereichen, wie etwa der Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte, oder der Ausdehnung "von Rebellen gereinigter Zonen". Und er räumt ein, dass der Widerstand sich als sehr zäh erweise, so dass weder eine Schwäche der Führung noch ein Zerbrechen der Befehls- und Kontrollketten feststellbar sei.

Solche Einschränkungen und Warnungen sind zur Erhaltung der Glaubwürdigkeit des Berichtes notwendig. Sie dienen auch dazu, klar zu machen, dass der Krieg nach Ansicht des Pentagons noch lange andauern dürfte und deshalb Entschlossenheit und Durchhaltewillen beim amerikanischen Volke und seinen politischen Führern, sowie Zuversicht bei den "beschützten" Afghanen, weiter notwenig seien. Doch man sollte nicht glauben, dass Begriffe wie "langsamer Fortschritt" notwendigerweise ein Vorankommen widerspiegeln, es könnte sich auch um Stagnation oder Rückschritte handeln. Die angesprochene "Zähe" des Widerstandes kann auch bedeuten, dass der Widerstand zunimmt. Wie aus den seit dem Vorjahr stark angewachsenen Zahlen der Zwischenfälle und Todesopfer eher hervorgeht.

Kontraproduktive Aktionen der Ordnungskräfte

Natürlich hält sich auch die Gegenseite der Taleban und ihrer paschtunischen Mitkämpfer nicht an die Fakten. Auch ihr geht es um Eindrücke. Da sie die bestehenden Ordnungsstrukturen zerstören, nicht wie die Gegenseite bewahren und aufbauen wollen, dient "Furcht und Schrecken" ihren Zwecken. Die "Wahrnehmung", die sie ausdehnen wollen, kann durch Gewaltmassnahmen aller Art, durchaus auch Schandtaten verbrecherischen Charakters, gefördert werden, denn sie besteht aus der Botschaft:"wir können jederzeit den Aufbau und die Festigung von allen Ordnungsstrukturen verhindern und diese weiter zerstören, und wir werden dies solange tun, bis wir an die Macht gelangen!"

Man muss sehen, dass auch die Ordnungskräfte stets in Gefahr schweben, die Wahrnehmungen, welche ihre Feinde ausbreiten wollen, ihrerseits ebenfalls zu fördern. Sie tun dies in dem Augenblick, in dem ihre Bekämpfung "der Rebellen" ihrerseits in Zerstörung geordneter Verhältnisse einmündet - genauer gesagt, in der Sicht der betroffenen Bevölkerung einzumünden erscheint. Dies geschieht oft und immer häufiger, je mehr die Ordnungstruppen zu schweren Waffen "der Abwehr" greifen. Jüngst wurde gemeldet, dass die Amerikaner zum ersten Mal schwere Panzer einsetzen, und die Beschreibungen der Kriegskorrespondenten machen klar, dass diese dazu dienen, feindliche Ziele aus grosser Distanz zu pulverisieren. Wie zuvor schon der Einsatz von Drohnen und Raketen sowie der aller Art Kriegsflugzeuge bedeutet dies einen weiteren Schritt der notgedrungen wenig diskriminierenden Zerstörung. Neben möglicherweise getroffenen Widerstandskämpfern werden mit Sicherheit zivile Afghanen, besonders Frauen und Kinder, sowie alte Leute, getroffen und ihre Wohnstätten pulverisiert.

Der Einsatz von schweren Waffen durch die Amerikaner bewirkt das gleiche bei der afghanischen Bevölkerung, was die Terrortaten der Taleban bezwecken; er verstärkt die Wahrnehmung, dass alle Lebensgrundlagen für die Afghanen solange immer weiter zerstört werden, bis der Krieg nur zu Ende geht, die Amerikaner das Land verlassen und die Taleban die Macht ergreifen.

Zerstörung gegen Aufbau

Auch ohne solche selbstzerostörerische Schritte der "Ordnungsmächte" sind die Taleban dadurch im Vorteil, dass sie die Bevölkerung bedrohen und ihrer Drohungen wahr machen können und dass sie dadurch jene Wahrnehmung, die zu ihren Gunsten wirkt, fördern. Die Ordnungskräfte ihrerseits müssen versprechen statt zu drohen, nämlich versprechen, sie würden Befriedung und Sicherheit ausdehnen, sowie "Entwicklung" , das heisst ein besseres Leben für die Bevölkerung, fördern. Wenn sie diese Versprechen nicht einhalten können, weil ihre Gegner das verhindern, leidet ihre Glaubwürdigkeit, und dadurch spielen sie auch wieder den Aufständischen in die Hände.
Die allen Afghanen bekannte und weithin sichtbare Korruption der Karzai Regierung fördert ebenfalls jene Wahrnehmungen, welche die Taleban ausbreiten wollen. Nämlich dass seine Seite mit Unterstützung der Amerikaner eine Art von Ordnung hervorzubringen verspricht, wie sie die Afghanen auf keinen Fall wünschen.

Gesamthaft gesehen ist klar: alle für die Bevölkerung negativen Entwicklungen nützen den Rebellen, sowohl wenn die Rebellen sie selbst hervorbringen wie auch - sogar noch mehr - wenn sie auf die Regierung und ihre fremden Beschützer zurückgehen, Dies sind Realitäten, die man erkennen muss, wenn man die Darstellungen, welche die Ordnungsmächte vom Geschehen in Afghanistan darbieten, richtig einschätzen will.

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Freitag, 26. November 2010

ÄGYPTEN: Tomaten, Knüppel und Banknoten

Warum Ägyptens Regime durch massive Repression und Bestechung den Ausgang der Parlamentswahlen zu garantieren hofft

von Birgit Cerha

Billige Tomaten, in Posters von Kandidaten der regierenden „Nationalen Demokratischen Partei“ (NDP) eingewickelt, machen, auf Lkw beladen, ihren Einzug in die Slums von Kairo. In Ägypten eskaliert die Spannung vor den Parlamentswahlen am 28. November. Die NDP, die das Land beherrschende Partei Präsident Mubaraks, nimmt die Masse der Armen aufs Korn. Bei einer 22-prozentigen Inflation im Sektor der Nahrungsmittel, die den Preis für ein Kilo Tomaten auf 2,8 Dollar pro kg hinaufjagte und die Armen in immer tiefer Verzweiflung treibt, schenkt die NDP nun den sozialen Nöten so vieler betont Aufmerksamkeit. Selbst Präsident Mubarak gestand mit Blick auf dieses starke Wählerpotential, dass die Früchte der wirtschaftlichen Liberalisierung keineswegs alle Ägypter erreicht hätten. Und in seinem Auftrag präsentiert sich die Partei nun als Anwalt der Armen.

Wiewohl die Wirtschaft mit einem siebenprozentigen – und selbst in Zeiten der Weltwirtschaftskrise vier- bis fünfprozentigen – Wachstum rasanten Aufschwung erlebte,, konnten nicht die so dringend nötigen hunderttausenden Arbeitsplätze geschaffen werden. Im Gegenteil: Die Kluft zwischen Arm und Reich öffnet sich immer weiter. 40 Prozent der Bevölkerung lebt an oder unter der Armutsgrenze von zwei Dollar im Tag.

Doch werden die Armen der Partei Mubaraks, der ihnen in drei Jahrzehnten keine Hoffnung schenkte, diesmal ihre Stimme geben? Welche Bedeutung besitzt ihre politische Meinung denn überhaupt? Diese Frage stellen sich viele diesmal besonders, da das Regime alles unternimmt, um seine unumschränkte Macht abzusichern und zu zementieren. Das alles freilich – mit Blick auf den Westen - unter dem Deckmäntelchen der „Demokratie“

Deshalb auch sind 42 Millionen wahlberechtigte Ägypter am Sonntag zu einer demokratischen Übung aufgerufen, die von wahrer Demokratie weit entfernt ist. Traditionell liegt die Wahlbeteiligung am Nil angesichts des so geringen Vertrauens in die wahren demokratischen Absichten des Regimes, bei kaum 25 Prozent. Diesmal könnte es noch weit schlechter ausfallen. Denn noch nie zuvor seit der Machtübernahe Mubaraks 1981 versuchte der Herrscher, einen Wahlausgang durch derart massive Repression Andersdenkender, sowie der Zivilgesellschaft zu garantieren.

Insgesamt hofft eine Rekordzahl von 5.725 Personen, darunter 297 Frauen (für die 64 Sitze reserviert sind) und 80 Kopten in die Nationalversammlung einzuziehen. Die NDP hat 800 Bewerber aufgestellt, die liberale Wafd-Partei 250 und die stärkste, weitaus am besten organisierte, offiziell verbotene, doch tolerierte „Moslembruderschaft“ 135. Diese Bewerber allerdings dürfen – wie bei den letzten Parlamentswahlen 2005 – nur als „Unabhängige“ auftreten. Damals hatten sie allerdings mehr als ein Fünftel der Parlamentssitze erobert. Dies wird ihnen diesmal nicht gelingen. Denn das Regime hat nach einer jahrelangen systematischen Repression gegen seine gefährlichste Opposition nun die Schrauben noch fester zugegezogen. Mehr als tausend Moslembrüder wurden im Vorfeld der Wahlen verhaftet, Kundgebungen von der Polizei gesprengt, Aktivisten mit Knüppeln niedergeschlagen, während NDP-Vertreter gleichzeitig mit Hilfe von Banknotenbündeln Zulauf zu ihrer Partei zu sichern suchen. Die Massenmedien werden geknebelt wie noch nie und die Zivilgesellschaft massiv eingeschüchtert.

Während die Moslembrüder empfindlich geschwächt sind, boykottieren andere Oppositionsparteien, wie die „Nationale Vereinigung für Veränderung“ des heimgekehrten Chefs der Atomenergiebehörde und potentiellen Bewerber um die ägyptische Präsidentschaft, Mohammed el-Baradei, oder die Al-Ghad-Partei Ayman Nours, der bei den Präsidentschaftswahlen 2005 Mubarak herausgefordert hatte, die Wahlen mit dem Argument, sie wollten solch politischer Manipulation keine Legitimität verleihen. Die alte Opposition, wie die Wafd, die linke Tagammu oder die Nasseristen, die ohnedies schon lange jede Überzeugungskraft in der Bevölkerung verloren hat, nimmt zwar an den Wahlen teil, ist aber wegen dieses Schrittes intern zerrissen.

Entschieden hat sich das Regime US-Druck widersetzt, ausländische Wahlbeobachter zuzulassen. Dass auch diesmal, wie vor fünf Jahren, Wähler sogar gewalttätig vor den Wahllokalen „zur richtigen Wahl“ gedrängt werden, ist anzunehmen. Wiewohl kein Zweifel am Ausgang des Wahlausgangs besteht, besitzt diese Farce dennoch Bedeutung. Denn sie soll den Weg für einen komplikationslosen Prozeß zur Übergang der Macht vom alterkränklichen Mubarak auf seinen – bis heute ungeklärten – Nachfolger ebnen. In einem Jahr endet Mubaraks fünfte Amtszeit. Ob der Rais erneut kandidiert bleibt Spekulation. Zu vermuten ist, dass er das Ende einer sechsten Amtszeit nicht mehr erlebt, da er dann über 90 wäre. All diese Ungewissheiten heizen am Nil die Spannungen beunruhigend auf.

Bildquelle: Reuters

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Donnerstag, 25. November 2010

TERROR: Die Elite in Bin Ladens Terrornetzwerk

Usbekische Jihadis erfüllen besondere Aufgaben – Sie versuchen verstärkt auch Türken in die die Al-Kaida zu ziehen und umwerben besonders deutsche Extremisten

von Birgit Cerha

In Waziristan, dem heißumkämpften pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet, wird das Dasein immer ungemütlicher. Verschärfte Attacken der USA und ihrer NATO-Verbündeten, sowie der pakistanischen Luftwaffe haben der dort verschanzten Al-Kaida Führung und deren radikalen Gesinnungsgenossen, darunter auch einigen Deutschen, offenbar quälende Existenzängste eingejagt. Dass zumindest einige von ihnen wieder heimkehren wollen, machte unterdessen in den Medien die Runde. Zu welchem Zweck sie kommen wollen, bleibt Spekulation.

Umworben werden deutsche Islamisten aber offenbar seit einiger Zeit insbesondere von usbekischen Jihadi-Gruppen. In einem über Internet verbreiteten Video forderte die „Islamische Bewegung Usbekistans“ (IBU) zuletzt Anfang Oktober deutsche Muslime eindringlich zum „heiligen Krieg“auf. Teil einer Angstkampagne?An die 200 deutsche Staatsbürger wurden nach Aussagen deutscher Behörden seit Anfang der 90er Jahre in Terrorcamps in Pakistan ausgebildet, vermutlich meist von usbekischen Kämpfern. Der Verbleib von vielen von ihnen und die wahren Zahlen bleiben im dunkeln.

Welche Rolle spielen die Usbeken in dem von dem Saudi jemenitischer Herkunft, Osama bin Laden, gegründeten Al-Kaida Terrornetz?

Neben der IBU nennen manche westliche Geheimdienstkreise noch eine zweite mit Taliban und Al-Kaida liierte usbekische Terrororganisation: die „Islamische Jihad Union“ (IJU) Doch widersprüchliche und verwirrende Informationen konnten bisher ernste Zweifel an ihrer wahren Existenz nicht zerstreuen. IJU wurde von den deutschen Behörden mit der „Sauerland-Gruppe“ in Verbindung gebracht (Terroristen, die 2007 angeblich Anschläge auf Flughäfen und US-Einrichtungen in Deutschland geplant hatten und in ihrem Versteck in Schlehdorn festgenommen wurden). Bei ihrem Prozeß im Führjahr 2010 sagten sie jedoch aus, noch nie etwas von IJU gehört zu haben. Einige Experten halten IJU für eine Interneterfindung und nach Hinweisen eines nach London geflüchteten usbekischen Geheimdienstoffiziers, sowie einer usbekischen Journalistin wurde IJU vom usbekischen Diktator Islam Karimov aus innen- und außenpolitischen Zweckmäßigkeiten gegründet – eine Behauptung, die der ehemalige britische Botschafter in Usbekistan, Craig Murray, für wahrscheinlich hält und dies auch ausführlich in einem Buch, „Murder in Samarkand“, begründet.

Welche Rolle der enge Verbündete der Amerikaner und Deutschen im Anti-Terrorkrieg Karimov in dieser zwielichtigen Welt von Machtmissbrauch, Korruption, Drogen und Terror auch spielen mag, an der Existenz von IBU besteht kein Zweifel. Ihre Ursprünge reichen zurück in die frühen 1990er Jahre zurück, als auch in dem einst sowjetischen Zentralasien das Interesse am Islam zu neuem Leben erwachte und die staatliche Kontrolle zusammenbrach. In der Provinz Namangan bildeten sich kleine informelle islamische Gruppen aus jungen, in Kampftechniken erprobten Männern, die versuchten, das Sicherheitsvakuum zu füllen. Unter ihnen war die „Adolat“, von dem 24-jährigen Imam Tahir Yuldaschew und dem 22-jährigen Afghanistan-Veteran der Sowjetarmee, Juma Namangoni gegründet. Beide stammten aus dem usbekischen Ferganatal (siehe Lexikon). „Adolat“ setzte sich den Sturz des Regimes Karimow und die Gründung eines islamischen Staates in Usbekistan zum Ziel. Sie besetzte 1991 die Provinzhauptstadt Namangan und versuchte, der Bevölkerung puritanische islamische Lebensregeln aufzuzwingen..

Karimow gelang es mit seinen Streitkräften schließlich, die Bewegung niederzuschlagen. Namangoni und Yuldaschew flüchteten mit ihren Kämpfern ins benachbarte Tadschikistan und schlossen sich den dortigen usbekischen Gruppen im tobenden Bürgerkrieg gegen die Tadschiken an. Von einem 1996 geschlossenen Waffenstillstand wollten die beiden nichts wissen, setzten sich mit ihren Anhängern nach Afghanistan ab und knüpfte Kontakte zu Bin Laden. Mit dessen Unterstützung riefen sie die IBU ins Leben, um von Afghanistan aus weiter gewaltsam ihr Ziel eines islamischen Staates in Usbekistan zu verfolgen Für dieses Vorhaben fanden sie nicht nur tatkräftige und auch finanzielle Hilfe bei Bin Laden, den mit ihm verbündeten Taliban und dem pakistanischen Geheimdienst, sondern auch aus saudischen Quellen, darunter Geheimdienst-Chef Prinz Turki al Faisal persönlich.

Nachdem die Taliban Ende September 1996 die afghanische Hauptstadt Kabul erobert hatten, konnte IBU im Ferganatal aktiv werden, einer Region, in der der islamische Traditionalismus besonders stark ausgeprägt ist. Sie fand in Kooperation mit Al-Kaida im afghanischen Mazar-i Sharif und Kunduz ein sicheres Hinterland und ungehinderten Zugang zu Tadschikistan. Die Taliban sollen bis zu 3000 Kämpfern der IBU, darunter auch Tschetschenen und Uiguren (siehe Lexikon), Zuflucht gewährt haben. Namangoni und Yuldaschew gelang es, mit ihren islamistischen Verheißungen Scharen von bitterarmen, orientierungslosen und von massiver staatlicher Repression gequälten Jugendlichen aus dem Ferganatal anzuziehen.

Karimov machte 1999 IBU für eine Serie von Explosionen und einen Attentatsversuch auf ihn verantwortlich, eine Behauptung, die nie bewiesen wurde, ihn aber den Vorwand bot, die Schraube der Repression, insbesondere im sozial brodelnden Ferganatal, noch schärfer zuzuziehen. Kosten für Training und Waffen finanzierte Namangoni durch eine Serie von Geiselnahmen für Lösegelderpressungen auch im südlichen Kirgistan und vor allem durch intensiven Drogenhandel. Nachdem seine Kämpfer 2000 eine Gruppe amerikanischer Alpinisten entführt hatte, setzte Washington die IBU auf die Liste ausländischer Terrororganisationen.

IBU, Al-Kaida und Taliban rückten immer näher aneinander. Während die Taliban den erprobten Krieger Namangoni zu ihrem stellvertretenden Verteidigungsminister ernannten, nahm Bin Laden Yuldaschew in seinen engsten Führungskreis auf und Aussagen des usbekischen Imams ließen erkennen, dass er im voraus von den Terrorakten des 11. Septembers in den USA gewusst haben dürfte.

In dem darauffolgenden Krieg der USA wurde die auf der Seite der Taliban kämpfende IBU stark dezimiert und Namangoni getötet. Yuldaschew übernahm die Führung und die Organisation verlegte ihre Stützpunkte und Trainingslager nach Waziristan. Von dort aus verübten sie wiederholt auch Anschläge in Pakistan und vor allem gegen die in Afghanistan kämpfenden NATO-Truppen. Neben dem Sturz der pakistanischen und usbekischen Regimes, der Rückkehr der Taliban an die Macht in Afghanistan sind IBUs Ziele, wie jene der Al-Kaida vage.“Ihr Hauptinteresse ist die Durchsetzung der Scharia“, analysiert der pakistanische Journalist Ahmed Rashid. Es ginge ihnen nicht darum, eine „gerechte Gesellschaft“ herzustellen, „sondern sie sehen in der Scharia bloß eine Mittel“, den Menschen persönliche Lebensregeln aufzuzwingen – „eine Vorstellung, die jahrhundertealte Traditionen, die Kultur, Geschichte, ja die Religion des Islams selbst verfälscht“. Wie Al-Kaida sehen sich die IBU-Kämpfer als „Fußsoldaten in einem globalen Jihad und können sich heute auf finanzielle Hilfe von Gönnern aus der gesamten islamischen Welt stützen. Dies ermöglicht ihnen, ihre Mitglieder mit modernen Waffen auszustatten.


In den vergangenen Jahren bekundete Yuldaschew auch wiederholt die Absicht, sich stärker der großen usbekischen Minderheit in Süd-Kasachstan und der uigurischen Gemeinde West-Chinas (siehe Lexikon) anzunehmen. Die uigurische Sprache ist der usbekischen nahe und beide Völker bekennen sich zur Hanafi (siehe Lexikon) Richtung des sunnitischen Islam und pflegen sufistische Traditionen. Als Ziel wird jüngst auch die Errichtung eines islamischen Kaliphats in Turkistan genannt, einem Gebiet, das sich vom Kaspischen Meer bis zur chinesischen Xinjiang-Provinz erstreckt und die zentralasiatischen Staaten miteinschließt.

Für die Al-Kaida, wie für die Taliban ist die IBU ein höchst wichtiger Bündnispartner, der ihnen in ihrem Krieg gegen das Regime Karsai und die NATO-Truppen militärisch-beratend zur Seite steht. Usbekischen Kämpfern haftet seit langem der Ruf grausamer Härte an und sie sind berüchtigt für ihren Fanatismus, zeichnen sich aber auch durch große Disziplin aus. Taliban und Al-Kaida schätzen sie als Elite-Training-Kader, denen sie häufig die Ausbildung junger Jihadis, insbesondere auch aus Europa überlassen, nicht zuletzt, weil sie meist motivierter und erfahrener sind als ihre Gesinnungsgenossen der Taliban und Al-Kaida. Nach Einschätzung von Terrorexperten lässt sich ihr Einfluss in weiten Gebieten Süd-Afghanistans erkennen..

Angehörige der US-Spezialeinheiten rühmten jüngst gar auch ihre taktischen Fähigkeiten, die weit über jenen der durchschnittlichen Taliban-Soldaten lägen und diese Usbeken zu besonders gefährlichen Gegnern mache. In der direkten Konfrontation mit Koalitions-Truppen übernähmen sie meist eine Beratungs- und Befehlsfunktion und verstünden es, die ihnen unterstellten Kämpfer zu inspirieren und ihnen damit eine weit effizientere militärische Schlagkraft zu verleihen.

Nach Aussagen westlicher Geheimdienstkreise hat IBU jüngst in Nord-Afghanistan stark an Boden gewonnen, in Gebieten, in denen sich in den vergangenen zwei Jahren der Aufstand neu belebt hat. Gemeinsam mit Taliban-Kämpfern attackieren die Usbeken einen neuen Nachschub-Korridor der NATO, der von Tadschikistan durch die Nord-Provinzen von Kunduz und Baghlan führt und kontrollieren dort bereits zahlreiche Gebiete.

Verlässliche Schätzungen über die Zahl der IBU-Jihadis gibt es nicht. Es könnten mehr als 4.000 Mann sein Doch IBU erlitt immer wieder schwer militärische Rückschläge. Fast ein Jahr lang war die Organisation führerlos. Erst im August gab die Gruppe in ihrer Website „Furqon“ bekannt, dass Yuldaschew am 27. August 2009 bei einem amerikanischen Militärschlag in Süd-Waziristan ums Leben gekommen war. Als neuer IBU-Chef wurde Yuldaschews Stellvertreter, Abu Usman Adil genannt. Experten halten diesen jungen Führer für weit aggressiver und expansiver als den verstorbenen Imam, der sich in den vergangenen Jahren weitgehend Terroraktionen in Afghanistan und Pakistan zur Unterstützung der Taliban und Al-Kaida begnügt hatte.

Doch auch Yuldaschew stellte in einer seiner letzten Videobotschaften klar: „unser Ziel ist nicht nur die Eroberung Afghanistans und Usbekistans, sondern der ganzen Welt….. . Wir führen einen Jihad und für uns gibt es keine Grenzen.“ Ein Auftrag, ganz im Sinne Bin Ladens. Die Al-Kaida schätzt aber ihre Usbeken aber nicht nur wegen ihrer militärischen Kapazitäten. IBU soll dem bis heute von Arabern dominierten Terror-Netzwerk zu größerer Internationalität verhelfen. Türken fehlen auffallend in ihren Reihen. Türkeitürken und Usbeken sind miteinander verwandte Turkvölker, die ähnliche Sprachen sprechen. So soll IBU, in deren Reihen auch Tschtschenen und Uiguren kämpfen nun auch verstärkt Türken aus der Türkei – und vorzugsweise – türkstämmige Deutsche - anlocken, um den globalen Charakter der Al-Kaida zu stärken und ihr zu größerer Schlagkraft in Europa zu verhelfen.

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LEXIKON: Die Uiguren

von Birgit Cerha


Die Uiguren, ein altes Turkvolk, sind die Ureinwohner Ostturkestans, heute die autonome, westchinesische Region Xinjiang, ein Gebiet von der Größe Westeuropas. Hier leben laut offiziellen chinesischen Angaben ca. acht Millionen Uiguren, weitere 500.000 leben in den zentralasiatischen Republiken Kasachstan, Usbekistan, Krigistan, Tadschikistan und Turkmenistan und fast 50.000 im Vorderen Orient, in Europa und in den USA.

Die Uiguren spielten durch den Aufbau unabhängiger Staaten zwischen 745 und 1944 auch eine wichtige Rolle im politischen, kulturellen und sozialen Leben Zentralasiens. Entlang der Seidenstraße beheimatet profitierten sie über Jahrhunderte vom kommerziellen, kulturellen und religiösen Austausch der Völker. Alle Turkvölker betrachten diese Hochkultur als ihr klassisches Erbe, zu dem auch die einzigartige friedliche Verschmelzung zwischen religiösen Strömungen des frühen Buddhismus, des persischen Zoroastrismus, des Christentums und des Islams zählt.
Wiewohl die Welt der Uiguren im Westebis heute weitgehend unbekannt blieb, stieß ihr hoher kultureller Stand doch bei einigen Gelehrten auf große Bewunderung. So stellte etwa Ferdinand de Sassure fest: „Es waren die Uiguren, die in Zentralasien die Kultur in Wort und Schrift bewahrten.

Die uigurische Kultur erfuhr einen rapiden Niedergang nach der Besetzung Ostturkestans durch die chinesische Mandschu-Dynastie 1876. 1884 wurde Ostturkestan offiziell dem Mandschu-Reich eingegliedert und erhielt den Namen Xinjiang. Zu dieser Zeit begann eines systematische Assimilierung durch die Chinesen, die sich insbesondere gegen die Kultur und die islamische Religion der Uiguren richtete. Diese Politik hält bis heute an und wird noch verschärft durch eine systematische Ansiedlung von Han-Chinesen im uigurischen Kernland. Das Gebiet gleicht seit langem einem Pulverfaß. Demonstrationen, Aufstände, Repressionen und Hinrichtungen lösen einander ab. Religionsausübung wird laut Amnesty International sabotiert, die Moscheen werden willkürlich geschlossen, religiöse Feste verboten, die Sprache der Uiguren ist aus Schulen verbannt. Nach Einschätzung der „Gesellschaft für bedrohte Völker“ in Göttingen etwa „gibt es keine andere ethnische Gruppe in China, die so stark einer Verfolgung ausgesetzt ist“.

Die Repression hat vor allem wirtschaftliche Motive. Xinjiang ist Chinas wichtigstes Erdöl- und Erdgaszentrum und zudem von territorial-strategischer Bedeutung. Die Provinz grenzt an die unabhängigen ehemaligen Sowjetrepubliken Kirgistan, Turkmenistan und Kasachstan, in denen ebenfalls Turkvölker leben und Peking befürchtet, auch die Uiguren würden eines Tages nach Unabhängigkeit streben.

Das Schicksal der Uiguren wird – im Gegensatz zu jenem der Tibeter – in Europa fast völlig ignoriert.

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LEXIKON: Fergana Tal

von Birgit Cerha

Die Bewohner der Region nannten es einst das „Goldene Tal“ wegen seiner außergewöhnlichen Pflanzenwelt und dem Reichtum an Bodenschätzen, wie u.a. Gold, Öl und Kupfer. Seit langem ist es die strategisch wichtigste und dichtest besiedelte Region Zentralasiens. Nirgendwo sonst in der Region erreichen wirtschaftliche Tätigkeiten und die Landwirtschaft eine derart hohe Produktivität.

Und dennoch zählt das Ferganatal zu einer potentiell explosivsten Krisenregion Zentralasiens. Eine der Ursachen dafür hatte einst der sowjetische Diktator Stalin geschaffen, als er dieses reiche Tal auf drei Länder – Usbekistan, Tadschikistan und Kirgistan – aufteilte, um sicherzustellen, dass nicht ein Machthaber diese Region beherrscht und damit dem russischen Kernland zur Gefahr werden könnte. Stalin berücksichtigte bei seiner Grenzziehung nicht die ethnische Verteilung der lokalen Bevölkerung und säte somit die Saat ethnischer Konflikte und gewalttätiger Auseinandersetzungen um Gebietsansprüche.

In dem 350 km langen und etwa 100 km breuten Ferganatal leben etwa 15 Millionen Menschen, die meisten sind ethnische Usbeken. Im kirgisischen Teil des Tals stellen die Usbeken etwa ein Drittel bis die Hälfte der Bevölkerung. Usbekistan kontrolliert rund 60 Prozent des Tals, das entspricht 4,3 Prozent seines Staatsgebietes, Tadschikistan 25 Prozent oder 18,2 Prozent seines Staatsgebietes und Kirgistan 15 Prozent oder 42 Prozent seines Staatesgebietes.

Ungeachtet der reichen Bodenschätzen und des fruchtbaren Landes, brodeln im Ferganatal die sozialen Spannungen. Jeder zweite der etwa 15 Millionen Bewohner ist unter 18 Jahre alt. Insbesondere im usbekischen Teil quälen die etwa acht Millionen Bewohner Arbeitslosigkeit und Massenarmut. Viele treibt es deshalb zu Drogenhandel und Kriminalität. Ein unüberschaubares Berggebiet, die kaum kontrollierbaren Grenzen und die Bestechlichkeit der Polizei und Grenzposten erleichtern den Drogenhandel aus Afghanistan. Das Ferganatal besitzt für die Drogenmafia und organisierte Kriminalität große strategische Bedeutung, da hier die wichtigsten Verbindungswege zwischen Nord-Tadschikistan, dem Nordosten Usbekistans und Süd-Kirgistan liegen. Ein wichtiger Teil der Drogen aus Afghanistan wird über diese Route bis nach Westeuropa transportiert.

Im Ferganatal ist traditionell der Islam tiefer verwurzelt, als in anderen Gebieten Zentralasiens. Selbst die Sowjetmacht konnte hier seiner nicht Herr werden. Deshalb sprangen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gerade hier als erstes radikale Islamistenorganisationen aus dem Boden. Militanten Gruppen bieten die das Tal einschließende Bergwelt ideale Rückzugsgebiete, von denen aus sie den Regimes der drei das Tal kontrollierenden Staaten beträchtliche Sicherheitsprobleme bereiten können.

Die geostrategische Bedeutung des Ferganatals ist nicht zu unterschätzen. Es erstreckt sich zwischen Russland im Norden und China im Osten und im Süden zieht sich die geopolitische Bruchlinie Afghanistan, wo die USA und die NATO einen verlustreichen Krieg führen.

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LEXIKON: Hanafi Islam

von Birgit Cerha

Die Hanafi Schule ist die älteste der vier Rechtsschulen des sunnitischen Islam und die liberalste zugleich. Sie wird nach ihrem Gründer, Abu Hanifa ibn Thabit benannt, der um etwa 700 in Kufa, im heutigen Irak, geboren wurde. Er zählte zu den frühesten muslimischen Gelehrten, die versuchten, neue Wege der Interpretation islamischer Lebensregeln einzuschlagen. Zu Lebzeiten wurde Abu Hanifa deshalb missachtet, als ignorant, Erfinder neuer Glaubenssätze und gar als Ungläubiger (kafir) beschimpft. Er wurde gefangen genommen und starb als Folge einer Vergiftung 767 oder 768.

Diese Schule orientiert sich an der menschlichen Vernunft und setzt sich das stete Streben nach dem Besseren als höchstes Ziel. Die Hanafi-Richtung, die weitest verbreitete im Islam, gilt allgemein als tolerant, mit liberaler religiöser Ausrichtung.

Diese Schule juristischen Denkens ist dominierend im arabischen Mittleren Osten, in Indien, Pakistan und Afghanistan,u.a., aber auch in Teilen Zentralasiens, unter Usbeken, Uiguren und Tartaren.
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Samstag, 20. November 2010

Was die katholische Kirche von Meinungsfreiheit hält

von Birgit Cerha

Die deutsche Bischofskonferenz hatte vergangenen September abrupt beschlossen, die angesehene katholische Wochenzeitung „Rheinischer Merkur“ mit Ende November einzustellen. Eine Rumpfversion mit religiösen und kirchlichen Themen wird ab Jänner 2011 als Beilage in „Die Zeit“ erscheinen.

Trägerinnen des RM waren bisher acht deutsche Bistümer sowie – zu einem geringen Anteil – auch die Bischofskonferenz als Dachorganisation aller 27 deutschen Diözesen.

Mit der Entscheidung zur Einstellung dieser in Bonn erscheinenden Zeitung hatten sich offenbar die konservativen Mitglieder der Bischofskonferenz durchgesetzt, denen das Blatt schon seit Jahren als zu liberal und eigenständig ein Dorn im Auge gewesen war. Offiziell heißt es allerdings, ökonomische Gründe – ein Defizit und sinkenden Leserzahlen – hätten den Ausschlag gegeben. Im „Rheinischen Merkur“ geäußerte Kritik an einer Kultur systematischen Verschweigens und Vertuschens der Kirche in Zusammenhang mit jahrelangen Missbrauchskandalen an Schulen hat u.a. konservative Bischöfe zuletzt so erboßt, dass sie eine fast 65-jährige Tradition wertkonservativer Publizistik abrupt beendeten.

Der Fall ruft das traurige Schicksal eines anderen großen publizistischen Projekts der katholischen Kirche Deutschlands in Erinnerung, dem konservative Bischöfe ebenfalls den Todesstoß versetzt hatten: die intellektuell anspruchsvolle Wochenzeitung „Publik“. Sie war 1968 von der Katholischen Kirche in Deutschland gegründet worden und sollte die Idee einer erneuerten Kirche symbolisieren, die sich im Aufbruch befindet und einen offenen Dialog mit der gesamten Gesellschaft führt. Bereits nach drei Jahren hatten sich die konservativen Kräfte in der Bischofskonferenz durchgesetzt und diese reformorientierte und liberale Stimme 1971 zum Schweigen gebracht. Empörte Leser schlossen sich darauf hin zusammen und finanzierten „Publik-Forum“, eine 14-täglich erscheinende, kirchenunabhängige Zeitung, die bis heute einen Leserkreis unter Katholiken, aber auch Protestanten halten konnte und ein eindrucksvolles Beispiel von Basisinitiative setzte.

Nach zehnjähriger Zusammenarbeit mit dem Rheinischen Merkur durfte auch ich einen Abschiedsbeitrag in der letzten Ausgabe schreiben, den sie nun lesen können


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Ein schmerzlicher Abschied

Mein letzter Beitrag für den RM kann nur ein persönlicher sein. Es ist ein Abschied, der für mich das schmerzliche Ende einer Etappe besiegelt. Ihren Niedergang habe ich in drei Jahrzehnten als Nahost-Korrespondentin für mehr als ein Dutzend deutschsprachiger Zeitungen miterleiden müssen. Der RM hat mir die berufliche Befriedigung geschenkt, die mir der Untergang seiner Leidensgenossen (vier angesehener Wochenzeitungen) geraubt hatte.

Der Wochenzeitungsstil, wie ihn der RM pflegte, hat sein Publikum, das ein Recht und einen Anspruch auf diese Form der fundierten, erklärenden und analysierenden Berichterstattung gerade in einer Zeit des gravierenden Niveauverlusts der Medien besitzt. Der dekrediterte Untergang dieser Zeitung reißt in der Medienlandschaft eine nicht zu schließende Lücke auf. Beispiele beweisen dies: Nach einem Jahrzehnt weinen wissbegierige Bürger im Internet immer noch der alten schweizer „Weltwoche“ (einst RM-Kooperationspartner) nach, für die sie keinen Ersatz finden.

Was mir persönlich am RM und seinem Team solche Freude machte, war neben der sachlichen Kompetenz die Ernsthaftigkeit im Umgang mit wahrhafter Berichterstattung, dem Bemühen, auch „die andere Seite“ darzustellen - leider auch im demokratischen Deutschland keine Selbstverständlichkeit mehr. Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass ich bei meiner Berichterstattung über die arabische/islamische Welt bei als seriös geltenden (Tages-) Publikationen die Schere der Zensoren mehrmals scharf zu spüren bekam, bis sie in einem Fall gar eine 15-jährige Zusammenarbeit durchtrennte. Ich habe solches Opfer für die Meinungsfreiheit mit Stolz getragen. Umso mehr aber habe ich die Zusammenarbeit mit dem Team des RM genossen. Den Kollegen sei dafür von Herzen gedankt und den Entscheidungsträgern, die dem RM den Todesstoß versetzten, zugleich meine tiefe Empörung bekundet, dass sie – wiewohl eine starke Institution - gerade in Zeiten der Krise darauf verzichten, auf kompetente, seriöse und gefällige Weise Bildung, demokratische und ethische Werte in einer Weise zu verbreiten, die ihre Glaubwürdigkeit stärkt.

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Donnerstag, 18. November 2010

TERROR: Die Grenzen des Anti-Terror-Krieges

Mutierende Al-Kaida Zellen infizieren Deutschland und andere europäische Staaten und finden immer neue Rückzugsgebiete und Terrorstrategien

von Birgit Cerha

Nach Monaten kursierender Hinweise auf Anschläge in verschiedenen europäischen Ländern hat nun in Deutschland die Bedrohungslage einen Höhepunkt erreicht. Terrorchef Osama bin Laden, so behaupten Geheimdienstkreise, hätte höchst persönlich Pläne zu spektakulären Schlägen in Europa sanktioniert und Deutschland sei neben Frankreich ihr Hauptziel. Schon seit einiger Zeit sammeln Anti-Terror-Experten nach eigenen Aussagen Hinweise darauf, dass militante Islamisten deutscher Herkunft ihr Training in Al-Kaida Lagern im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet beendet und die Heimreise angetreten hätten, um in Deutschland „das Gelernte“ einzusetzen. Als möglicher Drahtzieher des Komplotts wird Mohammed Ilyas Kashmiri genannt, der vor einigen Monaten einen Anschlag auf das populäre Touristenrestaurant „German Bakery“ im indischen Pune organisiert hatte, bei dem 17 Menschen ums Leben gekommen waren.Im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet halten sich, ungehindert von dem von den USA mit deutscher Beteiligung geführten Anti-Terror-Krieg neben der Al-Kaida-Führung um Bin Laden seit einiger Zeit mehrere Dutzend Islamisten aus Deutschland auf. Deutsche sind auch Mitglieder der „Islamischen Bewegung Usbekistan“ und könnten sich für Bluttaten in ihrer Heimat bereithalten.

Ungeachtet des neunjährigen Krieges gegen Osama bin Laden und seine Al-Kaida hat das Terrornetzwerk eine erstaunliche Überlebenskraft und Anpassungsfähigkeit an veränderte Gegebenheiten beweisen, zuletzt durch die teilweise durch Zufall, teilweise durch Informationen eines abgesprungenen Al-Kaida-Terroristen im letzten Moment in mehreren europäischen Städten entschärften Paketbomben. Al-Kaida bewies damit, dass sie immer wieder Sicherheitslücken entdecken kann und für ihre grausigen Zwecke auszunützen versucht.

Jemen, wo die Paketbomben abgesandt worden waren, bleibt damit neben dem afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet das gefährlichste Rückzugsfeld der Terroristen. Die dort ansässige „Al-Kaida in der Arabischen Halbinsel“ (AKAH), die sich zu den Paketbomben bekannt hatte, begann damit einen bis dahin lokal auf die Region begrenzten Terror auf Europa auszuweiten. Der 36-jährige Deutsche Ahmed Siddiqui, der sich seit März 2009 in Al-Kaida Lagern im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet einem Terrortraining unterzogen hatte, erwies sich nach seiner Festnahme im Juli in Kabul durch US-Spezialeinheiten als eine der wichtigsten Informationsquellen. Nach seinen Auskünften rekrutierte Scheich Younis al-Mauretani, die Nummer Drei der Al-Kaida, Freiwillige aus westlichen Ländern für größere Terrorattacken in Europa, insbesondere gegen Finanz- und Wirtschaftszentren.

Neben diesen Gerüchten aber ist die anhaltende Gefahr aus dem Jemen real. AKAH, die durch eine Fusionierung saudischer und jemenitischer Al-Kaida Zellen im Vorjahr geboren wurde und sich aus saudischen, jemenitischen sowie anderen arabischen Afghanistan-Veteranen und ehemaligen Häftlingen des von den USA auf Kuba geführten Guantanamo-Gefangenenlagers zusammensetzt, stützt sich in ihren Terrorplanungen vor allem auf das Geschick des 29-jährigen Saudi Ibrahim al-Asiri, hochwirksam Plastikbomben zu bauen.

AKAH findet im bitterarmen Jemen mit seinen starken, unabhängigen und hochbewaffneten Stämmen und einer hoffnungslos überforderten, korrupten und schwachen Zentralregierung ein ideales Rückzugs- und Rekrutierungsfeld. Eine Ende Oktober eingeleitete Offensive der von US-Militärs insbesondere aus der Luft unterstützten Regierungssoldaten gegen die Extremisten kann dem Terrornetz nur wenig anhaben.

Doch keineswegs nur aus Pakistan/Afghanistan und dem südlichen Zipfel der Arabischen Halbinsel muss sich Europa bedroht fühlen. Potentiell weit größere Gefahren lauern nach Ansicht von Anti-Terror-Experten gleich jeneseits des Mittelmeeres. Die nord-afrikanische Al-Kaida Filiale hat sich in den vergangenen Jahren zu einem gut organisierten und – dank Lösegelderpressungen - finanzkräftigen Netzwerk aufgebaut, das längst seine Zellen nach Frankreich und Spanien eingeschleust hat. Bisher fehlte es ihr noch an Entschlossenheit, ihren Ärger gegen den Westen blutig in Europa zu entladen.

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Montag, 1. November 2010

IRAK: Geiseldrama in Bagdader Kirche endet in Blutbad

Höhepunkt jahrelangen Terrors gegen Christen, der ein Ende dieser alten Religionsgemeinschaft im Irak heraufbeschwört

von Birgit Cerha

„Die Operation war erfolgreich“, triumphierte Abdul-Qadr al-Obeidi, Iraks Verteidigungsminister, nachdem Montag Früh ein vierstündiges Geiseldrama in einer der größten christlichen Kirchen Bagdads zu Ende gegangen war. Alle acht Terroristen waren getötet worden, doch mit ihnen fast die Hälfte der Geiseln. Vier Stunden lang hatten Extremisten, die sich zum irakischen Zweig der Al-Kaida bekannten, mehr als hundert Gläubige in der katholischen Kirche „Our Lady of Salvation“ als Geisel genommen und über Handy einer lokalen TV-Station ihre Forderungen nach Freilassung im Irak inhaftierter und in Ägypten festgehaltener Gesinnungsgenossen gefordert. Die Verhandlungen mit den offenbaqr nicht-irakischen Terroristen scheiterten. Daraufhin stürmten irakische Sicherheitskräfte, von US-Militärs unterstützt, das Gotteshaus. Mehr als 50 Menschen verloren in dem Blutbad ihr Leben. Der „Islamischer Staat des Iraks“ bekannte sich Montag zu dem Anschlag und setzte ein Ultimatum von 48 Stunden für die Freilassung von zwei angeblich von der koptischen Kirche in Ägypten festgehaltenen christlichen Frauen, die zum Islam übergetreten waren.
Zahlreiche Augenzeugen des Blutbades zeigten sich zutiefst empört über das Vorgehen der Sicherheitskräfte, die zu lange gezögert und dann das Leben von so vielen unschuldigen Menschen geopfert hätten. Scharfe Kritik an der Inkompetenz der irakischen Einheiten wurde ebenso laut, wie der Verdacht, dass terroristische Infiltranten ein effizientes Vorgehen unmöglich gemacht hätten.

Es war bei weitem der blutigste Anschlag auf die ohnedies schon zutiefst eingeschüchterte christliche Minderheit des Iraks. Seit vielen Monaten appellieren christliche Führer an den irakischen Regierungschef, an die US-Militärführung, an den Westen, für größeren Schutz der tödlich bedrohten Christen zu sorgen. Vergeblich. So war offensichtlich auch die Kirche „Our Lady of Salvation“ unzureichend geschützt. Laut irakischer Verfassung hat der Staat für die Möglichkeit der freien Religionsausübung der Minderheiten zu garantieren.

Christliche Führer klagen seit Monaten, dass ihre Gemeinschaft zu den Hauptleidtragenden des seit den Parlamentswahlen im März bestehenden Machtvakuums zählt. Tatsächlich werden Christen zunehmend Opfer in dem immer mehr gewaltsam ausgetragenen Ringen um Macht und Einfluß in einem Land, das es auch nach neun Monaten noch nicht schaffte, eine Regierung auf die Beine zu stellen.

Die Christen im Irak können ihren Ursprung bis auf das Jahr 35 n.Chr. zurückverfolgen, als der Apostel Thomas den Glauben in das Zweistromland brachte. Sie sind heute überwiegend Chaldäer, autonom vom Rom, erkennen jedoch die Autorität des Papstes an. Die zweitgrößte Religionsgemeinschaft ist jene der assyrischen Christen, der vor allem Nachkommen der alten assyrischen und babylonischen Reiche angehören. Assyrer sind auch Mitglieder der Syrisch Orthodoxen Kirche.

Hatte das säkulare Regime des Diktators Saddam Hussein die Christen, die seit Generationen in Harmonie mit der muslimischen Mehrheit gelebt hatten, weitgehend von seinem Terror verschont, so änderte sich die Situation für die Minderheit mit dem Sturz des Despoten radikal. Bei einer Synode nahöstlicher Bischöfe Mitte Oktober in Rom beschuldigte der Syrische Erzbischof Athanase Matoka von Bagdad unverblümt die USA, durch die von ihnen 2003 angeführte Invasion des Iraks dem Land und insbesondere den Christen „Zerstörung und Ruin auf allen Ebenen“ gebracht zu haben. Die christliche Gemeinde des Landes ist von mehr als einer Million 1991 auf etwa 300.000 geschrumpft und der Exodus hält an. „Wo ist das Weltgewissen“ sprach der hohe Geistliche eine Frage aus, die viele Christen des Iraks quält. „Wir fragen die Großmächte: Ist es wahr, dass es einen Plan gibt, die Christen aus dem Mittleren Osten zu vertreiben und der Irak das erste Opfer ist?“

Die allgemeine Unsicherheit, die alarmierende Zunahme islamistischen Radikalismus seit 2003 stürzte die Christen in eine äußerst verzweifelte Lage: An die 200.000 suchten bisher in der relativ sicheren autonomen Kurdenregion Zuflucht. Besonders schlimm ist die Situation in den Städten, in denen sich die christlichen Gemeinden konzentrieren, wie vor allem Bagdad und Mosul. In dieser nördlichen Stadt wurden in den vergangenen drei Jahren nicht nur Hunderte Christen ermordet, sondern 2008 sogar der Erzbischof, Faradsch Raho, entführt. Nur sechs Monate, nachdem seine Leiche gefunden worden war, ermordeten islamistische Terroristen auch seinen Nachfolger. Entführungen von Christen zur Erpressung hohen Lösegeldes, Morde, Vertreibungen aus ganzen Stadtvierteln, Attacken auf Kirchen und andere christliche Einrichtungen steigern die Ängste der Minderheit zur Panik. Wer kann, flüchtet. Ein Schritt, der nach dem Blutbad von Bagdad noch vielen mehr als die einzige Überlebenschance erscheinen mag.

Bildquelle: Reuter

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