von Dr. Arnold Hottinger
Assymetrische Kriege, wie jener, der heute in Afghanistan und in Pakistan geführt wird, sind Kriege der Wahrnehmung. Es gibt keine Entscheidungsschlachten. Die unzähligen und immer andauernden Kleinaktionen, Überfälle, Anschläge, Terroraktionen, Bedrohungen und Erpressungen, aus denen ein solcher Krieg besteht, sollen dazu dienen, die Wahrnehmung der Bevölkerung dahin zu beeinflussen, dass sie zu erkennen glaubt, weder sie selbst sei in der Lage, sich wirksam zu verteidigen noch irgendwelche Schutzmächte, die ihr zu helfen oder mindestens geregelte Verhältnisse zu schaffen vorgeben, vermöchten dies. Auch die Wahrnehmung der Schutzmacht selbst muss in diesem Sinne beeinflusst werden, wenn die Seite des "Widerstandes" das Kräftemessen gewinnen soll.
Doch auch auf der Gegenseite der "Ordnungsmacht" spielt die Wahrnehmung eine entscheidende Rolle. Denn auch die Ordnungsmacht wird von einer Bevölkerung getragen. Wenn diese ihr den Rückhalt entzieht, verliert sie den Krieg. Weshalb die Ordnungsmacht alles tut, was sie vermag, um sich Vertrauen und Zuversicht ihrer eigenen Bevölkerung, und auch der ihrem Schutz unterstellten, zu bewahren. Das bedeutet, die Ordnungsmacht führt einen doppelten Meinungskampf: die Zuversicht der eigenen Bevölkerung muss erhalten bleiben und jene der beschützten Bevölkerung muss bewahrt oder wiedergewonnen werden.
Ein prominentes Opfer dieses Wahrnehmungskrieges ist die faktische Lage des realen Kräfteverhältnisses, weil beide Seiten auf Gedeih und Verderb die Wahrnehmung zu beherrschen suchen, bestimmt die Scheinlage den Verlauf und Ausgang des Krieges, nicht die tatsächlich vorhanden Kräfte. Mit anderen Worten, was auf beiden Seiten geglaubt wird, erweist sich als kriegsentscheidend, nicht was auf beiden Seiten an Kräften wirklich vorhanden ist. Operativ heisst das nichts anders, als dass beide Seiten dazu verdammt sind, nach Kräften zu lügen. Ob sich eine Propagandalüge als wirksame Kriegswaffe erweist oder nicht, hängt nicht vom Wahrheitsgehalt solcher Lügen ab, sondern davon ob sie geglaubt werden oder nicht.
Aussagen um der Wahrnehmung willen
Man muss diese Sachlage berücksichtigen, wenn man die an die Aussenwelt gerichteten Aussagen der Kriegsführenden zur Kenntnis nimmt. Sie haben stets einen Zweck; nämlich die Wahrnehmungen der Aussenwelt zu beeinflussen und nicht die faktische Lage zu schildern. Mit einer durch diese Tatsachen gegebenen Brille hat man alle Kriegsberichte und Kampfdarstellungen zu lesen, die der Ordnungsmacht so gut wie die der Rebellen. So zum Beispiel der in sehr objektiv erscheinenden Darstellungen gehaltene, durchaus "sachlich" wirkende, beinahe 100 seitige Bericht, den jüngst das Pentagon dem amerikanischen Kongress vorlegte. Er spricht von "langsamen Fortschritten" in entscheidenden Kriegsbereichen, wie etwa der Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte, oder der Ausdehnung "von Rebellen gereinigter Zonen". Und er räumt ein, dass der Widerstand sich als sehr zäh erweise, so dass weder eine Schwäche der Führung noch ein Zerbrechen der Befehls- und Kontrollketten feststellbar sei.
Solche Einschränkungen und Warnungen sind zur Erhaltung der Glaubwürdigkeit des Berichtes notwendig. Sie dienen auch dazu, klar zu machen, dass der Krieg nach Ansicht des Pentagons noch lange andauern dürfte und deshalb Entschlossenheit und Durchhaltewillen beim amerikanischen Volke und seinen politischen Führern, sowie Zuversicht bei den "beschützten" Afghanen, weiter notwenig seien. Doch man sollte nicht glauben, dass Begriffe wie "langsamer Fortschritt" notwendigerweise ein Vorankommen widerspiegeln, es könnte sich auch um Stagnation oder Rückschritte handeln. Die angesprochene "Zähe" des Widerstandes kann auch bedeuten, dass der Widerstand zunimmt. Wie aus den seit dem Vorjahr stark angewachsenen Zahlen der Zwischenfälle und Todesopfer eher hervorgeht.
Kontraproduktive Aktionen der Ordnungskräfte
Natürlich hält sich auch die Gegenseite der Taleban und ihrer paschtunischen Mitkämpfer nicht an die Fakten. Auch ihr geht es um Eindrücke. Da sie die bestehenden Ordnungsstrukturen zerstören, nicht wie die Gegenseite bewahren und aufbauen wollen, dient "Furcht und Schrecken" ihren Zwecken. Die "Wahrnehmung", die sie ausdehnen wollen, kann durch Gewaltmassnahmen aller Art, durchaus auch Schandtaten verbrecherischen Charakters, gefördert werden, denn sie besteht aus der Botschaft:"wir können jederzeit den Aufbau und die Festigung von allen Ordnungsstrukturen verhindern und diese weiter zerstören, und wir werden dies solange tun, bis wir an die Macht gelangen!"
Man muss sehen, dass auch die Ordnungskräfte stets in Gefahr schweben, die Wahrnehmungen, welche ihre Feinde ausbreiten wollen, ihrerseits ebenfalls zu fördern. Sie tun dies in dem Augenblick, in dem ihre Bekämpfung "der Rebellen" ihrerseits in Zerstörung geordneter Verhältnisse einmündet - genauer gesagt, in der Sicht der betroffenen Bevölkerung einzumünden erscheint. Dies geschieht oft und immer häufiger, je mehr die Ordnungstruppen zu schweren Waffen "der Abwehr" greifen. Jüngst wurde gemeldet, dass die Amerikaner zum ersten Mal schwere Panzer einsetzen, und die Beschreibungen der Kriegskorrespondenten machen klar, dass diese dazu dienen, feindliche Ziele aus grosser Distanz zu pulverisieren. Wie zuvor schon der Einsatz von Drohnen und Raketen sowie der aller Art Kriegsflugzeuge bedeutet dies einen weiteren Schritt der notgedrungen wenig diskriminierenden Zerstörung. Neben möglicherweise getroffenen Widerstandskämpfern werden mit Sicherheit zivile Afghanen, besonders Frauen und Kinder, sowie alte Leute, getroffen und ihre Wohnstätten pulverisiert.
Der Einsatz von schweren Waffen durch die Amerikaner bewirkt das gleiche bei der afghanischen Bevölkerung, was die Terrortaten der Taleban bezwecken; er verstärkt die Wahrnehmung, dass alle Lebensgrundlagen für die Afghanen solange immer weiter zerstört werden, bis der Krieg nur zu Ende geht, die Amerikaner das Land verlassen und die Taleban die Macht ergreifen.
Zerstörung gegen Aufbau
Auch ohne solche selbstzerostörerische Schritte der "Ordnungsmächte" sind die Taleban dadurch im Vorteil, dass sie die Bevölkerung bedrohen und ihrer Drohungen wahr machen können und dass sie dadurch jene Wahrnehmung, die zu ihren Gunsten wirkt, fördern. Die Ordnungskräfte ihrerseits müssen versprechen statt zu drohen, nämlich versprechen, sie würden Befriedung und Sicherheit ausdehnen, sowie "Entwicklung" , das heisst ein besseres Leben für die Bevölkerung, fördern. Wenn sie diese Versprechen nicht einhalten können, weil ihre Gegner das verhindern, leidet ihre Glaubwürdigkeit, und dadurch spielen sie auch wieder den Aufständischen in die Hände.
Die allen Afghanen bekannte und weithin sichtbare Korruption der Karzai Regierung fördert ebenfalls jene Wahrnehmungen, welche die Taleban ausbreiten wollen. Nämlich dass seine Seite mit Unterstützung der Amerikaner eine Art von Ordnung hervorzubringen verspricht, wie sie die Afghanen auf keinen Fall wünschen.
Gesamthaft gesehen ist klar: alle für die Bevölkerung negativen Entwicklungen nützen den Rebellen, sowohl wenn die Rebellen sie selbst hervorbringen wie auch - sogar noch mehr - wenn sie auf die Regierung und ihre fremden Beschützer zurückgehen, Dies sind Realitäten, die man erkennen muss, wenn man die Darstellungen, welche die Ordnungsmächte vom Geschehen in Afghanistan darbieten, richtig einschätzen will.
Samstag, 27. November 2010
AFGHANISTAN: Der Wahrnehmungskrieg in Afghanistan
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