Unterentwicklung, Korruption, Mismanagement und Kriege treiben das ärmste arabische Land in den Untergang - Lassen sich der Jemen und sein gequältes Volk noch retten?
von Birgit Cerha
Ganze zwei Stunden beraten heute, Mittwoch, hohe Vertreter aus 21 Ländern in London über eine Strategie, um die westliche Welt vor der wachsenden Terrorgefahr zu retten, die ihr aus dem Jemen, dem zunehmend attraktiven Tummelplatz der Al-Kaida, droht. Aber für einen Nachmittagstee sollen die besorgten Delegierten noch Zeit finden. Der nur knapp fehlgeschlagene Anschlag auf ein amerikanisches Flugzeug in Detroit am 25. Dezember, den der jemenitische Al-Kaida-Flügel geplant hatte, schreckt die internationale Gemeinschaft auf. Dabei steht der Jemen, eines der ärmsten Länder der Welt, schon seit vielen Monaten ganz knapp am Rande des Abgrunds. In seinem Chaos finden gewalttätige Fanatiker eine weitgehend sichere Heimstätte und regen Zulauf.
Am Vorabend der Londoner Konferenz warnte das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) eindringlich davor, sich in London keineswegs nur auf die Sicherheitsgefahren zu konzentrieren, die aus dem Jemen drohen. Dann nämlich wäre jede Hilfe von vornherein zum Scheitern verurteilt.
Noch nie war die Lage des krisengeschüttelten Landes so verzweifelt wie heute. Eine extrem schwache und tief korrupte Zentralregierung kontrolliert nur noch einen Bruchteil des Landes, während im Süden die Schar der Sezessionisten wächst, die Wirtschaft zusammenbricht, die Öl- und vor allem auch die Wasserquellen versiegen und eine hoffnungslose Jugend im islamischen Extremismus Trost sucht. Doch jede Hilfe für das Land müsse wirkungslos versiegen, warnt das IKRK, wenn die internationale Gemeinschaft sich nicht endlich der gravierenden humanitären Katastrophe zuwendet, die mindestens 150.000 Menschen im Norden schon seit Monaten in Obdachlosigkeit, Hunger und Verzweiflung treibt. Der Krieg zwischen der von Saudi-Arabien unterstützten Zentralregierung und den sich gegen Diskriminierung wehrenden schiitischen Zaidis unter Abdul Malek al Houthi hat Zehntausende von jeder Hilfe abgeschnitten. Niemand kennt das Ausmaß ihres Leidens. Eine Fortsetzung des Konflikts würde jegliche Stabilisierungsversuche des Landes sinnlos machen.
Jemens Krisen freilich haben ein derart dramatisches Ausmaß erreicht, dass es schier unmöglich erscheint, sinnvolle Prioritäten zu setzen. Auch mit einer Steigerung der Hilfe um 400 Prozent, die etwa das bisher großzügigste Geberland, Großbritannien, für die nächsten fünf Jahre verspricht (auf 83 Mio. Dollar pro Jahr) ist keine entscheidende Besserung zu erwarten, und schon gar nicht mit der von Washington zugesagten Verdoppelung der Militärhilfe auf 120 Mio. Dollar, bei einer gleichzeitigen zivilen Hilfe von 24 Mio. Dollar (1,6 Dollar pro Kopf).
Wo aber sollte begonnen werden?
Das wegen seiner einst so blühenden Landwirtschaft von den Römern gepriesene „Arabia felix“ vegetiert heute in verzweifelter Armut mit einem Pro-Kopf-Jahreseinkommen von 600 Dollar, einer Arbeitslosigkeit von 40 Prozent. Ein ebenso hoher Prozentsatz der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze, muss täglich mit weniger als zwei Dollar auskommen. Die Unterernährungsrate von Kindern zählt zu der höchsten der Welt, während täglich fünf Millionen
der etwa 23 Millionen Jemeniten hungrig zu Bett gehen. Im Mai warnte die UN-Landwirtschaftsorganisation FAO, dass eine wachsende Zahl von Jemeniten sich nur noch eine Mahlzeit pro Tag leisten könnten. Zugleich treibt eine völlig unterentwickelte Infrastruktur die Menschen in Verzweiflung, das katastrophale Gesundheitssystem ebenso wie der Bildungssektor. Die Hälft der Erwachsenen-Bevölkerung kann nicht lesen und schreiben, unter den Frauen erreicht die Rate gar 70 Prozent.
Ein ungehemmtes Bevölkerungswachstum von 3,4 Prozent verschlingt jeden möglichen ökonomischen und sozialen Aufschwung. Nach Schätzungen wird sich die Bevölkerung in den nächsten zwei Jahrzehnten fast verdoppeln. Misswirtschaft, himmelschreiende Korruption und Kriege sind eine der Ursachen für die verzweifelte Lage des Landes. Sogar die jemenitische „Kontroll- und Auditing-Behörde“ gesteht ein, dass 30 Prozent der staatlichen Einkünfte nie in Regierungskonten landen. Präsident Saleh pflegt seit Jahrzehnten seine Position durch Nepotismus und Bestechung gegen die mächtigen Stämme abzusichern. Zunehmend vergeblich, da die Ölquellen versiegen und die internationale Hilfe in den vergangenen Jahren schrumpfte. Derzeit liefern Ölexporte 75 Prozent der staatlichen Einkünfte. Damit könnte es aber schon in zehn – manche Experten befürchten sogar in fünf – Jahren vollends vorbei sein.
Während Saleh sich auf kriegerische Auseinandersetzungen konzentriert und mehr als sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die Kriegskassen fließen lässt . die siebenthöchste Rate der Welt – sind ein Drittel der offiziell mit 100.000 Mann angegebenen Streitkräfte „Geister-Soldaten“, die entweder nicht existieren oder nie zum Dienst erscheinen. Ihre „Kommandanten“ beziehen aber Gehälter und verkaufen die zugedachten Waffen und andere Güter, wie Treibstoff, auf dem Schwarzmarkt. Westliche Geberländer wollen denn auch großzügigere Hilfe an effektive Reformen knüpfen.
Doch der Schlüssel zur Stabilisierung des Landes liegt in der Landwirtschaft, die heute nur noch 25 Prozent des Nahrungsmittelbedarfs zu decken vermag, obwohl 43 Prozent der arbeitsfähigen Männer Bauern sind. Doch sie konzentrieren sich auf den Anbau der milden Biodroge Kat, der 80 Prozent der Bevölkerung verfallen sind und die ohne große Mühe rasch sechsmal so hohen Ertrag einbringt als die Produktion von Getreide und anderen Nahrungsmitteln. Nicht nur lähmt der Kat in katastrophaler Weise die Produktivität der Menschen, er verschlingt auch riesige Mengen von Wasser. Seit Jahren sinkt deshalb der Grundwasserspiegel um jährlich zwei Meter. Viele Quellen drohen vollends zu versiegen und schon befürchtet man, Sanaa werde bald einen zweifelhaften Rekord als erste Hauptstadt der Welt ohne Wasser aufstellen.
Die internationale Gemeinschaft sollte nach Ansicht von Experten raschest Strategien entwickeln, um Jemens Bauern die Umstellung der Produktion von Kat auf Nahrungsmittel attraktiv zu machen. Eine entscheidende Rolle kommt vor allem aber auch den reichen Nachbarn am Persischen Golf zu, die seit Salehs Unterstützung für den Iraker Saddam Hussein den Jemeniten weitgehend ihren Arbeitsmarkt versperren und damit Zehntausende Familien der Basis für ihre Existenz berauben. Eine Jugend ohne Perspektive finden leicht Trost in radikalen Ideen und ist offen für jedes auch noch so kleine finanzielle Trostpflaster.
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Dienstag, 26. Januar 2010
Montag, 25. Januar 2010
IRAN: Mehdi Karrubi anerkennt Irans Präsidenten
Massiver Druck und ein fehlgeschlagenes Attentat bewog einen der beiden Oppositionsführer zum Einlenken – Bereitet das Regime einen „Deal“ vor?
von Birgit Cerha
Das Eingeständnis kam überraschend – und doch nicht. In einem Gespräch mit der offiziellen iranischen Nachrichteagentur Fars setzte Mehdi Karrubi einen deutlich neuen Akzent. Auf die Frage, ob er Ahmadinedschad als den legalen und gewählten Präsidenten des Landes anerkenne, antwortete der bei den Wahlen im Juni unterlegene Kandidat erstmals, wiewohl mit äußerst vorsichtig gewählten Worte: Ich würde Ja sagen. Weil der (Höchste) Führer (Ali Khamenei Ahmadinedschads Sieg) anerkannte, glaube ich, dass er der Chef der Regierung ist, das bedeutet, er ist Präsident.“
Bisher hatte Karrubi, gemeinsam mit dem ebenfalls offiziell unterlegenen Kandidaten Mussawi, entschieden die Legalität der Wahlen bestritten, sie seien massiv manipuliert worden und müssten deshalb wiederholt werden. Nach Aussagen seines Sohnes ist Karrubi unverändert „davon überzeugt, dass die Wahlen ungesund gewesen waren und das Ergebnis massiv gefälscht wurde.
Welche Auswirkungen der Rückzug dieses mutigsten der drei symbolischen Führer der inzwischen zu einer Massenströmung angewachsenen oppositionellen „Grünen Bewegung“ nach sich zieht, lässt sich vorerst noch nicht voll abschätzen. Nach Aussagen seines Sohnes war Karrubi, der sich noch weit energischer als Mussawi oder Ex-Präsident Khatami gegen die ungeheuerlichen Brutalitäten, Folterungen, Vergewaltigungen und Morde an friedlichen Demonstranten durch die Sicherheitskräfte engagiert hatte, von seinen Anhängern seit Monaten stark bedrängt worden, seinen Widerstand nicht aufzugeben. Doch der massive Druck des Regimes zeigte nun offensichtlich seine Wirkung. Mehrmals war Karrubi physischen Attacken durch paramilitärische Bassidsch ausgesetzt gewesen. Vor etwa zehn Tagen aber entging er nur ganz knapp einem offensichtlich gezielt geplanten Mordanschlag. Hinzu kamen die verschärften Verbaldrohungen durch radikale Geistliche, die die Führer der „Grünen Bewegung“ als „Mohareb“ klassifizierten, als Personen, die nach schiitischem Glauben im Krieg mit Gott stehen und deshalb mit dem Tode bestraft werden müssten. Justizsprecher schlugen in die selbe Kerbe und forderten, dass solche „Verbrecher“ sogar binnen weniger Tage exekutiert werden müssten.
Allerdings läßt einiges darauf schließen, dass Karrubi nicht nur den persönlichen Mut zum weiteren Widerstand verlor, sondern vielleicht auch durch andere Entwicklungen zu seiner Haltungsänderung motivert wurde. Wie Mussawi und Khatami strebte Karrubi nie eine neue Revolution, keineswegs den Sturz des Regimes an, bekennt sich entschieden zu den Grundsätzen der Islamischen Republik, zur Verfassung, der er lediglich ein menschlicheres Gesicht geben will. Alle drei kritisieren die de-facto Machtübernahme der „Revolutionsgarden“, die den Iran mehr und mehr auf den Weg in eine – äußerst brutale – Militärdiktatur drängen, in der der „Geistliche Führer“ nicht mehr als eine Gallionsfigur sein würde.
Die Tatsache, dass sich die „Grüne Bewegung“ auch durch brutalste Methoden nicht einschüchtern läßt, rüttelt immer mehr an den Grundfesten des Systems, spaltet zunehmend auch das konservative Lager im Establishment und vor allem auch die Geistlichkeit, die sich mehr und mehr vom System distanziert. Eine solche Entwicklung haben weder Karrubi, noch Mussawi und auch nicht Khatami angestrebt. Manches deutet darauf hin, dass in dieser kritischen Situation Khamenei nun hinter den Kulissen versucht, die Führer der Opposition zum Einlenken zu bewegen, zu einem Deal, der das System retten soll. Um noch Schlimmeres zu vermeiden, könnte sich Karrubi sich vielleicht nun zu Verhandlungen bereit finden, zumal er, wie seine Mitstreiter ja fürchten muß, dass sie bald gar keine Rolle mehr zu spielen haben.
Denn in Wahrheit führt weder Mussawi, noch Karrubi diese Bewegung, die in erstaunlichem Maße in den vergangenen Monaten angewachsen ist und sich spontan zu Kundgebungen zusammenfindet, Tausende Menschen, die aus Überdruß mit dem System, aus Zorn und Verzweiflung, aus Trauer um ermordete oder verwundete Angehörige auf den Straßen ihre Freiheit und ihr Leben riskieren. Längst meinen so manche iranische Aktivisten, ein Ausscheiden der drei symbolischen Führer, würde keine nachhaltigen Auswirkungen auf die Eigengesetzlichkeit haben, die diese derzeit weltweit größte Bewegung zivilen Ungehorsams unterdessen erreicht hat. Massenverhaftungen haben in den vergangenen Tagen angehalten, während sich Zehntausende Iraner auf den Tag der Gründung der Republik, den 11. Februar vorbereiten. Werden sie sich durch Karrubis Einschwenken entmutigen lassene?
Erschienen am 26.1.2010 in der "Frankfurter Rundschau"
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von Birgit Cerha
Das Eingeständnis kam überraschend – und doch nicht. In einem Gespräch mit der offiziellen iranischen Nachrichteagentur Fars setzte Mehdi Karrubi einen deutlich neuen Akzent. Auf die Frage, ob er Ahmadinedschad als den legalen und gewählten Präsidenten des Landes anerkenne, antwortete der bei den Wahlen im Juni unterlegene Kandidat erstmals, wiewohl mit äußerst vorsichtig gewählten Worte: Ich würde Ja sagen. Weil der (Höchste) Führer (Ali Khamenei Ahmadinedschads Sieg) anerkannte, glaube ich, dass er der Chef der Regierung ist, das bedeutet, er ist Präsident.“
Bisher hatte Karrubi, gemeinsam mit dem ebenfalls offiziell unterlegenen Kandidaten Mussawi, entschieden die Legalität der Wahlen bestritten, sie seien massiv manipuliert worden und müssten deshalb wiederholt werden. Nach Aussagen seines Sohnes ist Karrubi unverändert „davon überzeugt, dass die Wahlen ungesund gewesen waren und das Ergebnis massiv gefälscht wurde.
Welche Auswirkungen der Rückzug dieses mutigsten der drei symbolischen Führer der inzwischen zu einer Massenströmung angewachsenen oppositionellen „Grünen Bewegung“ nach sich zieht, lässt sich vorerst noch nicht voll abschätzen. Nach Aussagen seines Sohnes war Karrubi, der sich noch weit energischer als Mussawi oder Ex-Präsident Khatami gegen die ungeheuerlichen Brutalitäten, Folterungen, Vergewaltigungen und Morde an friedlichen Demonstranten durch die Sicherheitskräfte engagiert hatte, von seinen Anhängern seit Monaten stark bedrängt worden, seinen Widerstand nicht aufzugeben. Doch der massive Druck des Regimes zeigte nun offensichtlich seine Wirkung. Mehrmals war Karrubi physischen Attacken durch paramilitärische Bassidsch ausgesetzt gewesen. Vor etwa zehn Tagen aber entging er nur ganz knapp einem offensichtlich gezielt geplanten Mordanschlag. Hinzu kamen die verschärften Verbaldrohungen durch radikale Geistliche, die die Führer der „Grünen Bewegung“ als „Mohareb“ klassifizierten, als Personen, die nach schiitischem Glauben im Krieg mit Gott stehen und deshalb mit dem Tode bestraft werden müssten. Justizsprecher schlugen in die selbe Kerbe und forderten, dass solche „Verbrecher“ sogar binnen weniger Tage exekutiert werden müssten.
Allerdings läßt einiges darauf schließen, dass Karrubi nicht nur den persönlichen Mut zum weiteren Widerstand verlor, sondern vielleicht auch durch andere Entwicklungen zu seiner Haltungsänderung motivert wurde. Wie Mussawi und Khatami strebte Karrubi nie eine neue Revolution, keineswegs den Sturz des Regimes an, bekennt sich entschieden zu den Grundsätzen der Islamischen Republik, zur Verfassung, der er lediglich ein menschlicheres Gesicht geben will. Alle drei kritisieren die de-facto Machtübernahme der „Revolutionsgarden“, die den Iran mehr und mehr auf den Weg in eine – äußerst brutale – Militärdiktatur drängen, in der der „Geistliche Führer“ nicht mehr als eine Gallionsfigur sein würde.
Die Tatsache, dass sich die „Grüne Bewegung“ auch durch brutalste Methoden nicht einschüchtern läßt, rüttelt immer mehr an den Grundfesten des Systems, spaltet zunehmend auch das konservative Lager im Establishment und vor allem auch die Geistlichkeit, die sich mehr und mehr vom System distanziert. Eine solche Entwicklung haben weder Karrubi, noch Mussawi und auch nicht Khatami angestrebt. Manches deutet darauf hin, dass in dieser kritischen Situation Khamenei nun hinter den Kulissen versucht, die Führer der Opposition zum Einlenken zu bewegen, zu einem Deal, der das System retten soll. Um noch Schlimmeres zu vermeiden, könnte sich Karrubi sich vielleicht nun zu Verhandlungen bereit finden, zumal er, wie seine Mitstreiter ja fürchten muß, dass sie bald gar keine Rolle mehr zu spielen haben.
Denn in Wahrheit führt weder Mussawi, noch Karrubi diese Bewegung, die in erstaunlichem Maße in den vergangenen Monaten angewachsen ist und sich spontan zu Kundgebungen zusammenfindet, Tausende Menschen, die aus Überdruß mit dem System, aus Zorn und Verzweiflung, aus Trauer um ermordete oder verwundete Angehörige auf den Straßen ihre Freiheit und ihr Leben riskieren. Längst meinen so manche iranische Aktivisten, ein Ausscheiden der drei symbolischen Führer, würde keine nachhaltigen Auswirkungen auf die Eigengesetzlichkeit haben, die diese derzeit weltweit größte Bewegung zivilen Ungehorsams unterdessen erreicht hat. Massenverhaftungen haben in den vergangenen Tagen angehalten, während sich Zehntausende Iraner auf den Tag der Gründung der Republik, den 11. Februar vorbereiten. Werden sie sich durch Karrubis Einschwenken entmutigen lassene?
Erschienen am 26.1.2010 in der "Frankfurter Rundschau"
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Freitag, 22. Januar 2010
PETER WALD: Alles in der Schwebe - Bericht über eine Reise nach Israel/Palästina Weihnachten 2009
von Peter Wald
15. bis 18. Dez. Jerusalem:
Wer einen Besuch im besetzten Westjordanland plant, der möge in Jerusalem eine längere Rast einlegen, zwei, drei Tage/Nächte mit Quartier im Ostteil der Stadt bleiben. Nicht nur wohnt er dicht vor oder gar in der Altstadt preiswerter als im feineren Westen Jerusalems. Er (oder sie) erlebt auch die arabische Atmosphäre, die einen auf Bethlehem, stärker auf Jericho, Ramallah oder Nablus einstimmt.
Und noch etwas: Man hat es nicht weit zum Educational Bookshop in der Salah Ad-Din Straße, wo es Dutzende von alten, neuen und neuesten Titeln zum Palästina-Konflikt gibt. Ebenso finden politisch Wissbegierige, so sie nicht Arabisch lesen können, dort die für sie unentbehrlichen englischsprachigen Tageszeitungen: The Jerusalem Post, die International Herald Tribune mit der Beilage von Ha’aretz, die englische Wochenendausgabe der ägyptischen Zeitung Al Ahram. Die „Post“ vertritt in den Kommentaren meistens die Ansichten des Establishments und steht der Regierung nahe, sogar der scharf rechts orientierten jetzigen Regierung Benjamin Netanyahus. Ha’aretz, linksliberal, bietet den kritischen und selbstkritischen Stimmen Israels Raum, zum Beispiel den meistens überaus kritischen Kommentaren Gideon Levys. Beiträge von Akiva Eldar, dem Ko-Autor des auch in Deutschland veröffentlichten Buchs über die israelische Siedlerbewegung in Ost-Jerusalem und dem Westjordanland seit 1967, sind ebenfalls zu finden. (Idith Zertal/Akiva Eldar: Die Herren des Landes, München 2007, ISBN 978-3-421-04268-2)
Die gründliche Lektüre der Jerusalem Post und der Ha’aretz vermittelt auch dem wieder zugereisten Nahost-Kenner neue Informationen und Erkenntnisse. Zum Beispiel wusste ich noch nicht, dass den engsten Angehörigen von palästinensischen Gefangenen aus dem Gaza-Streifen in Israel ein Recht vorenthalten wird, das meiner Mutter bis tief in die Zeit des Zweiten Weltkrieges hinein zugestanden worden war: Ihren Ehemann, meinen Vater, im Zuchthaus, wo er als politischer Gefangener einsaß, erst zweimal, dann nur noch einmal je Jahr (ab 1943) zu besuchen. Ehefrauen, Mütter, Schwestern u. Brüder im Gaza-Streifen dürfen überhaupt nicht zu ihren Gefangenen in Israel, nicht etwa, weil die machthabende islamische Hamas sie nicht ausreisen lässt, sondern weil zuletzt auch der oberste israelische Gerichtshof ihnen dieses Menschenrecht „aus Sicherheistgründen“ verweigert hat.
Von Ha’aretz erfährt man zu diesem Zeitpunkt, dass die Vertreibung palästinensisch-israelischer Familien aus Häusern eines früher jüdischen Wohngebiets des Stadtteils Scheich Jarrah fortgesetzt wird. Allerdings waren die Häuser der Neu-Vertriebenen bis zur israelischen Staatsgründung 1948 in jüdischem Besitz gewesen und die jüdischen Eigentümer waren damals in das neue Israel geflohen oder vielleicht auch vertrieben worden. Erst 1967, nach der Eroberung Ost-Jerusalems durch Israel, waren jene Häuser wieder für Juden zugänglich. Da ist es doch eigentlich verständlich, wenn die ehemaligen jüdischen Besitzer oder die Erben ihr Eigentum zurück verlangen, geht einem durch den Kopf. Doch Ha’aretz weiß es besser: „Die palästinensischen Familien haben auf den Grundstücken seit 1948 gelebt. Sie wurden nicht entfernt (removed), um den Nachkommen der früheren Besitzer, sondern um Siedlern einer extremistischen Organisation Platz zu machen, die daran arbeitet, Jerusalem – ganz Jerusalem – mit Juden zu bevölkern.“ Auch dazu geht dem Nahost-Kenner etwas durch den Kopf. Natürlich müssen Juden überall in Jerusalem leben können, doch ebenso arabische Israelis und ausgebürgerte und nur „geduldete“ Palästinenser. Und wäre es nicht an der Zeit, aus einem Lastenausgleich-Fonds den aus Scheich Jarrah vertriebenen palästinensischen Familien neue Wohnstätten zu finanzieren? Schließlich leben in Jerusalem hunderte von jüdischen Familien in Häusern, die bis 1948 oder 1967 Palästinensern gehört haben.
Die meisten der rund 500.000 israelischen Siedler im Großraum Jerusalem und im Westjordanland hätten aus wirtschaftlichen, nicht aus ideologischen Gründen Wohnung im besetzten Gebiet genommen, so hört man immer wieder. Das mag ja sein. Die Wohnhäuser, vorzugsweise festungsartig auf den einst grünen Hügeln Palästinas zusammengeballt, sind hoch subventioniert und kosten viel weniger als vergleichbarer Wohnraum in Kern-Israel. Die extra für sie gebauten „Sicherheitsstraßen“, auch Siedlerstraßen genannt, bringen die Ernährer der Familien in vielleicht 30 Minuten (Jerusalem) bis 90 Minuten (Tel Aviv, Jaffa usw.) an ihre Arbeitsplätze. Unter solchen Umständen kann man es auch ertragen, wenn die ideologisch motivierten Siedler, eine kleine Minderheit, immer lauter für die ganze Masse reden. Die Fundamentalisten der israelischen Siedlerbewegung sind zu vielem fähig. Im Umfeld der Siedlung Ofra (Efra) haben einige von ihnen Kampfhunde gegen palästinensische Bauern in Stellung gebracht, um diese daran zu hindern, ihre eigenen Felder zu bestellen. Die Siedler möchten sich noch mehr Land der palästinensischen Bauern aneignen. Auch das lässt sich der israelischen Presse entnehmen.
Israelische Siedlung Har Homa bei Bethlehem. Wird weiter ausgebaut, obwohl schon ein großer Leerstand besteht.
19. Dez. Jericho/Bethlehem:
Ehe man das Tagesziel Bethlehem erreicht, bietet sich die Gelegenheit, eine Einladung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes nach Jericho zu einem Jahresabschluss-Treffen der von ihm betreuten palästinensischen Akademiker wahrzunehmen. Wiedersehen mit Jericho. Zuletzt waren wir 1994 hier, also nicht lange nach dem Abschluss der Verträge von Oslo, die den Friedensprozess zwischen Israelis und Palästinensern einleiten und zügig zum Friedensschluss führen sollten. 16 Jahre sind seither vergangen – und der Frieden ist immer noch nicht in Sicht. 1994 war Ramallah die Hauptstadt des neugeschaffenen Autonomiegebietes. Diesen Rang musste die „36 km nordöstlich von Jerusalem auf 250 m unterhalb des Meeresspiegels gelegene Stadt“ (so ein Reiseführer) inzwischen an Ramallah abgeben. Jericho bleibt aber der Ruhm, der „tiefste bewohnte Ort auf der Welt“ (derselbe Reiseführer) zu sein, ein warmer Winterkurort, in dem auch schon so mancher reiche Golfaraber in Immobilien investiert hat, jedoch jetzt innehält, weil der künftige Status wieder völlig ungeklärt ist.
Sehr eindrucksvoll das Akademiker-Treffen in einem Gartenlokal. Aus allen Universitäten des besetzten Gebietes sind an diesem Freitag Professoren und Dozenten gekommen, darunter Naturwissenschaftler, die sich nach Meinung unserer Gastgeberin zur Spitzenklasse im Weltmaßstab rechnen dürfen. Auch Frauen sind eingeladen. Manche tragen Kopftuch, andere nicht; manche sind die Ehefrauen der eingeladenen Akademiker, manche sind selber Professora. Für einige Stunden sind die Schwierigkeiten eines Lebens unter Besatzungsregime, und das schon über 42 Jahre lang, wenn auch nicht vergessen, so doch in den Hintergrund gedrängt.
20. bis 22. Dez. Bethlehem/Beit Sahour:
Wieder in das Hotel Paradise eingerückt, wie schon zu Weihnachten 2006. Ein Mittelklassen-Hotel mit viel Platz, moderaten Preisen und freundlichem Personal. Nicht nur aus Gewohnheit haben wir dieses Hotel erneut gewählt, sondern weil es von dort nur rund 600 Meter bis zu einem Abschnitt der israelischen Sperrmauer in Richtung Jerusalem sind. In dem Abschnitt hatten wir vor drei Jahren einige Fotos für unsere Ausstellungen „Bilder und Texte an Mauern“ aufgenommen. Jetzt wollten wir sehen: „Was gibt es Neues?“ Es gab Neues, doch nicht nur Gutes. Einige der bemerkenswerten Graffiti - Bilder oder Sprüche - sind schon verunstaltet, beschmiert von Touristen mit ihren Namenszügen oder Liebeserklärungen an eine Jenny oder einen Amir. Auch Präsident John F. Kennedys im Angesicht der Berliner Mauer ausgerufenes Bekenntnis „Ich bin ein Berliner“, das seit 2008 auf der israelischen Sperrmauer zu lesen ist, hat eine Verunstaltung erlitten. Die besten Sprayer kamen in den ersten Jahren des acht Meter hohen Betonmonsters.
Sehr bald Kontakt mit Raouf Azar, dem stark beschäftigten Chefarzt, Direktor und nun auch persönlichen Freund, der seit einigen Jahren das Medizinische Zentrum in Beit Sahour leitet. Obschon er Anfang 2009 den ihm aufgenötigten Posten in der Zentrale des genossenschaftlichen Gesundheitswesens abschütteln konnte, muss der Doktor doch jeden Mittwoch-Nachmittag nach Ramallah zum Rat der Klinikleiter. Neben dem Betrieb der Ambulanz, in der er auch als Urologe praktiziert, überwacht Raouf Azar noch die Fertigstellung des Krankenhaus-Neubaus. Stark beansprucht wie er ist, kommt er an seinem freien Sonnabend – Freitag und Sonnabend machen in Israel und in Rest-Palästina das Wochenende aus – nach Beit Sahour, um uns den Neubau zu zeigen und zu erläutern. Neun Jahre lang wurde gebaut, eine sehr lange Zeit für ein nur dreistöckiges Haus, auch wenn es eine palästinensisch-tradionelle Natursteinfassade besitzt. Waren die Arbeiter so faul? Gab es Engpässe beim Baumaterial? Was behinderte das Vorhaben?
Ein Wunder, dass seit 2001 überhaupt gebaut wurde, wo man doch damals fast kein Eigenkapital hatte. Noch hinderlicher: Die zweite Intifada, die diesmal auch auf palästinensischer Seite nicht mehr gewaltfreie Auflehnung gegen das Besatzungsregime, war gerade richtig ingang gekommen. Sie führte zum Ausnahmezustand mit tage- oft wochenlangen Ausgangssperren, brutalen Razzien des israelischen Militärs nach Selbstmordanschlägen, dem Ausschluss zehntausender palästinensischer Arbeitskräfte aus dem Wirtschaftsleben Israels und dem Anstieg innerer Konflikte auf palästinensischer Seite, schließlich zum Beginn des Baus einer israelischen Sperranlage. Ein Wunder, dass es unter solchen Umständen überhaupt zur Grundsteinlegung für ein Krankenhaus neben der seit 1988 bestehenden Ambulanz gekommen ist. Für das Großprojekt mussten dann ausländische Förderer gefunden werden. Weil Fördermittel vorwiegend in einzelnen Margen bewilligt werden, wurde das Vorhaben in kleine Abschnitte zerlegt. In den Jahren 2001 bis 2003 entstanden das Keller- und das Erdgeschoss. 2006 wurde der erste Stock im Rohbau fertig, 2008 der zweite Stock. Jetzt konnten wir die drei auch innnen ausgebauten Etagen mit zwei Operationssälen besichtigen, konnten im bettenbreiten Aufzug hinauffahren und auch die Patientenzimmer inspizieren. Laut Raouf Azar ist es sozusagen nur noch eine Meile bis zur vollen Inbetriebnahme des Neubaus. Es fehlt noch ein ca. 10 m langes Verbindungskabel zwischen dem Neubau und einem Transformator, der dem Krankenhaus – das auch mit unseren und anderer privater Vereine Spenden finanziert wurde – die unerlässliche Hochspannungs-Elektrizität zu bringen.
23. Dez. Hebron:
Raouf Azar hat die Teilnahme an den Beratungen im Gesundheitswesen an diesem Mittwoch in Ramallah abgesagt, um die Besucher aus Deutschland nach Hebron fahren zu können. Je näher man der nach Ost-Jerusalem größten Stadt des Westjordanlands (160 000 Einwohner) kommt, desto urbaner aber auch „freundlicher“ wird die Landschaft. Hebron ist von zahlreichen kleinen Ortschaften umgeben, zwischen denen es mehr Obst- und Weingärten als Ackerland gibt. Die Gärten sind sehr gepflegt. Nähe zum Toten Meer macht sich klimatisch bemerkbar. An mehreren Straßen- und Wege-Kreuzungen stehen allerdings 10 bis 20 Meter hohe Wachtürme der israelischen Streitkräfte. Sie „bewachen“ die Zufahrten nach Kiryat Arba, eine der ältesten israelischen Siedlungen im besetzten Westjordanland. Die Siedlung entstand ab 1970. Moshe Dayan, damals der im Sechstage-Krieg von 1967 siegreiche Verteidigungsminister Israels, hatte nur wenige Tage nach der Besetzung des Westjordanlandes ihren Bau angeordnet. Heute wären die Wachtürme eigentlich nicht mehr erforderlich. Kiryat Arba, Hochburg religiös motivierter Siedler, ist längst von der bekannten acht Meter hohen Betonmauer umgeben.
Für Palästinenser versperrte Gasse mit einem von jüdischen Siedlern besetzes Haus in Hebron.
Einfahrt nach Hebron. Man ist überrascht: Eine arabische Großstadt wie viele andere, quirlig, die Straßen von Menschen und Autos überlastet, ambulante Händler überall. Raouf findet schließlich doch einen Parkplatz und weiter zu Fuß. Je näher man dem Suq, dem Markt kommt, desto voller wird es. Nur wer sich mit den Trachten arabischer Landbevölkerung auskennt, kann jetzt noch unterscheiden, ob dies etwa der Suq von Damaskus, Amman oder Bethlehem ist. Ein gleichartiges Warenangebot überall. Allerdings führt der Gang durch den Kleidermarkt schnurgerade zu dem Altstadt-Kern, der zu einem Brennpunkt Hebrons wurde. Hier also beginnt am Rande der Marktstraße die Häuserzeile, in deren oberen Etagen jüdische Siedler leben und unten der arabische Suq brodelt. Lange war dies ein virulenter Konfliktherd. Die Siedler hatten insofern die Oberhand, als bewaffnete israelische Soldaten den Zugang zu ihren Häusern sicherten, während man von oben den palästinensischen Feind mit Wurfgeschossen und Unrat bewerfen konnte. Schließlich erwirkte die palästinensische Stadtverwaltung von der Besatzungsmacht eine Genehmigung, Drahtnetze über der umstrittenen Straße aufspannen zu dürfen. Jetzt lagern auf den Drähten unwirksam gewordene Wurfgeschosse wie Kleiderbügel, ein halber Stuhl, ausgelatschte Schuhe, ein Handwaschbecken, leere Flaschen, zerbrochene Krüge. Nur vor flüssigen Abwehrstoffen der Siedler ist man auf der Marktstraße nicht geschützt. Aber zur Zeit soll Waffenruhe herrschen. Die rund 500 israelischen Siedler in Hebron werden von bis zu 4000 israelischen Soldaten geschützt. Hoffentlich treten die Soldaten auch den Siedlern entgegen, wenn sie, was häufig genug vorkommt, Palästinenser bedrohen.
Zum Schutz der palästinensischen Marktbesucher vor Wurfgeschossen der Siedler mussten Netze gespannt werden
Juden müssen auch in Hebron leben dürfen, sagt sich der Besucher, zumal sie hier früher sehr präsent waren. Juden wie Muslime verehren gemeinsam eine Höhle (seit Jahrhunderten mit einer Moschee überbaut), die der Legende nach dem alttestamentarischen Propheten Abraham (für die Juden) oder Ibrahim (für die Muslime) als Grabstätte für seine Frau Sahra gedient hat. Die Verehrung verlief friedlich bis 1929, als im Zeichen einer stark vermehrten jüdischen Einwanderung eine Serie von Aufständen der palästinensischen Bevölkerung gegen die britische Mandatsmacht losbrach. In Hebron führte das zu Auseinandersetzungen zwischen Juden und Muslimen. Nachdem in einem grässlichen Massaker 67 Juden ermordet worden waren, evakuierte die Protektoratsmacht die restliche jüdische Bevölkerung aus Hebron. Genau 50 Jahre nach dem Hebron-Massaker setzten sich Siedler aus Kiryat Arba wieder in der Altstadt von Hebron fest und gelangten dort schnell unter den Schutz des Militärs, sodass ihre Stadt-Siedlung wachsen konnte. Abermals 15 Jahre später, am 25. Februar 1994, ereigneten sich weitere Massaker: Der israelische Siedler Baruch Goldstein drang während des Morgengebets in die Haram al-Ibrahimi-Moschee ein, eröffnete aus einer Maschinenpistole das Feuer auf die Betenden, tötete 29 und verwundete fast 200 von ihnen, ehe er selbst getötet wurde. Als es darauf nahe dem Hebron Krankenhaus, wo die Verwundeten eingeliefert worden waren, zu Unruhen kam, erschoss das israelische Militär 12 Palästinenser. Welche selbsttragende Lösung für ein friedliches Miteinander in Hebron wird es nach soviel Blutvergießen im Fall der Unabhängigkeit Klein-Palästinas geben?
24. Dez. Bethlehem/Jerusalem:
Der Vormittag des 24.12. gehört in Bethlehem immer den christlichen Pfadfindern. Etwa acht Stunden ehe für die katholischen und evangelischen Christen sowie für die ihnen assoziierten orientalischen Gemeinden (es gibt z.B. griechisch-katholische und armenisch-katholische) der Heiligabend beginnt, kommen die weiblichen und männlichen Pfadfinder in ihren bunten Uniformen zu Demonstrationen auf die Straßen. Natürlich säumen viele Angehörige der marschierenden Mädchen und Jungen die Straßenränder, um ihre Lieblinge beim Vorbeimarsch zu fotografieren. Schnell sind die meist engen Gassen Alt-Bethlehems von scheinbar endlosen Marschkolonnen verstopft. Dazu gibt es einen hohen Geräuschpegel, denn marschiert wird nach den Takten von Trommeln, Pauken und Becken; dazu gibt es auch immer wieder Musik von Dudelsäcken, Pfeifen, Saxophonen und Trompeten. So hatten wir es Weihnachten 2006 hier schon einmal erlebt. Damals konnten einem die jungen Leute in ihrer leichten Bekleidung fast leid tun, denn es war kalt und nass. Weihnachten 2009 bahnte sich mit viel Sonne und für die Jahreszeit zu hohen Temperaturen an. Diesmal schwitzen statt frieren.
Nicht nur das Wetter regte zum Vergleich zwischen den Demonstrationen 2006 und 2009 an. Vor drei Jahren führte jeder Zug mindestens ein arabisch und englisch beschriebenes Transparent mit. „Gefangene im eigenen Land“ und „Schluss mit der Besatzung!“ und „Es lebe ein unabhängiges Palästina!“, lauteten die Parolen. Am 24.12.2009 gab es überhaupt keine Transparente, keine vorab publizierten Parolen. Am Abend, bei einem wunderbaren Weihnachtsessen mit Freunden in Ost-Jerusalem, kommt das zur Sprache. Die überaus kenntnisreiche Freundin H. merkt an , dass die Spitze der Autonomiebehörde die Parole ausgegeben habe, „keine Parolen“. Mahmud Abbas und Salem Fayat wollten sich jetzt, da der sogenannte Friedensprozess in einer Sackgasse stecke, da alles in der Schwebe sei, die absolute Meinungsführerschaft vorbehalten.
25. Dez. Bethlehem:
Am ersten Weihnachtstag erwacht die Geburtsstadt Jesu spät. Wieviele der einheimischen Christen waren gestern wohl zur Mitternachtsmesse in der Geburtskirche oder mindestens auf dem Platz vor ihrem Haupteingang? Das ist unmöglich zu erraten oder gar zu ermitteln. Aber annehmen darf man schon, dass die wenigsten Menschen in der dichtgedrängten Masse in und vor dem Gotteshaus Bethlehemer Christen waren, denn man gelangt zur Mitternachtsmesse nur mit zuvor bezogenen Eintrittskarten. Diese aber sind wochenlang vorher zu fast 100 Prozent in den Händen von Reiseveranstaltern, die damit ihre Weihnachts-Pilgerer und Pilgerinnen bedienen.
Der 25. Dezember ist diesmal ein Freitag, also der Wochenendfeiertag der muslimischen Einwohnerschaft. Auch das mag die lange Morgenruhe in der Stadt erklären. Laut und unruhig wird es erst gegen 12 Uhr mittags. Ein halbes Dutzend Polizei-Mannschaftswagen mit schwarz-uniformierten, schwer bewaffneten Polizisten sammelt sich am Busbahnhof. Es sind palästinensische Bewaffnete, Angehörige einer der Brigaden, die - mit Wissen und Billigung der israelischen Regierung - im benachbarten Jordanien von amerikanischen Ausbildern trainiert werden. Ach ja, 12 Uhr mittags an einem Freitag! Gleich ist das Mittagsgebet zu Ende und die nahegelegene Moschee wird sich entleeren. Das ist immer eine spannungsgeladene Situation. Wie und was hat der Imam in der Moschee gepredigt? Hat er die Gemüter der Gläubigen aufgewühlt, hat er gar zum Widerstand oder Kampf gegen „ungerechte Herrscher“, auch die eigenen, aufgerufen? In gehöriger Entfernung haben sich die Polizisten in Bereitschaft gestellt. Falls notwenig, könnten sie schnell eine erregte Menge einkesseln. Doch das ist hier jetzt nicht nötig. Friedlich verlassen die Muslime ihre Moschee, steigen in ihre abenteuerlich geparkten Autos, verursachen ein Verkehrschaos. Nach 20 Minuten ist jedoch alles vorbei und sind auch die Bereitschaftspolizisten abgefahren.
26. Dez. Bethlehem:
Zweiter Weihnachtstag? Ist dieser zweite Feiertag nicht überhaupt eine deutsche Erfindung, während man anderswo in Europa am 26. wieder dem Tagewerk nachgeht? Aber sowieso ist ja Samstag, Feiertag der jüdischen und folglich auch der palästinensischen Israelis. Während einige der internationalen Pilger-Gruppen schon ebgereist sind, treffen zahlreiche palästinensisch-christliche Familien aus Kern-Israel in Bethlehem ein. Ihnen ist die Ausreise in das besetzte Westjordanland erst an diesem Tag gestattet worden. Sie unterziehen sich den mühseligen Kontrollen der Aus- und später – noch mühseligerer – der Wiedereinreise schon deswegen, weil sie Angehörige, die „Gefangene im eigenen Land“ sind, hier wiedersehen können. Dazu gibt es nur zweimal im Jahr Gelegenheit, eben zu Weihnachten und zu Ostern.
Uns ist an diesem 26.12. der Termin für einen Besuch in Nablus und Jenin geplatzt. Was also tun mit dem angebrochenen Tag? Auf die Schnelle lässt sich ein Besuch im größten Flüchtlingslager der Region, im Lager Deheische am Rande von Bethlehem, organisieren. Man verweist uns an IBDAA, „eine Selbsthilfe-Organisation, die erzieherische und soziale Programme für Kinder, Jugendliche und Frauen des Flüchtlingslagers Deheische entwickelt und ausführt“, so erklärt ein Faltblatt. Wem bei dem Wort „Flüchtlingslager“ die Vorstellung von langen Reihen von Zelten oder dürftigen Baracken erscheint, der irrt. Die Zelte verschwanden Mitte der fünfziger Jahre, denn die hier lebenden Flüchtlinge waren bis zur Staatsgründung Israels 1948 zum größten Teil in den Dörfern nahe größeren Städten wie Jerusalem, Hebron, Jaffa und andere zuhause. Von dort wurden sie vor nunmehr 62 Jahren vertrieben oder flohen aus Angst vor den Folgen der Kämpfe zwischen jüdischen und arabischen Freischärlern. Zunächst unter jordanische Herrschaft geraten, war an eine Rückkehr in die Heimatdörfer nicht zu denken. Also begann man in Deheische Container zu beziehen, kleine Hütten zu bauen, ersetzte diese nach und nach durch festere Steinhäuser.
Ein herbeigerufener junger Mann, 19 Jahre alt, Abiturient mit guten Englischkenntnissen, führt uns durch das „Lager“.
Es ist in Wirklichkeit ein Vorstadt-Viertel, eine Mischung von Slums und Armenquartier. Unser Führer erklärt, dass hier auf knapp einem qkm über 11.000 Menschen leben, davon etwa die Hälfte noch Kinder. Zum Lebensunterhalt tragen die Rationen der UNRWA (United Nationen Work and Relief Agency) bei, doch kann man von ihnen allein nicht leben. Früher fuhren die Familienväter täglich zum nahegelegen Jerusalem, um als Gelegenheitsarbeiter, manche sogar als Dauerbeschäftigte, Geld zu verdienen. Das geht nach den Selbstmordanschlägen in Israel in der ersten Hälfte dieser abgelaufenen Dekade nicht mehr. Wohl der Familie, die einen oder mehrere im Ausland tätige Angehörige hat und Geld zugeschickt bekommt. Weniger glückliche Familienväter müssen sich im Westjordanland zum Beispiel als Taxifahrer, als Gelegenheitsarbeiter, Straßenfeger, als Verkäufer durchschlagen. Wie war wohl den Palästinensern zumute, denen wir 2006 zusahen, wie sie unter strenger israelischer Militäraufsicht noch zusätzlich Stacheldraht-Verhaue auf der acht Meter hohen Sperrmauer montierten?
Ein Wunschtraum der Frustrierten; palästinensisches Mädchen visitiert einen israelischen Soldaten. Wandbild im Lager Deheische.
27. bis 29. Dez. Jerusalem/Ramallah/Jaffa:
Heute wollen wir wieder in Jerusalem Quartier beziehen, um nicht etwa durch unvorhergesehene Ereignisse im Westjordanland hängen zu bleiben und den Rückflug am 29. zu versäumen. Freundin H., die dank ihrer Jerusalemer Autonummer und ihres Ausweises fast immer nach Blickkontakt mit den diensttuenden Soldaten durch die israelischen Kontrollstellen fahren kann, holt uns in Bethlehem ab. Das ist wunderbar bequem, eine große Erleichterung, da wir reichlich Gepäck dabei haben. Und doch meldet sich wieder dieses schlechte Gewissen: Man ist jetzt überaus privilegiert. Dass Freundin H. diese Vorzugsstellung besitzt, ist schon in Ordnung, sie hat fast täglich auf beiden Seiten, auf der israelischen wie auf der palästinensischen, zu tun. Aber für Millionen von Palästinensern, mit denen wir uns solidarisch fühlen, bringt die Sperrmauer eine dramatische Einschränkung ihrer Lebensqualität. Außerdem trägt sie neben den israelischen Siedlungen samt ihren Sonderstraßen dazu bei, das Westjordanland zu zerstückeln und damit als Grundlage für einen selbständigen palästinensischen Kleinstaat untauglich zu machen.
Trotz des schlechten Gewissens freuen wir uns, dass Freundin H. uns noch Ramallah zeigen will, ehe sie uns in Ost-Jerusalem zum Hotel bringen wird. Bethlehem liegt südlich, Ramallah nördlich von Jerusalem. Als Gäste von Freundin H. durchqueren wir einfach das Gebiet von Groß-Jerusalem, das Israel bald nach dem Sechstagekrieg von 1967 unter Missachtung des Völkerrechts geschaffen hat, indem es erobertes Land annektierte. So gelangen wir, auch immer wieder an Teilstücken der Mauer entlang, trotz eines Autostaus in knapp einer Stunde nach Ramallah. Ein Palästinenser, der mit dem Auto von Bethlehem nach Ramallah fahren will, muss einen mindestens doppelt solangen Weg nehmen. „Gefangene im eigenen Land“.
Grabmal des verstorbenen Palästinenserführers Jassir Arafat in der Mukatta zu Ramallah.
Wie stark ist doch dieses Ramallah in den letzten Jahren gewachsen! Zusammen mit dem früher eigenständigen Nachbarort al-Bireh hat es fast die 100.000 Einwohner erreicht. Die vielen Hügel der Stadt sind endlich einmal nicht von israelischen Siedlungen besetzt, sondern von Neubauten palästinensischer Eigentümer, wobei die architektonische Gestaltung nicht in jedem Fall den besseren Eindruck macht als die der Siedlungen. Man spürt, dass Ramallah seit 1995 Sitz der Autonomiebehörde der Palästinenser ist, das Zentrum der von Israel entliehenen Macht. Da die Behörde gleich die Fiktion einer eigenstaatlichen Struktur bieten wollte, ließ sie Ministerien bilden und baute diesen auch Bürohäuser. Die Vertreter ausländischer Mächte ließen sich in Ramallah nieder, ebenso internationale Hilfsorganisationen und zahlreiche NGO’s (Non Governemental Organisations). So floss natürlich viel Geld nach Ramallah, besonders als noch die Illusion herrschte, dass bald nach der Unterzeichnung neuer Abkommen (Oslo II) zwischen dem damaligen israelischen Ministerpräsidenten Yizak Rabin und dem PLO-Chef Jassir Arafat die palästinensische Eigenstaatlichkeit kommen würde. Doch Rabin wurde rund fünf Wochen nach der Unterzeichnung (am 4. Nov. 1995) von einem Anhänger der israelischen Siedlerbewegung ermordet und der sogenannte Friedensprozess wurde immer langsamer, bis er schließlich ganz stecken blieb.
Im März/April 2002 kam sogar der israelisch-palästinensische Krieg wieder nach Ramallah zurück. Damals war Ariel Scharon israelischer Ministerpräsident. Dieser Haudegen glaubte, er könne die auf dem Höhepunkt befindliche zweite Intifada dadurch beenden, dass er Arafat töten oder mindestens wieder in ein Exil abschieben lässt. Scharon ließ Arafat monatelang in der Mukatta, einem Kasernenkomplex in Ramallah aus der britischen Militärzeit, belagern. Kein Zweifel, dass die Israelis den Amtssitz Arafats hätten stürmen können, denn seine Leibwächter hätten sich mit leichten Waffen gegen Panzer, Geschütze und Kampfhubschrauber verteidigen müssen. Scharon hätte auch die Mukatta so zusammenschießen lassen können, dass Arafat schließlich tot unter den Trümmern des Hauptquartiers gelegen hätte. Aber so ganz sicher war man auf israelischer Seite nicht, wie der amerikanische Partner diese offenkundige Mordtat aufnehmen würde. So zerstörte man den größten Teil der Mukatta und ließ den im Inneren versteckten PLO-Chef, mit dem Yitzak Rabin 1995 einen Friedensschluss vorverabredet hatte, auf engstem Raum leben. Im Herbst 2004 erkrankte Arafat ernstlich, wurde mit israelischer Genehmigung nach Paris ausgeflogen und starb dort am 11. Nov. 2004.
Am nächsten Morgen in Jerusalem warten auf Freundin H., denn wir wollen den letzten vollen Aufenthaltstag für einen Besuch in Nablus und Jenin nutzen. Doch die Verabredung platzt. Gestern, etwa als wir uns im zur Zeit friedlichen Ramallah aufhielten, wurden in Nablus drei Palästinenser von israelischen Soldaten erschossen. Die offizielle Verlautbarung liest sich wie folgt: „A force of undercover Israel Defense Forces troops in Nablus killed three Fatah terrorists who had murdered a settler two days before.“ (Eine Spezialeinheit der Israelischen Verteidigungs Streitkräfte in Nablus hat gestern drei Terroristen der Fatah getötet, die zwei Tage zuvor einen Siedler ermordet hatten.) In derselben Pressemeldung heißt es weiter, die drei Palästinenser seien verdächtig (!), den Rabbi Meir Hai aus der Siedlung Shavei Shomron ermordet zu haben. Die getöteten Palästinenser seien keine jungen Männer, sondern gestandene Familienväter gewesen. Wieder wörtlich. „Therefore, if Israel’s suspicions (!) are correct, this aspect of the attack would be unusual.“ (Sollten sich Israels Verdächte (!) bewahrheiten, wäre das ein ungewöhnlicher Faktor.“) Wie ist das Ganze zu verstehen? Doch wohl so, dass die drei getöteten Palästinenser des Mordes an Rabbi Meir Hai verdächtigt aber noch keineswegs überführt waren. Sie wurden also auf den Verdacht (!) hin von einer israelischen Spezialeinheit erschossen.
Am 28. Dez. findet in Nablus die Beisetzung der drei erschossenen Palästinenser statt. Deswegen muss man mit einer Art Ausnahmezustand in der Stadt rechnen. Überhaupt rät die erfahrene Freundin H. von einer Fahrt in den Norden des Westjordanlandes unter solchen Umständen ab. So entfällt auch Jenin, auf das Edith sich besonders gefreut hat. Doch es gibt einen Trostpreis. Am späten Nachmittag soll in Jaffa eine Demonstration unter dem Motto „befreit Gaza!“ stattfinden. Daran kann man teilnehmen und sich vorher noch den historischen Teil der alten arabischen Hafenstadt anschauen. Ein Teil der dichtbesiedelten Altstadt hatte allerdings 1936 die britische Protektoratsverwaltung abreißen lassen, weil sie in ihm ein Zentrum des arabischen Widerstandes gegen die zionistische Einwanderung erkannt hatte. In den letzten zwanzig Jahren wurde viele Häuser der restlichen Altstadt restauriert oder renoviert und zu Galerien, Ateliers, Geschäften und Luxuswohnungen umgewandelt.
Wir haben wenig Zeit für den touristischen Teil unseres Besuchs, müssen den Ausgangspunkt der angekündigten Demonstration suchen. Es dämmert schon als wir den von viel Polizei umgebenen Sammelplatz erreicht haben, und es ist dunkel, ehe ein Zug von 300 bis 400 Menschen in Bewegung kommt. Die Teilnehmer sind anscheinend überwiegend israelische Palästinenser, aber auch einige jüdische Israelis sind dabei. So begegnen wir Adam Keller, dem Sprecher der Organisation Gush Shalom (Frieden jetzt). Ein wunderbarer Mensch. Kein junger Mann mehr, scheint er doch unermüdlich zu sein in dem Bemühen, die israelische Friedensbewegung nicht untergehen zu lassen. Zusammen mit Uri Avnery, dem ehemaligen Helmut Ostermann aus Beckum und Hannover, (und zusammen mit einigen zehntausend Juden in Israel, Europa und den USA) verkörpert Keller das andere, das friedenswillige Israel.
Knapp eine Woche vor dem ersten Jahrestag des barbarischen Gazakrieges demonstrieren also 300 bis 400 Menschen (es ist schon dunkel) in Jaffa. Diese Menschen erinnern jetzt daran, dass immer noch rund 1,5 Millionen Palästinenser im Gaza-Streifen wie in einem sehr restriktivem Gefangenenlager eingesperrt sind. 12 Monate nachdem die israelische Luftwaffe dort schwerste Verwüstungen anrichtete und rund 1.400 Palästinenser einen gewaltsamen Tod starben, toleriert es die Weltgemeinschaft, dass Israel keine substanzielle Aufbauhilfe in den seit 1948 immer wieder geschundenen Gaza-Streifen einbringen lässt. Wie lange noch? Unglaublich! Dass wir unbehelligt zusammen mit den Einheimischen demonstrieren können, erleichtert uns etwas die Bürde der Erinnerung an das damals noch intakte Gaza. Edith und ich hatten es erstmalig gemeinsam 1993 besucht und dort gute Freunde gefunden.
29. Dez.:
Heimreise Tel Aviv – Köln ohne besondere Vorkommnisse.
Nachschrift:
In den ersten Tagen des neues Jahres bemühten sich 1400 Friedensaktivisten aus aller Welt, die israelische Blockade des Gazastreifens zu durchbrechen. Sie nahmen große Strapazen, Gefahren und Zusammenstöße mit der ägyptischen Polizei inkauf und erzielten schließlich einen Teilerfolg. Wenigstens ihr Hilfskonvoi konnte in den Gazastreifen einfahren und wertvolle Hilfsgüter einbringen. Hochachtung den Friedensaktivisten! Allerdings löst der Teilerfolg nicht das Problem. Jeden Tag müssten große Mengen an Hilfsgütern und Aufbaumaterialien von Israel und Ägypten aus in den Gazastreifen geliefert werden, um die Menschen dort wieder mit mehr als dem Überlebensminimum auszustatten. Israel hält jedoch die Blockade aufrecht. Ägypten ist gerade dabei, bei Rafah Stahlschilde in die Erde einzurammen, die den Palästinensern den Bau unterirdischer Schmuggeltunnels unmöglich machen sollen. Anscheinend handelt es sich um eine Absprache zwischen Kairo und Tel Aviv, den Menschen im Gaza-Streifen solange das Leben zu erschweren, bis sie die im Westen verhasste islamische Hamas-Regierung stürzen. Ein zynisches Spiel, das so nicht zum Erfolg führen wird.
Ebensowenig ist Erfolg für den neuesten amerikanischen Ansatz zu erwarten, wieder Friedensverhandlungen zwischen Israelis und Palästinensern zu fordern und zwar ohne jede Vorbedingung. Israel hat im Mai 2003 die sogenannte road map for peace gegenüber den USA, der Europäischen Union und Russland angenommen. Als Voraussetzung für den Beginn des Marschs zum Frieden war der Abbau mindestens der „illegalen Siedlungen“ in den besetzten Gebieten (alle Siedlungen sind nach internationalem Recht illegal) vereinbart worden. Darauf warten die Palästinenser immer noch vergeblich. So durfte jetzt der palästinensische Leiter früherer Verhandlungen, Saeb Erekat, zu Recht sagen: „Warum sollten wir Verhandlungen ohne Vorbedingungen über die Grenzen eines palästinensischen Staates führen, dessen Territorium durch den Bau weiterer Siedlungen aufgezehrt wird?“
Peter Wald, im Januar 2010
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Sonntag, 17. Januar 2010
IRAK: Viertes Todesurteil für Iraks „Chemie-Ali“
Viele Mitschuldige an einem der schwersten Giftgasverbrechen, im kurdischen Halabscha, bleiben ungeschoren und die leidenden Opfer warten vergeblich auf Entschädigung
von Birgit Cerha
Mehr als zwei Jahrzehnte, nachdem das schwerste Giftgasverbrechen an einer Zivilbevölkerung die nord-irakische Kurdenstadt Halabscha heimgesucht hatte, wurde Sonntag der Hauptverantwortliche für dieses gigantische Gräueltaten, Ali Hassan al Madschid – Vetter Saddam Husseins und eine der Schlüsselfiguren dieses despotischen Regimes – zum Tode verurteilt. Von den Kurden „Chemie-Ali“ oder „Schlächter Kurdistans“ genannt, war einer der skrupellosesten und gefürchtetsten Stützen des Diktators. Er „repräsentierte das Schlimmste des irakischen Regimes, und das heißt viel“, charakterisierte Kenneth Roth von „Human Rights Watch“ diesen Mann, der eine entscheidende Rolle „im Genozid von 1988 ( an den Kurden) gespielt hatte und die Verantwortung für andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit trägt“.
Als das irakische Sondertribunal zur Aburteilung der Verbrecher des saddam’schen Regimes Sonntag in Bagdad nach langen, auch im Fernsehen übertragenen Anhörungen das Todesurteil verkündete, verhehlten Angehörige der Halabscha-Opfer im Gerichtssaal ihre Genugtuung nicht. Es mag ein kleiner Trost für diese Menschen sein, die seit mehr als zwei Jahrzehnten vergeblich auf Gerechtigkeit, Mitgefühl und effizienten Beistand in einer immer noch verzweifelten Lage hoffen.
Es ist das vierte Todesurteil gegen Madschid, der bereits wegen seiner Verantwortung für die Verbrechen der „Anfal“-Kampagne“ – der brutalen Vernichtungsfeldzüge der irakischen Armee an den Kurden, denen etwa 180.000 Menschen, überwiegend Zivilisten, von 1986 bis 1989 zum Opfer gefallen waren – zur Höchststrafe verurteilt worden war, sowie wegen besonders grausiger Repressionen an Schiiten im Süd-Irak und in Bagdad in den 90er Jahre. Die Kurden hoffen nun auf eine rasche Exekution. Madschid kann noch Berufung gegen das Urteil, das schließlich vom dreiköpfigen Präsidentschaftsrat unter Führung des kurdischen Präsidenten Jalal Talabani bestätigt werden muss.
Die Beweise seiner Hauptschuld waren erdrückend. Als Generalsekretär des nördlichen Büros der herrschenden Baath-Partei hatte Madschid von März 1987 bis April 1989 Befehlsgewalt über alle staatlichen Behörden in der Kurdenregion, sowie über das erste und fünfte Armeekorps, das Oberste Sicherheitsdirektorat und den militärischen Geheimdienst. In dieser Zeit, im März 1988, kreisten irakische Jets über Halabscha und besprayten die Zivilbevölkerung mit einer tödlichen Mischung der Nervengase Tabun, Senfgas, Sarin und VX. Drei Viertel der Toten – mindestens 5000 - waren Frauen und Kinder. Es war eine Racheaktion wegen kurdischer Hilfe für die iranische Armee, die in diesen letzten Monaten des achtjährigen Krieges zwischen beiden Ländern dem irakischen Kriegsfeind die Eroberung Halabschas und anderer Grenzgebiete ermöglicht hatte. Unverhohlen hatte Madschid den Massenmord mit den in einem 1988 aufgenommenen Audiotape angekündigt: „Ich werde sie mit chemischen Waffen töten. Wer wird etwas dagegen sagen? Die internationale Gemeinschaft? Scheiß auf sie – die internationale Gemeinschaft und jene, die auf sie hören.“
Tatsächlich blieb die Reaktion der westlichen auf dieses gigantische Verbrechen mehr als mager, denn der ölreiche Irak war ein wichtiger Handelspartner und Bollwerk gegen die expansionslüsterne „Islamische Republik“. Und die Sowjets bezeichneten Behauptungen über dieses Verbrechen als reine westliche Propaganda gegen ihren „Bruderstaat“.
Einige westliche Staaten nahmen Verwundete zu medizinischer Betreuung auf. Doch die Hilfe blieb bescheiden. Die Bewohner Halabschas, das in den drei Kurdenprovinzen liegt, die von 1991 bis zum Sturz Saddam Husseins 2003 unter amerikanisch-britischem Schutz standen, leiden bis heute unter gravierenden Folgen des Giftgases. Dazu zählen schwere Erkrankungen der Atemwege, gravierende Augenleiden, Unfruchtbarkeit, Missbildungen bei Neugeborenen und an dramatischer Anstieg von Leukämie. In Fällen von Senfgasverseuchung etwa nehmen die medizinischen Probleme mit der Zeit nicht nur nicht ab, sondern stetig zu, solange der Betroffene lebt. Zudem hat das Gas auch die Umwelt verseucht. Hohe Arbeitslosigkeit, schlechte Gesundheitsversorgung und mangelhafte Hygiene machen der Bevölkerung bis heute noch zusätzlich zu schaffen.
Hinzu kommt gravierend das Schweigen der Welt. Außer Gedenkveranstaltungen fanden sich im Westen nur einige humanitäre Organisationen zur Hilfe an die Opfer bereit. Die Frage der Mitverantwortung westlicher Regierungen und westlicher, vor allem auch deutscher, Firmen, ohne deren Exporte der Irak sein chemisches Waffenarsenal gar nicht hätte aufbauen können ist striktes Tabu. Saddam Hussein wurde im Dezember 2006 rechtzeitig noch rasch in Bagdad exekutiert, bevor er eine Liste von Lieferanten bekannt geben konnte. Einzige Ausnahme bleiben die Niederlande, wo der Geschäftsmann Franz van Anraat 2005 wegen seiner Exporte an Chemikalien für Saddams Gasprogramm zu 17 Jahren Gefängnis verurteilt worden war.
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von Birgit Cerha
Mehr als zwei Jahrzehnte, nachdem das schwerste Giftgasverbrechen an einer Zivilbevölkerung die nord-irakische Kurdenstadt Halabscha heimgesucht hatte, wurde Sonntag der Hauptverantwortliche für dieses gigantische Gräueltaten, Ali Hassan al Madschid – Vetter Saddam Husseins und eine der Schlüsselfiguren dieses despotischen Regimes – zum Tode verurteilt. Von den Kurden „Chemie-Ali“ oder „Schlächter Kurdistans“ genannt, war einer der skrupellosesten und gefürchtetsten Stützen des Diktators. Er „repräsentierte das Schlimmste des irakischen Regimes, und das heißt viel“, charakterisierte Kenneth Roth von „Human Rights Watch“ diesen Mann, der eine entscheidende Rolle „im Genozid von 1988 ( an den Kurden) gespielt hatte und die Verantwortung für andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit trägt“.
Als das irakische Sondertribunal zur Aburteilung der Verbrecher des saddam’schen Regimes Sonntag in Bagdad nach langen, auch im Fernsehen übertragenen Anhörungen das Todesurteil verkündete, verhehlten Angehörige der Halabscha-Opfer im Gerichtssaal ihre Genugtuung nicht. Es mag ein kleiner Trost für diese Menschen sein, die seit mehr als zwei Jahrzehnten vergeblich auf Gerechtigkeit, Mitgefühl und effizienten Beistand in einer immer noch verzweifelten Lage hoffen.
Es ist das vierte Todesurteil gegen Madschid, der bereits wegen seiner Verantwortung für die Verbrechen der „Anfal“-Kampagne“ – der brutalen Vernichtungsfeldzüge der irakischen Armee an den Kurden, denen etwa 180.000 Menschen, überwiegend Zivilisten, von 1986 bis 1989 zum Opfer gefallen waren – zur Höchststrafe verurteilt worden war, sowie wegen besonders grausiger Repressionen an Schiiten im Süd-Irak und in Bagdad in den 90er Jahre. Die Kurden hoffen nun auf eine rasche Exekution. Madschid kann noch Berufung gegen das Urteil, das schließlich vom dreiköpfigen Präsidentschaftsrat unter Führung des kurdischen Präsidenten Jalal Talabani bestätigt werden muss.
Die Beweise seiner Hauptschuld waren erdrückend. Als Generalsekretär des nördlichen Büros der herrschenden Baath-Partei hatte Madschid von März 1987 bis April 1989 Befehlsgewalt über alle staatlichen Behörden in der Kurdenregion, sowie über das erste und fünfte Armeekorps, das Oberste Sicherheitsdirektorat und den militärischen Geheimdienst. In dieser Zeit, im März 1988, kreisten irakische Jets über Halabscha und besprayten die Zivilbevölkerung mit einer tödlichen Mischung der Nervengase Tabun, Senfgas, Sarin und VX. Drei Viertel der Toten – mindestens 5000 - waren Frauen und Kinder. Es war eine Racheaktion wegen kurdischer Hilfe für die iranische Armee, die in diesen letzten Monaten des achtjährigen Krieges zwischen beiden Ländern dem irakischen Kriegsfeind die Eroberung Halabschas und anderer Grenzgebiete ermöglicht hatte. Unverhohlen hatte Madschid den Massenmord mit den in einem 1988 aufgenommenen Audiotape angekündigt: „Ich werde sie mit chemischen Waffen töten. Wer wird etwas dagegen sagen? Die internationale Gemeinschaft? Scheiß auf sie – die internationale Gemeinschaft und jene, die auf sie hören.“
Tatsächlich blieb die Reaktion der westlichen auf dieses gigantische Verbrechen mehr als mager, denn der ölreiche Irak war ein wichtiger Handelspartner und Bollwerk gegen die expansionslüsterne „Islamische Republik“. Und die Sowjets bezeichneten Behauptungen über dieses Verbrechen als reine westliche Propaganda gegen ihren „Bruderstaat“.
Einige westliche Staaten nahmen Verwundete zu medizinischer Betreuung auf. Doch die Hilfe blieb bescheiden. Die Bewohner Halabschas, das in den drei Kurdenprovinzen liegt, die von 1991 bis zum Sturz Saddam Husseins 2003 unter amerikanisch-britischem Schutz standen, leiden bis heute unter gravierenden Folgen des Giftgases. Dazu zählen schwere Erkrankungen der Atemwege, gravierende Augenleiden, Unfruchtbarkeit, Missbildungen bei Neugeborenen und an dramatischer Anstieg von Leukämie. In Fällen von Senfgasverseuchung etwa nehmen die medizinischen Probleme mit der Zeit nicht nur nicht ab, sondern stetig zu, solange der Betroffene lebt. Zudem hat das Gas auch die Umwelt verseucht. Hohe Arbeitslosigkeit, schlechte Gesundheitsversorgung und mangelhafte Hygiene machen der Bevölkerung bis heute noch zusätzlich zu schaffen.
Hinzu kommt gravierend das Schweigen der Welt. Außer Gedenkveranstaltungen fanden sich im Westen nur einige humanitäre Organisationen zur Hilfe an die Opfer bereit. Die Frage der Mitverantwortung westlicher Regierungen und westlicher, vor allem auch deutscher, Firmen, ohne deren Exporte der Irak sein chemisches Waffenarsenal gar nicht hätte aufbauen können ist striktes Tabu. Saddam Hussein wurde im Dezember 2006 rechtzeitig noch rasch in Bagdad exekutiert, bevor er eine Liste von Lieferanten bekannt geben konnte. Einzige Ausnahme bleiben die Niederlande, wo der Geschäftsmann Franz van Anraat 2005 wegen seiner Exporte an Chemikalien für Saddams Gasprogramm zu 17 Jahren Gefängnis verurteilt worden war.
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Freitag, 15. Januar 2010
IRAN: Irans Dilemma in Afghanistan
Mit der Strategie des „gemanagten Chaos“ hofft Teheran, die Gefahren aus dem turbulenten Nachbarstaat zu bannen - Kooperation mit den USA oder doch lieber nicht?
von Birgit Cerha
Es ist kaum neun Monate her, dass der Iran in dem ersten offiziellen Treffen mit einem hohen Vertreter der USA seit drei Jahrzehnten Zusammenarbeit im krisengeschüttelten Afghanistan versprach. Seither aber hat sich in den unterdessen radikalisierten Führungskreisen des „Gottesstaates“ der Hass auf den „Großen Satan“ bis zur Paranoia gesteigert. Washington schüre die seit den manipulierten Präsidentschaftswahlen im Juni tobende interne Rebellion – so der Vorwurf - und verschärft zugleich den Druck zum Stopp des Atomprogramms. Teherans Bereitschaft zur Kooperation sackte auf den Nullpunkt ab. Totale Distanz zu den „Mächten der Arroganz“, wie sie Revolutionsführer Khomeini einst gebot, gewinnt in Führungskreisen neue Attraktivität. Die Tatsache, dass Obama bei Vorbereitungen zur Afghanistan-Konferenz den Iran nicht einmal erwähnte, mag die herrschenden Radikalen in ihrer Position bestärken. Seit langem ist Irans Hilfe in Afghanistan ein Tabu-Thema im Westen. Dennoch wird sich Außenminister Mottaki am 28. Januar in London an den Verhandlungstisch setzen.
Dass der „Islamischen Republik“ eine entscheidende Rolle bei der Stabilisierung ihres östlichen Nachbarn zukommt, ist längst unbestritten. Dabei haben der Iran und dessen Erzfeind USA gemeinsame Interessen und gemeinsame Aversionen: Beide wollen eine Regierung in Kabul, die Aufständische, insbesondere die radikalen Sunniten der Taliban und Al-Kaida, in Schach zu halten vermag, dem blühenden Rauschgifthandel Einhalt gebietet, den totalen Zusammenbruch des Staates und damit erneute Massenflucht in den Iran verhindert.
So hatten die Iraner den USA 2001 beim Sturz des Taliban-Regimes wertvolle Hilfe geleistet, hatten Kämpfer der mit den USA verbündeten afghanischen Nord-Allianz bewaffnet und trainiert. Doch als US-Präsident Bush dies offiziell nicht nur nicht anerkannte, sondern den Iran auch noch in seine „Achse des Übels“ einschloss, brach in Teheran alter Zorn über die „Weltarroganz“ neu auf.
Dennoch erwiesen sich die Iraner auch anschließend als weit bessere Nachbarn als das von Washington hofierte Pakistan. Das erkennt auch Präsident Karzai offen an. Teheran investiert Millionen in den Wiederaufbau von Infrastruktur und Industrie in den West-Provinzen, baut Straßen und Zugsverbindungen, unterstützt ein Autobahnprojekt durch West-Afghanistan nach Indien, errichtet Schulen und Hospitäler, gewährt humanitäre Hilfe, versucht die lange, poröse Grenze gegen Rauschgiftschmuggler abzuriegeln und hält sich von größeren Intrigen in Kabul fern.
Iran verbinden historische, religiöse und kulturelle Bande mit den Minderheiten West- und Zentral-Afghanistans, den (schiitischen) Hazara, den Tadschiken und Usbeken. Dank iranischen Beistandes geht es diesen Menschen heute ökonomisch weit besser als der Bevölkerung des Ostens. Teheran lässt auch beträchtliche Mengen an Bargeld in die Taschen von Stammesführern fließen, um sich in der Region Einfluss zu erkaufen. Zusätzlich hilft dabei das so oft bemühte
Argument: „Die Amerikaner bleiben vielleicht zehn oder 20 Jahre hier - wir für immer.“
Die verschärften Spannungen mit den USA bringen die Iraner aber in ein schweres Dilemma. Eine Rückkehr der Taliban, die ihr „Geistlicher Führer“ Khamenei als „Affront gegen den Islam“ verdammt, wollen sie unter allen Umständen vermeiden. Ebenso wenig liegt die Stabilisierung einer fest mit dem Westen verbündeten Regierung in Kabul im Interesse des „Gottesstaates“, solange dieser sich nicht selbst mit den USA ausgesöhnt hat. Nicht zuletzt könnten die USA ihre Militärstützpunkte in Afghanistan für einen Präventivschlag gegen Irans Atomanlagen nützen. So bereiten sich die Iraner auf eine mögliche Konfrontation mit den Amerikanern im Osten vor. Dabei gewinnt die Todfeindschaft mit den Taliban untergeordnete Bedeutung. Iranische Waffen und Sprengstoff gelangen - allerdings in geringem Ausmaß – in die Hände von Taliban-Kämpfern. Konkrete Beweise für eine direkte Verwicklung des iranischen Regimes fehlen allerdings.
Teheran verfügt aber zweifellos über diverse Mittel, den Amerikanern in Afghanistan schwer zuzusetzen. Der Kommandant der für Auslandseinsätze zuständigen „Quds-Einheit“ der Revolutionsgarden, General Suleimani, hatte schon im Irak höchst erfolgreich mit den von ihn ausgebildeten schiitischen Milizen zuerst gegen die USA und später in derem Interesse agiert. Er dürfte sein Augenmerk nun auf Afghanistan gelenkt haben, wo er, so westliche Militärkreise, ein geheimes Netzwerk und eine geheime Infrastruktur aufbaut, um – wenn zweckmäßig - gegen US-Truppen loszuschlagen. Auch politisch kann der Iran, die Amerikaner und deren Verbündete in Kabul massiv unter Druck setzen, indem er Gruppen der Hazara, Tadschiken und Usbeken, von denen viele die Nord-Allianz unterstützen, zum Widerstand gegen Karzai ermutigt
Vorerst aber deutet nichts darauf hin, dass sich die Iraner zu einem derart radikalen Schritt entscheiden würden. „Teheran würde viel mehr verlieren als die USA, wenn Afghanistan wieder zu einem von der Al-Kaida verseuchten und den Taliban kontrollierten Rauschgiftstaat entartet“, meint Iran-Experte Marim Sadjapour. „Gemanagtes Chaos“ erscheint Teheran deshalb in Ermangelung einer klaren Strategie das Zauberwort.
Die Suche nach einem Ausweg aus diesem Dilemma löst heftige Debatten in der iranischen Führung aus, wo seit Juni aber jene den Ton angeben, die jegliche Kooperation mit den USA ablehnen. Anderseits aber irritiert das Regime die Möglichkeit, Obama könnte mit seiner Strategie, gemäßigte Taliban in einen Stabilisierungsprozess einzubinden, Erfolg haben und den Iran aus einem solchen Konzept vollends ausschließen. So drängen etwa Kreise im Parlament auf ein Maß an Zusammenarbeit mit den USA. Solange aber Irans interne Krise nicht gelöst ist, wird sich das Regime zu keiner klaren Strategie durchringen können. Denn es geht auch in Afghanistan primär um die seit den Tagen der Revolution virulente Streitfrage des Umgangs mit dem „Großen Satan“.
Erschienen am 21.1.2010 im "Rheinischen Merkur"
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von Birgit Cerha
Es ist kaum neun Monate her, dass der Iran in dem ersten offiziellen Treffen mit einem hohen Vertreter der USA seit drei Jahrzehnten Zusammenarbeit im krisengeschüttelten Afghanistan versprach. Seither aber hat sich in den unterdessen radikalisierten Führungskreisen des „Gottesstaates“ der Hass auf den „Großen Satan“ bis zur Paranoia gesteigert. Washington schüre die seit den manipulierten Präsidentschaftswahlen im Juni tobende interne Rebellion – so der Vorwurf - und verschärft zugleich den Druck zum Stopp des Atomprogramms. Teherans Bereitschaft zur Kooperation sackte auf den Nullpunkt ab. Totale Distanz zu den „Mächten der Arroganz“, wie sie Revolutionsführer Khomeini einst gebot, gewinnt in Führungskreisen neue Attraktivität. Die Tatsache, dass Obama bei Vorbereitungen zur Afghanistan-Konferenz den Iran nicht einmal erwähnte, mag die herrschenden Radikalen in ihrer Position bestärken. Seit langem ist Irans Hilfe in Afghanistan ein Tabu-Thema im Westen. Dennoch wird sich Außenminister Mottaki am 28. Januar in London an den Verhandlungstisch setzen.
Dass der „Islamischen Republik“ eine entscheidende Rolle bei der Stabilisierung ihres östlichen Nachbarn zukommt, ist längst unbestritten. Dabei haben der Iran und dessen Erzfeind USA gemeinsame Interessen und gemeinsame Aversionen: Beide wollen eine Regierung in Kabul, die Aufständische, insbesondere die radikalen Sunniten der Taliban und Al-Kaida, in Schach zu halten vermag, dem blühenden Rauschgifthandel Einhalt gebietet, den totalen Zusammenbruch des Staates und damit erneute Massenflucht in den Iran verhindert.
So hatten die Iraner den USA 2001 beim Sturz des Taliban-Regimes wertvolle Hilfe geleistet, hatten Kämpfer der mit den USA verbündeten afghanischen Nord-Allianz bewaffnet und trainiert. Doch als US-Präsident Bush dies offiziell nicht nur nicht anerkannte, sondern den Iran auch noch in seine „Achse des Übels“ einschloss, brach in Teheran alter Zorn über die „Weltarroganz“ neu auf.
Dennoch erwiesen sich die Iraner auch anschließend als weit bessere Nachbarn als das von Washington hofierte Pakistan. Das erkennt auch Präsident Karzai offen an. Teheran investiert Millionen in den Wiederaufbau von Infrastruktur und Industrie in den West-Provinzen, baut Straßen und Zugsverbindungen, unterstützt ein Autobahnprojekt durch West-Afghanistan nach Indien, errichtet Schulen und Hospitäler, gewährt humanitäre Hilfe, versucht die lange, poröse Grenze gegen Rauschgiftschmuggler abzuriegeln und hält sich von größeren Intrigen in Kabul fern.
Iran verbinden historische, religiöse und kulturelle Bande mit den Minderheiten West- und Zentral-Afghanistans, den (schiitischen) Hazara, den Tadschiken und Usbeken. Dank iranischen Beistandes geht es diesen Menschen heute ökonomisch weit besser als der Bevölkerung des Ostens. Teheran lässt auch beträchtliche Mengen an Bargeld in die Taschen von Stammesführern fließen, um sich in der Region Einfluss zu erkaufen. Zusätzlich hilft dabei das so oft bemühte
Argument: „Die Amerikaner bleiben vielleicht zehn oder 20 Jahre hier - wir für immer.“
Die verschärften Spannungen mit den USA bringen die Iraner aber in ein schweres Dilemma. Eine Rückkehr der Taliban, die ihr „Geistlicher Führer“ Khamenei als „Affront gegen den Islam“ verdammt, wollen sie unter allen Umständen vermeiden. Ebenso wenig liegt die Stabilisierung einer fest mit dem Westen verbündeten Regierung in Kabul im Interesse des „Gottesstaates“, solange dieser sich nicht selbst mit den USA ausgesöhnt hat. Nicht zuletzt könnten die USA ihre Militärstützpunkte in Afghanistan für einen Präventivschlag gegen Irans Atomanlagen nützen. So bereiten sich die Iraner auf eine mögliche Konfrontation mit den Amerikanern im Osten vor. Dabei gewinnt die Todfeindschaft mit den Taliban untergeordnete Bedeutung. Iranische Waffen und Sprengstoff gelangen - allerdings in geringem Ausmaß – in die Hände von Taliban-Kämpfern. Konkrete Beweise für eine direkte Verwicklung des iranischen Regimes fehlen allerdings.
Teheran verfügt aber zweifellos über diverse Mittel, den Amerikanern in Afghanistan schwer zuzusetzen. Der Kommandant der für Auslandseinsätze zuständigen „Quds-Einheit“ der Revolutionsgarden, General Suleimani, hatte schon im Irak höchst erfolgreich mit den von ihn ausgebildeten schiitischen Milizen zuerst gegen die USA und später in derem Interesse agiert. Er dürfte sein Augenmerk nun auf Afghanistan gelenkt haben, wo er, so westliche Militärkreise, ein geheimes Netzwerk und eine geheime Infrastruktur aufbaut, um – wenn zweckmäßig - gegen US-Truppen loszuschlagen. Auch politisch kann der Iran, die Amerikaner und deren Verbündete in Kabul massiv unter Druck setzen, indem er Gruppen der Hazara, Tadschiken und Usbeken, von denen viele die Nord-Allianz unterstützen, zum Widerstand gegen Karzai ermutigt
Vorerst aber deutet nichts darauf hin, dass sich die Iraner zu einem derart radikalen Schritt entscheiden würden. „Teheran würde viel mehr verlieren als die USA, wenn Afghanistan wieder zu einem von der Al-Kaida verseuchten und den Taliban kontrollierten Rauschgiftstaat entartet“, meint Iran-Experte Marim Sadjapour. „Gemanagtes Chaos“ erscheint Teheran deshalb in Ermangelung einer klaren Strategie das Zauberwort.
Die Suche nach einem Ausweg aus diesem Dilemma löst heftige Debatten in der iranischen Führung aus, wo seit Juni aber jene den Ton angeben, die jegliche Kooperation mit den USA ablehnen. Anderseits aber irritiert das Regime die Möglichkeit, Obama könnte mit seiner Strategie, gemäßigte Taliban in einen Stabilisierungsprozess einzubinden, Erfolg haben und den Iran aus einem solchen Konzept vollends ausschließen. So drängen etwa Kreise im Parlament auf ein Maß an Zusammenarbeit mit den USA. Solange aber Irans interne Krise nicht gelöst ist, wird sich das Regime zu keiner klaren Strategie durchringen können. Denn es geht auch in Afghanistan primär um die seit den Tagen der Revolution virulente Streitfrage des Umgangs mit dem „Großen Satan“.
Erschienen am 21.1.2010 im "Rheinischen Merkur"
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Montag, 11. Januar 2010
JEMEN: Ali Abdullah Saleh: der „Schlangenbeschwörer“
Die Person und die Herrschaftsmethoden des yemenitischen Präsidenten stellen den Westen vor ein großes Dilemma
von Birgit Cerha
Einst nannten sie ihn den „kleinen Saddam“. Wohl bis zu dessen Tod durch den Strang 2003 verehrte Jemens Präsident Ali Abdullah Saleh seinen blutrünstigen Amtskollegen im Irak als einen großen Helden. Und obwohl ihn der Westen durch Streichung der lebensnotwendigen Entwicklungshilfe für sein Veto im Weltsicherheitsrat gegen eine gewaltsame Befreiung Kuwaits aus den Fängen der irakischen Invasionsarmee 1990 bestraft hatte, machte Saleh kein Hehl aus seiner Empörung gegen den von den USA geleiteten Feldzug zum Sturz Saddam Husseins 2003.
Dennoch zählte Saleh seit dem 11. September 2001 zu den wichtigsten Mitstreitern im Antiterror-Krieg der USA. Doch der nur knapp verhinderte Terroranschlag eines im Jemen ausgebildeten Jihadisten in den USA entlarvt ein gefährliches Doppelspiel des Präsidenten, der gewalttätigen Islamisten, insbesondere jenen mit engen Verbindungen zur Al-Kaida, Zuflucht und einen beträchtlichen Freiraum gestattete. Wenn Saleh heute auf US-Druck jenen islamistischen Terroristen den Krieg erklärt, bleiben Zweifel an seinen wahren Absichten.
Um diesen 67-jährigen, nach dem Libyer Gadafi dienstältesten Herrscher in der arabischen Welt zu verstehen, muss man zurückblicken in seine Vergangenheit. Schon im Alter von 16 trat der Sohn einer Bauernfamilie in die Armee ein, wo er rasch Karriere machte, sich am Aufstand gegen den nordjemenitischen König 1962 beteiligte und 1978 die Präsidentschaft der durch zwei Jahrzehnte des Bürgerkrieges tief erschütterten Republik Nord-Jemen antrat. Entgegen allen Erwartungen bewies sich Saleh in diesem zerrissenen, unkontrollierbaren und bitterarmen Land als politischer Überlebenskünstler höchsten Ranges. Er beschreibt sein konstantes Manövrieren und Taktieren mit den mächtigen Stämmen, Religionsgruppen und Oppositionsparteien als „einen Tanz in einem Kreis von Schlangen“.
Mit Rafinesse verstand er es, durch Nepotismus, Bestechung und Brutalität ein politisches Gleichgewicht zu schaffen, das ihm drei Jahrzehnte lang die Macht sicherte. Internationale Entwicklungshilfe sickerte in die Kanäle der Macht. So lautet ein Hauptvorwurf der heimischen Opposition gegen den unterdessen weithin verhassten Diktator, er habe die staatlichen Ressourcen vorwiegend dazu benutzt, um den Kreis seiner Unterstützer zu stärken, während der Rest des Landes in Armut und Unterentwicklung versinkt.
Als die internationalen Hilfsgelder immer spärlicher flossen und die versickernden Ölressourcen die Staatskassen kaum noch füllen, schrumpfte auch Salehs Spielraum, Gegner, Rebellen und Stämme zu kaufen. Heute kontrolliert der Präsident höchstens noch ein Drittel des Landes, während er vergeblich versucht, zwei Rebellionen unter Kontrolle zu bringen: die zunehmend erneute Sezession erstrebenden Süd-Jemeniten, die Saleh 1990 mit dem Norden vereint hatte, und die sich gegen gravierende Vernachlässigung wehrenden (schiitischen) Huthis. Wie 1994 im kurzen Bürgerkrieg gegen Südjemen setzt er gegen die Huthis in Afghanistan kriegserprobte Jihadisten ein.
So vermied der Präsident, während er sich dem Anti-Terror-Krieg anschloss, intern sorgfältig den Bruch mit der Al-Kaida, die ihm wohl als weit ungefährlicher erscheinen mag, als die anderen Kirsen. Zudem genießt die Ideologie der Jihadisten unter der sunnitischen Bevölkerung Sympathie. Zentraler Faktor in Salehs politischer Jongleurkunst ist auch die sorgfältige Rücksichtnahme auf die im Jemen hoch wallenden anti-amerikanischen Gefühle. Ein direkter militärischer Einsatz der USA gegen Al-Kaida im Jemen würde den Jihadisten enormen Zulauf verschaffen. Saleh erwies sich als Überlebenskünstler eines Landes, das er in den Untergang treibt.
Erschienen am 12.01.2001 in der "Frankfurter Rundschau"
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von Birgit Cerha
Einst nannten sie ihn den „kleinen Saddam“. Wohl bis zu dessen Tod durch den Strang 2003 verehrte Jemens Präsident Ali Abdullah Saleh seinen blutrünstigen Amtskollegen im Irak als einen großen Helden. Und obwohl ihn der Westen durch Streichung der lebensnotwendigen Entwicklungshilfe für sein Veto im Weltsicherheitsrat gegen eine gewaltsame Befreiung Kuwaits aus den Fängen der irakischen Invasionsarmee 1990 bestraft hatte, machte Saleh kein Hehl aus seiner Empörung gegen den von den USA geleiteten Feldzug zum Sturz Saddam Husseins 2003.
Dennoch zählte Saleh seit dem 11. September 2001 zu den wichtigsten Mitstreitern im Antiterror-Krieg der USA. Doch der nur knapp verhinderte Terroranschlag eines im Jemen ausgebildeten Jihadisten in den USA entlarvt ein gefährliches Doppelspiel des Präsidenten, der gewalttätigen Islamisten, insbesondere jenen mit engen Verbindungen zur Al-Kaida, Zuflucht und einen beträchtlichen Freiraum gestattete. Wenn Saleh heute auf US-Druck jenen islamistischen Terroristen den Krieg erklärt, bleiben Zweifel an seinen wahren Absichten.
Um diesen 67-jährigen, nach dem Libyer Gadafi dienstältesten Herrscher in der arabischen Welt zu verstehen, muss man zurückblicken in seine Vergangenheit. Schon im Alter von 16 trat der Sohn einer Bauernfamilie in die Armee ein, wo er rasch Karriere machte, sich am Aufstand gegen den nordjemenitischen König 1962 beteiligte und 1978 die Präsidentschaft der durch zwei Jahrzehnte des Bürgerkrieges tief erschütterten Republik Nord-Jemen antrat. Entgegen allen Erwartungen bewies sich Saleh in diesem zerrissenen, unkontrollierbaren und bitterarmen Land als politischer Überlebenskünstler höchsten Ranges. Er beschreibt sein konstantes Manövrieren und Taktieren mit den mächtigen Stämmen, Religionsgruppen und Oppositionsparteien als „einen Tanz in einem Kreis von Schlangen“.
Mit Rafinesse verstand er es, durch Nepotismus, Bestechung und Brutalität ein politisches Gleichgewicht zu schaffen, das ihm drei Jahrzehnte lang die Macht sicherte. Internationale Entwicklungshilfe sickerte in die Kanäle der Macht. So lautet ein Hauptvorwurf der heimischen Opposition gegen den unterdessen weithin verhassten Diktator, er habe die staatlichen Ressourcen vorwiegend dazu benutzt, um den Kreis seiner Unterstützer zu stärken, während der Rest des Landes in Armut und Unterentwicklung versinkt.
Als die internationalen Hilfsgelder immer spärlicher flossen und die versickernden Ölressourcen die Staatskassen kaum noch füllen, schrumpfte auch Salehs Spielraum, Gegner, Rebellen und Stämme zu kaufen. Heute kontrolliert der Präsident höchstens noch ein Drittel des Landes, während er vergeblich versucht, zwei Rebellionen unter Kontrolle zu bringen: die zunehmend erneute Sezession erstrebenden Süd-Jemeniten, die Saleh 1990 mit dem Norden vereint hatte, und die sich gegen gravierende Vernachlässigung wehrenden (schiitischen) Huthis. Wie 1994 im kurzen Bürgerkrieg gegen Südjemen setzt er gegen die Huthis in Afghanistan kriegserprobte Jihadisten ein.
So vermied der Präsident, während er sich dem Anti-Terror-Krieg anschloss, intern sorgfältig den Bruch mit der Al-Kaida, die ihm wohl als weit ungefährlicher erscheinen mag, als die anderen Kirsen. Zudem genießt die Ideologie der Jihadisten unter der sunnitischen Bevölkerung Sympathie. Zentraler Faktor in Salehs politischer Jongleurkunst ist auch die sorgfältige Rücksichtnahme auf die im Jemen hoch wallenden anti-amerikanischen Gefühle. Ein direkter militärischer Einsatz der USA gegen Al-Kaida im Jemen würde den Jihadisten enormen Zulauf verschaffen. Saleh erwies sich als Überlebenskünstler eines Landes, das er in den Untergang treibt.
Erschienen am 12.01.2001 in der "Frankfurter Rundschau"
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Mittwoch, 6. Januar 2010
IRAN: Die „langsame Revolution“ gegen den „Gottesstaat“
Die „Grüne Bewegung“ ist aus der Larve geschlüpft und lässt mehr und mehr das Gesicht eines neuen Iran erkennen
von Birgit Cerha
Sie sind überall. Gleich einem Schreckgespenst tauchen sie auf, verschwinden wieder, nur um erneut in Erscheinung zu treten. Selbst wenn sie nicht in Massen demonstrieren, sind sie allgegenwärtig als oft stille Bedrohung eines zunehmend in die Enge getriebenen Regimes, das in wilder Brutalität um sich schlägt. Irans „Grüne Bewegung“ für Freiheit, Menschenrechte und Demokratie filtert immer tiefer in die Kanäle der Gesellschaft des „Gottesstaates“. Fromme Frauen in schwarzen Schadors schlossen sich ihr ebenso an, wie Männer, die sich mit ihren Bärten zu den Grundsätzen der khomein’schen Revolution bekannten oder vielleicht sogar immer noch bekennen. Die wachsende Schar der sozial Schwachen, der über Misswirtschaft und Korruption Erboßten stärkt ihre Reihen ebenso, wie Eltern, Freunde der Opfer immer brutaler werdender Repressionen durch das Regime.
Auch Massenverhaftungen, Folter, Mord in Gefängnissen und auf den Straßen, konstante verbale und physische Bedrohung hat den freiheitshungrigen Iranern nicht den Mut geraubt.Zunehmend unerschrocken zeigen sie sich bereit, selbst ihr eigenes Leben zu riskieren in dem wachsenden Wunsch, das Schicksal ihrer Heimat selbst in die Hand zu nehmen und die Geschichte zu lenken.
Auf Banknoten schreiben sie mit grüner Farbe ihre Botschaften, in den Geschäften fordern sie einander flüsternd zum Boykott von Waren aus der Produktion staatlicher Institutionen auf, insbesondere jene aus Fabriken der für die Repressionen verantwortlichen Revolutionsgarden. Aktivisten der „Grünen“ drängen Bürger, keine Produkte von Mobil-Telefonfirmen zu kaufen, die das Regime mit Technologie versorgen. Die Hilflosigkeit des Regimes gibt ihnen immer neuen Mut, so etwa der Vorsprung, den sie in einem harten Wettlauf mit Graffitis errangen.
„Nieder mit dem Diktator“ ist längst der wichtigste Slogan der „Grünen“ geworden, in Teheran ebenso, wie in Shiraz, Karaj, Qom, Isfahan und anderen Städten im ganzen Land. „Nieder mit dem Diktator“ wird auch in riesigen Lettern auf Häuserwände, Geschäftsportale in armen und reichen Vierteln Teherans geschrieben. Eilig versucht das Regime den Affront zu übermalen, doch die Kritzler sind schneller. Die Verzweiflung, die Irans Despoten durch ihre Gegenkampagne entlarven, ermutigt die Rebellen, so etwa, wenn Fußballmatches im Fernsehen nur noch in Schwarz-Weiß übertragen werden, damit das Volk nicht erkennt, dass die Masse der Zuschauer Grün trägt.
Was Irans Theokraten besonders beunruhigen muss, sind starke Anzeichen dafür, dass der Geist der Demokratie nicht nur die Studenten, die vor drei Jahrzehnten eine entscheidende Rolle zum Sieg der islamischen Revolution über den Schah gespielt hatten, sondern auch die Schulen zu erobern beginnt. Damit könnte sich die „Grüne Bewegung“ zur größten und umfassendsten politisch-kulturellen Strömung der jüngeren Geschichte des Irans entwickeln. In einer Mittelschule in Teheran etwa widersetzten sich die Schüler der Anordnung des Direktors: Statt „Marg bar Amrica“ (Tod Amerika) brüllten sie „Marg bar Dicatator“. An einer Schule in Karaj weigerten sich Schüler, zur Feier des 30. Jahrestages der Besetzung der US-Botschaft am 4. November amerikanische Flaggen zu verbrennen. Als der Direktor rote, grüne und weiße Ballons (die Farben der iranischen Flagge) verteilte, zerstachen die Jugendlichen die roten und weißen und hielten die grünen in ihren Händen. Anderswo widersetzte sich eine zwölfjährige Arbeitertochter nach einem Bericht von „Mianeh“, einer neuen unabhängigen Web-Initiative, ihrem Lehrer, der sie aufgefordert hatte, auf eine auf dem Boden liegende US-Flagge zu steigen, bevor sie das Klassenzimmer betritt. „Menschen in einem anderen Land lieben diese Flagge“, sagte das Mädchen, „warum soll ich sie missachten?“
Solche Aktionen des passiven Widerstandes in den Schulen stellen das Regime vor unlösbare Herausforderungen, können doch die paramilitärischen Bassidsch oder die Revolutionsgarden nicht wie gegen die Demonstranten in den Straßen mit aller Gewalt in die Schulen des Landes eindringen. Selbst der „Geistliche Führer“ Khamenei, der sich über jedes Gesetz erhebt und sogar vor Attacken gegen religiöse Institutionen und Traditionen nicht mehr zurückschreckt, kann es nicht wagen, diese rote Linie zu überschreiten.
Die symbolischen Führer der „Grünen Bewegung“, Mir Hussein Mussawi, Mehdi Karrubi und mehr im Hintergrund Mohammed Khatami, verfolgen die zunehmend aus ihrer Larve entschlüpfende Massenströmung mit einer Mischung aus Erstaunen, Ohnmacht und Angst. Sie alle, treue Jünger Khomeinis, bekannten sich bisher energisch zur Verfassung des „Gottesstaates“, dem sie lediglich ein wenig Demokratie, Transparenz und die Achtung der Menschenrechte einhauchen wollten. „Wir fordern die uneingeschränkte Durchsetzung der Verfassung und die Rückkehr zu den ethischen Grundlagen der Islamischen Republik. Wir fordern eine „Islamische Republik, nicht ein Wort mehr und nicht ein Wort weniger.“ Diesen zentralen Wahlspruch seiner Kampagne aber wiederholt Mussawi seit November nicht mehr.
„Sie (die Oppositionsführer) wollten eine Omelette kochen, ohne die Eier aufzuschlagen. Nun mussten sie erkennen, dass (das Volk) rascher voranschreitet als sie sich vorgestellt hatten“, analysiert ein enger Berater Mussawis.
Ein anderes wichtiges Ziel mussten Karrubi und Mussawi aufgeben. Nach den manipulierten Präsidentschaftswahlen im Juni hatten sie sich jeder direkten Kritik an Khamenei in der Hoffnung enthalten, mit dem „Führer“ einen Pakt auszuhandeln, in dem sie sich zur Verteidigung des Atomprogramms verpflichteten, im Gegenzug für ein Ende der Repressionen. Die Massen aber riefen unterdessen: „Gebt die Urananreicherung auf. Tut etwas gegen die Armut“ und boykottierten damit derartige Pläne. Die Demokratie-Bewegung hegt kein Interesse an einem Kompromiss mit Khamenei, den sie des Verrats an seiner konstitutionellen Rolle als unparteiischer Schiedsrichter bezichtigen, da er sich noch vor Bekanntgabe der offiziellen (manipulierten) Wahlergebnisse im Juni bedingungslos hinter Präsident Ahmadinedschad gestellt hatte. Mussawi hat unterdessen auch Pläne zur Gründung einer – bisher allerdings erst vage entworfenen – „Grünen Organisation“ in der Erkenntnis aufgegeben, dass diese Anti-Regime-Bewegung zu mannigfaltig, vielleicht auch zu widersprüchlich ist, um in ein zentral kontrolliertes Gefüge gepresst zu werden, vereint sie doch Jung und Alt, modern und traditionalistisch Denkende ebenso, wie gläubige Muslime und Säkularisten.
Die Bewegung, die mit dem Slogan „Wo ist meine Stimme“ im Juni aus Protest gegen die Wahlmanipulation, durch die der Präsidentschaftskandidat Mussawi um seinen Sieg betrogen worden war, begonnen hatte, brach unterdessen mit den höchsten Tabus der „Islamischen Republik“ und erstrebt nicht weniger als den Sturz des Regimes. Darauf zumindest lassen die populärsten Slogans schließen, die Demonstranten in allen Landesteilen rufen.
Im Laufe der Wochen aber hat der wenig charismatische Mussawi dennoch an Popularität gewonnen, manche meinen er sei gar zu einem echten Reformer, wenn auch nicht Revolutionär, gereift. Durch seine jüngst über seine Website bekundete Bereitschaft, selbst sein Leben für Demokratie, Menschenrechte und ein transparentes System, wiewohl nicht dessen Sturz, zu opfern, hat er sich zunächst seine Position als symbolischer Führer der „Grünen Bewegung“ erhalten. Einen tatsächlichen Führer aber hat die „Grüne Bewegung“ ebenso wenig wie eine klar umrissene Ideologie. Die bekannten Khatami nahe stehenden Reformer sitzen im Gefängnis, wurden massiv eingeschüchtert, ebenso prominente Journalisten und andere Intellektuelle. Es sind Studenten, Hausfrauen, Arbeiter aller Altersgruppen, Angehörige der Mittelklasse, die oft ganz spontan Demonstrationen organisieren. Ihre Waffen sind das Internet, Mobiltelefon oder Youtube, Flugzetteln und Mundpropaganda. Sie werden über das Web auch von Exil-Iranern instruiert. Einer der prominenteste unter ihnen ist der einstige Mitstreiter Khomeinis Mohsen Sazegara. Mitbegründer der Revolutionsgarden, geriet er schon in den 80er Jahren in Konflikt mit den autoritären Zügen des Systems und lebt nun in den USA. Fests davon überzeugt, dass das islamisch-demokratische Experiment gescheitert ist, versucht er nun die „Grüne Bewegung“ mit Hilfe von täglich zehnminütigen über das Internet verbreiteten Videoaufnahmen in Methoden des zivilen Ungehorsams auf der Basis der eigener Erfahrungen aus der islamischen Revolution zu instruieren.
Eine empfohlene Methode ist das Gespräch mit Angehörigen der Revolutionsgarden aus der Nachbarschaft, die öffentliche Darstellung der Repressionen auf Plakaten, um die Sicherheitskräfte zu demoralisieren. Ein Effekt lässt sich bereits erkennen: Nicht Protestierende verhüllen ihre Gesichter, sondern die auf sie einschlagenden paramilitärischen Bassidsch und Revolutionsgarden.Sazegaras Ratschläge sollen täglich an die 500.000 Iraner hören und sehen.
Von einem gewaltsamen Umsturz will Sazegara nichts wissen und er teilt damit wohl eine im Iran weit verbreitete Ansicht. Gewaltlosigkeit ist für ihn ein entscheidender Faktor für einen nachhaltigen Erfolg. Eine „langsame Revolution“ mit den Methoden der Überredung, Zermürbung, des zivilen Ungehorsams, die Schritt um Schritt das ganze Land in ihren Bann zöge, sei der einzige Weg zum Sieg. Diese erste „post-moderne Rebellion“, so Sazegara, brauche keine Führerpersönlichkeiten, sie gleiche vielmehr einer Kette, deren jedes Glied ein Führer sei. Dabei öffnet sich die Kluft zwischen den Demonstrierenden und ihren „symbolischen Führern“ immer weiter.
Zugleich hat Khamenei durch seine bedingungslose Allianz mit Präsident Ahmadinedschad drastisch an politischen Spielraum verloren, vollends abhängig von den wahren neuen Machthabern, den Revolutionsgarden. Deren Brutalitäten rauben dem „Geistlichen Führer“ nun auch noch zunehmend seine eigene islamische Basis. Immer mehr Ayatollahs gehen auf Distanz zu ihm. Durch die hartnäckige Weigerung, einen Kompromiss mit der „Grünen Bewegung“ zu suchen, die Radikaleren von den im System verbleibenden Kritikern zu trennen, riskiere das Regime nach den Worten des gemäßigt konservativen Parlamentssprechers Ali Laridschani „den Zusammenbruch des Landes“. Warum? Darauf findet die unabhängige iranische Politologin Farideh Farhi eine schlüssige Antwort: Nach einer im Iran weit verbreiteten Überzeugung, hatte der Schah zu Beginn der Massendemonstrationen gegen ihn 1978 durch wichtige Zugeständnisse die Revolutionäre derart ermutigt, dass sie damit letztlich den Sieg errangen. Khamenei, selbst einer dieser Revolutionäre, habe die Lehre aus der Geschichte gezogen. Unnachgiebigkeit, Härte und Mobilisierung eigener Anhänger zählten deshalb zu den Rezepten, die einen erneuten Umsturz verhindern sollten, auch um den Preis eines Bürgerkrieges.
Und gestand Sazegara jüngst in einem Interview mit dem amerikanischen CBC Radio International: „Ich bin optimistisch. Beherrschte vor drei Jahrzehnten die revolutionäre islamische Ideologie den Diskurs, so haben heute selbst religiöse Intellektuelle eine demokratische Version des Islams mit einem Minimum an religiösen Ideen entwickelt.“ Die Vorstellungen von Demokratie, Freiheit, Toleranz und Achtung der Menschenrechte geben heute den Ton an. Sazegara strebt, wie eine wachsender Zahl insbesondere unter den iranischen Intellektuellen, nach einer säkularen Demokratie. Und er übermittelt seiner großen Zahl von „Schülern“ ein Rezept für die Zukunft: „Die säkulare Demokratie kann ich niemandem aufzwingen.“ Nach dem Sturz des Regimes Khamenei sollten vielmehr mit Hilfe internationaler Organisationen die Iraner in einer Volksabstimmung entscheiden, ob sie tatsächlich das Ende der „Islamischen Republik“ erstreben. „Lehnen sie diese ab, dann schreiben wir einen neuen Verfassungsentwurf, und ich werde mich für eine demokratische, säkulare Republik engagieren.“
„Wir haben es nicht eilig“, meint der sich zum säkularen Demokraten gemauserte Jünger Khomeinis. „Wir spielen Schach mit den Revolutionsgarden (der Schlüsselkraft des Regimes), die nur eine Methode kennen: Unterdrückung, Haft und Folter. Das Volk hat viele Optionen.“
Erschienen in Auszügen im „Rheinischen Merkur“ am 6.1.2010
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von Birgit Cerha
Sie sind überall. Gleich einem Schreckgespenst tauchen sie auf, verschwinden wieder, nur um erneut in Erscheinung zu treten. Selbst wenn sie nicht in Massen demonstrieren, sind sie allgegenwärtig als oft stille Bedrohung eines zunehmend in die Enge getriebenen Regimes, das in wilder Brutalität um sich schlägt. Irans „Grüne Bewegung“ für Freiheit, Menschenrechte und Demokratie filtert immer tiefer in die Kanäle der Gesellschaft des „Gottesstaates“. Fromme Frauen in schwarzen Schadors schlossen sich ihr ebenso an, wie Männer, die sich mit ihren Bärten zu den Grundsätzen der khomein’schen Revolution bekannten oder vielleicht sogar immer noch bekennen. Die wachsende Schar der sozial Schwachen, der über Misswirtschaft und Korruption Erboßten stärkt ihre Reihen ebenso, wie Eltern, Freunde der Opfer immer brutaler werdender Repressionen durch das Regime.
Auch Massenverhaftungen, Folter, Mord in Gefängnissen und auf den Straßen, konstante verbale und physische Bedrohung hat den freiheitshungrigen Iranern nicht den Mut geraubt.Zunehmend unerschrocken zeigen sie sich bereit, selbst ihr eigenes Leben zu riskieren in dem wachsenden Wunsch, das Schicksal ihrer Heimat selbst in die Hand zu nehmen und die Geschichte zu lenken.
Auf Banknoten schreiben sie mit grüner Farbe ihre Botschaften, in den Geschäften fordern sie einander flüsternd zum Boykott von Waren aus der Produktion staatlicher Institutionen auf, insbesondere jene aus Fabriken der für die Repressionen verantwortlichen Revolutionsgarden. Aktivisten der „Grünen“ drängen Bürger, keine Produkte von Mobil-Telefonfirmen zu kaufen, die das Regime mit Technologie versorgen. Die Hilflosigkeit des Regimes gibt ihnen immer neuen Mut, so etwa der Vorsprung, den sie in einem harten Wettlauf mit Graffitis errangen.
„Nieder mit dem Diktator“ ist längst der wichtigste Slogan der „Grünen“ geworden, in Teheran ebenso, wie in Shiraz, Karaj, Qom, Isfahan und anderen Städten im ganzen Land. „Nieder mit dem Diktator“ wird auch in riesigen Lettern auf Häuserwände, Geschäftsportale in armen und reichen Vierteln Teherans geschrieben. Eilig versucht das Regime den Affront zu übermalen, doch die Kritzler sind schneller. Die Verzweiflung, die Irans Despoten durch ihre Gegenkampagne entlarven, ermutigt die Rebellen, so etwa, wenn Fußballmatches im Fernsehen nur noch in Schwarz-Weiß übertragen werden, damit das Volk nicht erkennt, dass die Masse der Zuschauer Grün trägt.
Was Irans Theokraten besonders beunruhigen muss, sind starke Anzeichen dafür, dass der Geist der Demokratie nicht nur die Studenten, die vor drei Jahrzehnten eine entscheidende Rolle zum Sieg der islamischen Revolution über den Schah gespielt hatten, sondern auch die Schulen zu erobern beginnt. Damit könnte sich die „Grüne Bewegung“ zur größten und umfassendsten politisch-kulturellen Strömung der jüngeren Geschichte des Irans entwickeln. In einer Mittelschule in Teheran etwa widersetzten sich die Schüler der Anordnung des Direktors: Statt „Marg bar Amrica“ (Tod Amerika) brüllten sie „Marg bar Dicatator“. An einer Schule in Karaj weigerten sich Schüler, zur Feier des 30. Jahrestages der Besetzung der US-Botschaft am 4. November amerikanische Flaggen zu verbrennen. Als der Direktor rote, grüne und weiße Ballons (die Farben der iranischen Flagge) verteilte, zerstachen die Jugendlichen die roten und weißen und hielten die grünen in ihren Händen. Anderswo widersetzte sich eine zwölfjährige Arbeitertochter nach einem Bericht von „Mianeh“, einer neuen unabhängigen Web-Initiative, ihrem Lehrer, der sie aufgefordert hatte, auf eine auf dem Boden liegende US-Flagge zu steigen, bevor sie das Klassenzimmer betritt. „Menschen in einem anderen Land lieben diese Flagge“, sagte das Mädchen, „warum soll ich sie missachten?“
Solche Aktionen des passiven Widerstandes in den Schulen stellen das Regime vor unlösbare Herausforderungen, können doch die paramilitärischen Bassidsch oder die Revolutionsgarden nicht wie gegen die Demonstranten in den Straßen mit aller Gewalt in die Schulen des Landes eindringen. Selbst der „Geistliche Führer“ Khamenei, der sich über jedes Gesetz erhebt und sogar vor Attacken gegen religiöse Institutionen und Traditionen nicht mehr zurückschreckt, kann es nicht wagen, diese rote Linie zu überschreiten.
Die symbolischen Führer der „Grünen Bewegung“, Mir Hussein Mussawi, Mehdi Karrubi und mehr im Hintergrund Mohammed Khatami, verfolgen die zunehmend aus ihrer Larve entschlüpfende Massenströmung mit einer Mischung aus Erstaunen, Ohnmacht und Angst. Sie alle, treue Jünger Khomeinis, bekannten sich bisher energisch zur Verfassung des „Gottesstaates“, dem sie lediglich ein wenig Demokratie, Transparenz und die Achtung der Menschenrechte einhauchen wollten. „Wir fordern die uneingeschränkte Durchsetzung der Verfassung und die Rückkehr zu den ethischen Grundlagen der Islamischen Republik. Wir fordern eine „Islamische Republik, nicht ein Wort mehr und nicht ein Wort weniger.“ Diesen zentralen Wahlspruch seiner Kampagne aber wiederholt Mussawi seit November nicht mehr.
„Sie (die Oppositionsführer) wollten eine Omelette kochen, ohne die Eier aufzuschlagen. Nun mussten sie erkennen, dass (das Volk) rascher voranschreitet als sie sich vorgestellt hatten“, analysiert ein enger Berater Mussawis.
Ein anderes wichtiges Ziel mussten Karrubi und Mussawi aufgeben. Nach den manipulierten Präsidentschaftswahlen im Juni hatten sie sich jeder direkten Kritik an Khamenei in der Hoffnung enthalten, mit dem „Führer“ einen Pakt auszuhandeln, in dem sie sich zur Verteidigung des Atomprogramms verpflichteten, im Gegenzug für ein Ende der Repressionen. Die Massen aber riefen unterdessen: „Gebt die Urananreicherung auf. Tut etwas gegen die Armut“ und boykottierten damit derartige Pläne. Die Demokratie-Bewegung hegt kein Interesse an einem Kompromiss mit Khamenei, den sie des Verrats an seiner konstitutionellen Rolle als unparteiischer Schiedsrichter bezichtigen, da er sich noch vor Bekanntgabe der offiziellen (manipulierten) Wahlergebnisse im Juni bedingungslos hinter Präsident Ahmadinedschad gestellt hatte. Mussawi hat unterdessen auch Pläne zur Gründung einer – bisher allerdings erst vage entworfenen – „Grünen Organisation“ in der Erkenntnis aufgegeben, dass diese Anti-Regime-Bewegung zu mannigfaltig, vielleicht auch zu widersprüchlich ist, um in ein zentral kontrolliertes Gefüge gepresst zu werden, vereint sie doch Jung und Alt, modern und traditionalistisch Denkende ebenso, wie gläubige Muslime und Säkularisten.
Die Bewegung, die mit dem Slogan „Wo ist meine Stimme“ im Juni aus Protest gegen die Wahlmanipulation, durch die der Präsidentschaftskandidat Mussawi um seinen Sieg betrogen worden war, begonnen hatte, brach unterdessen mit den höchsten Tabus der „Islamischen Republik“ und erstrebt nicht weniger als den Sturz des Regimes. Darauf zumindest lassen die populärsten Slogans schließen, die Demonstranten in allen Landesteilen rufen.
Im Laufe der Wochen aber hat der wenig charismatische Mussawi dennoch an Popularität gewonnen, manche meinen er sei gar zu einem echten Reformer, wenn auch nicht Revolutionär, gereift. Durch seine jüngst über seine Website bekundete Bereitschaft, selbst sein Leben für Demokratie, Menschenrechte und ein transparentes System, wiewohl nicht dessen Sturz, zu opfern, hat er sich zunächst seine Position als symbolischer Führer der „Grünen Bewegung“ erhalten. Einen tatsächlichen Führer aber hat die „Grüne Bewegung“ ebenso wenig wie eine klar umrissene Ideologie. Die bekannten Khatami nahe stehenden Reformer sitzen im Gefängnis, wurden massiv eingeschüchtert, ebenso prominente Journalisten und andere Intellektuelle. Es sind Studenten, Hausfrauen, Arbeiter aller Altersgruppen, Angehörige der Mittelklasse, die oft ganz spontan Demonstrationen organisieren. Ihre Waffen sind das Internet, Mobiltelefon oder Youtube, Flugzetteln und Mundpropaganda. Sie werden über das Web auch von Exil-Iranern instruiert. Einer der prominenteste unter ihnen ist der einstige Mitstreiter Khomeinis Mohsen Sazegara. Mitbegründer der Revolutionsgarden, geriet er schon in den 80er Jahren in Konflikt mit den autoritären Zügen des Systems und lebt nun in den USA. Fests davon überzeugt, dass das islamisch-demokratische Experiment gescheitert ist, versucht er nun die „Grüne Bewegung“ mit Hilfe von täglich zehnminütigen über das Internet verbreiteten Videoaufnahmen in Methoden des zivilen Ungehorsams auf der Basis der eigener Erfahrungen aus der islamischen Revolution zu instruieren.
Eine empfohlene Methode ist das Gespräch mit Angehörigen der Revolutionsgarden aus der Nachbarschaft, die öffentliche Darstellung der Repressionen auf Plakaten, um die Sicherheitskräfte zu demoralisieren. Ein Effekt lässt sich bereits erkennen: Nicht Protestierende verhüllen ihre Gesichter, sondern die auf sie einschlagenden paramilitärischen Bassidsch und Revolutionsgarden.Sazegaras Ratschläge sollen täglich an die 500.000 Iraner hören und sehen.
Von einem gewaltsamen Umsturz will Sazegara nichts wissen und er teilt damit wohl eine im Iran weit verbreitete Ansicht. Gewaltlosigkeit ist für ihn ein entscheidender Faktor für einen nachhaltigen Erfolg. Eine „langsame Revolution“ mit den Methoden der Überredung, Zermürbung, des zivilen Ungehorsams, die Schritt um Schritt das ganze Land in ihren Bann zöge, sei der einzige Weg zum Sieg. Diese erste „post-moderne Rebellion“, so Sazegara, brauche keine Führerpersönlichkeiten, sie gleiche vielmehr einer Kette, deren jedes Glied ein Führer sei. Dabei öffnet sich die Kluft zwischen den Demonstrierenden und ihren „symbolischen Führern“ immer weiter.
Zugleich hat Khamenei durch seine bedingungslose Allianz mit Präsident Ahmadinedschad drastisch an politischen Spielraum verloren, vollends abhängig von den wahren neuen Machthabern, den Revolutionsgarden. Deren Brutalitäten rauben dem „Geistlichen Führer“ nun auch noch zunehmend seine eigene islamische Basis. Immer mehr Ayatollahs gehen auf Distanz zu ihm. Durch die hartnäckige Weigerung, einen Kompromiss mit der „Grünen Bewegung“ zu suchen, die Radikaleren von den im System verbleibenden Kritikern zu trennen, riskiere das Regime nach den Worten des gemäßigt konservativen Parlamentssprechers Ali Laridschani „den Zusammenbruch des Landes“. Warum? Darauf findet die unabhängige iranische Politologin Farideh Farhi eine schlüssige Antwort: Nach einer im Iran weit verbreiteten Überzeugung, hatte der Schah zu Beginn der Massendemonstrationen gegen ihn 1978 durch wichtige Zugeständnisse die Revolutionäre derart ermutigt, dass sie damit letztlich den Sieg errangen. Khamenei, selbst einer dieser Revolutionäre, habe die Lehre aus der Geschichte gezogen. Unnachgiebigkeit, Härte und Mobilisierung eigener Anhänger zählten deshalb zu den Rezepten, die einen erneuten Umsturz verhindern sollten, auch um den Preis eines Bürgerkrieges.
Und gestand Sazegara jüngst in einem Interview mit dem amerikanischen CBC Radio International: „Ich bin optimistisch. Beherrschte vor drei Jahrzehnten die revolutionäre islamische Ideologie den Diskurs, so haben heute selbst religiöse Intellektuelle eine demokratische Version des Islams mit einem Minimum an religiösen Ideen entwickelt.“ Die Vorstellungen von Demokratie, Freiheit, Toleranz und Achtung der Menschenrechte geben heute den Ton an. Sazegara strebt, wie eine wachsender Zahl insbesondere unter den iranischen Intellektuellen, nach einer säkularen Demokratie. Und er übermittelt seiner großen Zahl von „Schülern“ ein Rezept für die Zukunft: „Die säkulare Demokratie kann ich niemandem aufzwingen.“ Nach dem Sturz des Regimes Khamenei sollten vielmehr mit Hilfe internationaler Organisationen die Iraner in einer Volksabstimmung entscheiden, ob sie tatsächlich das Ende der „Islamischen Republik“ erstreben. „Lehnen sie diese ab, dann schreiben wir einen neuen Verfassungsentwurf, und ich werde mich für eine demokratische, säkulare Republik engagieren.“
„Wir haben es nicht eilig“, meint der sich zum säkularen Demokraten gemauserte Jünger Khomeinis. „Wir spielen Schach mit den Revolutionsgarden (der Schlüsselkraft des Regimes), die nur eine Methode kennen: Unterdrückung, Haft und Folter. Das Volk hat viele Optionen.“
Erschienen in Auszügen im „Rheinischen Merkur“ am 6.1.2010
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Freitag, 1. Januar 2010
AFGHANISTAN: 2010 ein weiteres Kriegsjahr für Afghanistan
von Dr. Arnold Hottinger
Die Aussichten der Afghanistan Strategie Obamas
Nach langem inneren Ringen hat Präsident Obama sich entschlossen, dem Gesuch seiner Militärs statt zu geben, die eine bedeutende Truppenverstärkung in Afghanistan fordern. Ohne diese, so sagen sie, bestehe Gefahr dass der Krieg verloren gehe. Unter den Beobachtern und Fachleuten, die Afghanistan kennen, unter ihnen gibt es auch einige Amerikaner, erhoben sich viele Stimmen der Warnung. Diese Kritiker sagten in weitgehender Übereinstimmung, mehr Truppen in Afghanistan würden nur dazu dienen, die dortige Lage weiter zu verschlechtern. Dies, weil soviele Truppen wie nötig wären, um das Land ganz zu befrieden, weder zur Verfügung stünden noch finanziell tragbar wären. Manche zitierten dabei das Handbuch der amerikanischen Truppen über Counter Insurgency (Aufstandsbekämpfung), nach welchem für ein Land von der Grösse und Bevölkerung Afghanistans 400 000 Mann notwendig wären. Mit den nun geplanten Verstärkungen werden die amerikanischen Truppen etwa eine Stärke von rund 100 000 Mann erreichen.
Wo stehen die Afghanen?
Eine in diesem Masse ungenügende Zahl von Truppen, so die Kritiker, drohe mehr dazu beizutragen, immer neue Gruppen von Afghanen gegen die fremden Eindringlinge zu mobilisieren, und werde deshalb den Aufstand der „Taleban“ mehr fördern als ihn zu ersticken. Die amerikanischen Kommandanten geben dies indirekt zu, wenn sie sagen, wenn sie die Zuneigung der Bevölkerung nicht gewönnen, sei auch der Krieg nicht erfolgreich zu Ende zu bringen. Womit sie einräumen, dass ihre Truppen allein, ohne Unterstützung in der Bevölkerung, dies nicht vermögen.
Es ist aber sehr deutlich, dass gegenwärtig die amerikanischen und ihre Nato Hilfs-Truppen keineswegs im Begriff sind, die Zuneigung der Bevölkerung zu gewinnen. Vielmehr verlieren sie diese zusehends. Die Taleban als Guerrilla kämpfen in engem Kontakt mit der Bevölkerung. Wo sie nicht freiwillig aufgenommen werden (was wohl primär in vielen der Bevölkerungszentren der Pashtunen der Fall sein dürfte), erzwingen sie die unfreiwillige Mitarbeit der Landbevölkerung einfach durch den Umstand, dass sie mit ihren Waffen überall dort präsent sind, wo die Amerikaner und ihre Hilfstruppen fehlen, und dass sie brutal gegen alle sogenannten Verräter vorgehen.
Die negative Rolle der Luftangriffe
Die amerikanischen und die Nato Truppen benützen ihr Waffenmonopol in der Luft, um ihre eigenen Truppen zu schützen, wenn sie angegriffen werden und um vermutete Taleban Konzentrationen, Ausbildungslager, Kommandostellen zu bombardieren. Neben dem klassischen Luftwaffen Inventar von Helikoptern, Kriegsflugzeugen und Raketen kommt immer intensiver die neue Waffe der ferngesteuerten Drohnen zum Einsatz.
Bei diesen Luftaktionen kommen sowohl Taleban wie auch Teile der Zivilbevölkerung um ihr Leben. Die Proportionen sind umstritten. Die Armeesprecher behaupten meist, Taleban seien getroffen worden. Die afghanische Bevölkerung einschliesslich der lokalen Behörden erklären dagegen ziemlich regelmässig, das Gross der Opfer seien Zivilisten, einschliesslich Frauen und Kinder. Die Afghanen dürften geneigt sein, eher den Afghanen als den amerikanischen Kriegsmeldungen Glauben zu schenken, und es ist in der Tat wahrscheinlich, dass die Meldungen der Militärsprecher , die oft auf blossen Schätzungen beruhen, die Zahlen der Kämpfer überbetonen und jene der Zivilopfer untertreiben, soweit sie diese überhaupt in Rechnung stellen.
Jedenfalls ist der Zorn der Afghanen auf die als indiskriminierend empfundenen Luftangriffe seit langem spürbar und dürfte immer weiter anwachsen. Rachepflicht für erschlagene Stammesangehörige besteht in allen afghanischen Stämmen. Die Taleban sind in der Lage, sich diese Umstände zu Nutzen zu machen.
Polizei und Armee der afghanischen Regierung
Da auch die amerikanischen Strategen wissen, dass ihre eigenen Truppen mit oder ohne Verstärkungen nicht ausreichen, um Afghanistan mit Gewalt zu befrieden, setzt ihre Strategie (die Obama nun übernommen hat) stark auf die Mitwirkung afghanischer Regierungstruppen und der afghanischen Polizei. Die Befürworter einer verstärkten Kriegsführung räumen allerdings ein, dass weder die afghanischen Regierungstruppen noch die Polizei heute einsatzbereit und in der Lage seien, den Taleban erfolgreich zu widerstehen. Sie setzen dennoch auf die Aushebung von mehr Regierungstruppen und die Ausbildung von grossen Zahlen von Polizisten. Schlussendlich, so die heutigen Vorstellungen der amerikanischen Strategen, sollen die Afghanen selbst unter ihrer eigenen Regierung die Sicherheitsverantwortung für ihr Land wahrnehmen und den Amerikanern und Nato Soldaten erlauben, sich aus Afghanistan zurückzuziehen.
Die Ausbildung von afghanischen Polizisten und Soldaten wird deshalb als die zweite Hauptaufgabe der amerikanischen Truppen und ihrer Nato-Hilfsvölker bezeichnet. Doch bisher muss diese Ausbildung als weitgehend misraten gelten. Die Polizei ist allgemein bekannt als korrupt, und die Regierungsarmee gilt als unfähig, auf eigene Verantwortung und mit ihren eigenen Mitteln zu handeln. Die Nuklei der heute bestehenden Truppen sollen rasch vervielfacht werden. Dies müsste in kurzer Zeit geschehen, und gleichzeitig mit der Ausdehnung der Bestände müssste eine entscheidene Verbesserung ihrer inneren Disziplin und Kampfqualität bewirkt werden. – Beides zusammen und gleichzeitig wirkt wie ein Ding der Unmöglichkeit.
Eine korrupte Regierung als Partner?
Die innenpolitische Lage wirkt sich negativ auf diese ohnehin nicht besonders realistisch erscheinenden Hoffnungen aus. Die Regierung Karzai gilt nicht nur in den Augen der Amerikaner sondern auch in jenen der Afghanen selbst als korrupt. Sie beherrscht – mit amerikanischer Hilfe – wenig mehr als die Stadt Kabul. In jenen Aussenbereichen, die noch nicht voll unter dem Einfluss der Taleban stehen, wie der Provinz von Herat, jenen des Nordens und den Bergtälern der Hazara, ist die Regierung auf die Unterstützung der lokalen Warlords angewiesen. Diese verfolgen primär ihre eigenen Interessen und unterhalten zu diesem Zweck eigene Milizen. Proforma unterstützen sie Karzai und seine Regierung, schon weil dies ihnen erlaubt, sich gut mit den Amerikanern zu stellen und Hilfsgelder von ihnen zu erhalten. - Es ist diese Nicht-Regierung, deren Polizei und Regierungstruppen die Amerikaner soweit ausbilden wollen, dass sie am Ende die Sicherheitsverantwortung für das ganze Land übernehmen könnten.
Wesentlich zur im ganzen Lande vorherrschenden Korruption trägt die Drogenwirtschaft bei, in die auch hochstehende Regierungsspitzen mit verwickelt sein sollen. Das Drogenwesen ist zugleich eine der Hauptfinanzierungsquellen der Taleban. Der Kampf gegen die Drogen, der ebenfalls zum Aktionsprogramm der Amerikaner gehört, ist bisher nicht glücklich verlaufen. Die Produktion wächst statt abzunehmen.
Aderthalb Jahre für eine Umkehr
Obama hat für die erhofften Vorgänge, die eine Umkehr aller bis heute sichtbaren Entwicklungen im Land voraussetzten, einen sehr knappen Zeitraum angesetzt. Er sagt heute, im Sommer 2011 müssten die Amerikaner in die Lage gelangen, den Abzug ihrer Truppen zu beginnen. Dies ist natürlich eine bewusst vague Formulierung, die allerhand Verzögerungen und Fristverlängerungen zulassen dürfte. Doch die Formel macht auch klar, dass nun eiliger Handlungsbedarf bestehe, nachdem in den sieben Jahren seit dem Jahr 2002, wegen Vernachlässigung des afghanischen Kriegsschauplatzes im Schatten des Irak Krieges, im wesentlichen zuerst nichts geschehen war und später deutliche Rückschritte zu Gunsten von strategischen Gewinnen der Taleban offenbar wurden.
Der schwierige Verbündete Pakistan
Wie jedermann weiss, hat der Krieg in Afghanistan einen zweiten Schauplatz in Pakistan. Obama hat auch ihn angesprochen. Auch in Pakistan sind gegenwärtig die Taleban (man unterscheidet Pakistanische von Afghanischen Taleban, jedoch beide arbeiten zusammen) im Vormarsch. Auf Druck der Amerikaner hat die pakistanische Armee zwei Initiativen gegen sie unternommen, eine erste im vergangenen Frühsommer in Swat und eine zweite seit Oktober in Süd-Waziristan. Beide haben sie grosse Mengen von lokaler Bevölkerung zur Flucht nach dem Inneren Pakistans gezwungen. Beide Offensiven wurden als Erfolge der pakistanischen Armee dargestellt. Es ist dieser in der Tat auch gelungen, den Taleban ihre Herrschaft über Swat zu entreissen und einige zentrale Stützpunkte der Rebellen in Süd-Wasiristan zu erstürmen. Doch ist unklar, wieviele Taleban in diesen Aktionen getötet oder gefangen wurden und wie gross jene Teile waren, die sich bei Zeiten zurückzogen und darauf warten, zu jenem Zeitpunkt in die heute umkämpften Gebiete zurückzukehren, in dem die Präsenz der pakistanischen Kampftruppen abnimmt. Um die amerikanische Terminologie ( von clear, hold, build) anzuwenden, die „Säuberung“ war erfolgreich, doch der Erfolg der„holding“ Phase ist ungewiss und von der „Aufbau“ Phase, die ihr folgen müsste, scheint bisher noch kaum die Rede zu sein.
Unklare Resultate der Armeeoffensiven
Es fällt auf, dass nach anfänglichen Fluten von Heeresmitteilungen über Swat und später über Süd-Wasiristan nun Stillschweigen vorherrscht. Es bleibt unklar, ob die dortigen Offensiven ihre Ziele erreicht haben, ob sie weiter gehen, welche politischen Schritte nach den militärischen stattfinden, falls es überhaupt solche gibt. Deutlich ist nur, dass die pakistanischen Taleban ihre Bombenaktionen im pakistanischen Inneren, weit über Peschawar hinaus, gesteigert haben. Ihre Terrorakte fordern fast täglich neue zivile Opfer.
ISI als Partner der Taleban
Die Amerikaner selbst sprechen davon, dass sie es in Pakistan mit einem doppelgesichtigen Partner zu tun haben. Sie wissen und sagen es laut, dass die pakistanischen Militärs über Jahre hinweg ihre eigenen Taleban mehr zu instrumentalisieren als zu bekämpfen suchten und die afghanischen Taleban einsetzten und förderten, ja sie ursprünglich weitgehend ins Leben riefen, um in Afghanistan Einfluss zu gewinnen. Sie versuchen heute diese Tendenzen der pakistanischen Offiziere, die bisher in ISI (Inter Service Intelligence) gebündelt waren, auszuschalten, indem sie den pakistanischen Behörden und Offizieren erklären, die grossen Hilfsgelder für Waffen und für zivile Projekte, die für Pakistan bereitgestellt sind, würden nur ausbezahlt, wenn die pakistanischen Militärs eindeutig auf die Seite Amerikas treten.
Sie müssen jedoch realisticher Weise damit rechnen, dass es einige pakistanische Geheimdienstchefs geben dürfte, die weiter versuchen, ein doppeltes Spiel zu treiben. Sie werden betonen, sie stünden auf der Seite Amerikas, doch ist schwerlich ganz und in jedem Fall auszuschliessen, dass sie unter der Hand weiterhin die afghanischen Taleban kultivieren und möglicherweise auch weiter versuchen, mit den pakistanischen Taleban politische Übereinkommen zu treffen. Alte Taleban Führer wie Mulla Omar geniessen seit dem amerikanischen Einmarsch nach Afghanistan von 2002 diskretes Asyl in pakistanisch Belutchistan. Bisher hat sich das nicht geändert. Was die pakistanischen Taleban angeht, hatten sie vor der Swat Offensive mit den pakistanischen Militärs verhandelt und Verträge geschlossen. Diese scheinen dann aber ihre Zusagen gebrochen zu haben. Sie nahmen ganz Swat voll in Besitz, tyrannisierten die lokale Bevölkerung und begannen sich in die Nachbardistrikte auszudehnen. Erst daraufhin wurde die Swat Offensive der Armee ausgelöst.
Endgültige Feindschaft zwischen ISI und Taleban?
Es könnte sein, dass neben dem Druck der Amerikaner das Verhalten der pakistanischen Taleban selbst dazu beiträgt, die Strategen der ISI umzuorientieren. Die Bombenanschläge im Inneren Pakistans markieren die Taleban als klare Feinde des pakistanischen Staates und damit auch seiner Streitkräfte. Doch vorläufig bleibt eine Unsicherheit darüber, ob die pakistanische Armee wirklich mit voller Macht darauf ausgeht, die Taleban in Pakistan auszuschalten, oder ob sie sich veranlasst sieht oder gezwungen glaubt, weiter mit ihnen nach Möglichkeit zu paktieren.
Indien spielt eine Rolle in dieser komplexen Balance. Bisher waren die Taleban ISI als Partner willkommen, die benützt werden konnten, um das strategische Übergewicht der indischen Streitkräfte gegenüber Pakistan einigermassen aufzuwiegen. Irreguläre Kämpfer im Heiligen Krieg, die von Pakistan her diskret unterstützt wurden, haben über viele Jahre hinweg dazu gedient, um eine bedeutende Teile des gesamten indischen Heeres in Kashmir zu binden. Manchmal waren es bis zur Hälfte der gesamten Streitkräfte. ISI sah und sieht wahrscheinlich weiterhin Indien als seinen Hauptfeind, die Taleban aber bisher und vielleicht heimlich noch immer als ein wichtiges Instrument, um Indien in Schach zu halten.
Regierung gegen Armee?
Präsident Zardari und sein Regierungschef, Yusaf Rasa Gilani, sehen dies nicht durch die gleiche Brille. Für sie wäre es wünschenswert, voll und ganz mit Washington zusammenzuarbeiten, die Hilfe aus Amerika voll auszuschöpfen und den Taleban das Handwerk zu legen, besonders jetzt, wo sie sich durch ihre Terrorschläge als schädlich erweisen und bei der betroffenen Bevölkerung unbeliebt machen. Solange die Regierung Gilani an der Macht bleibt oder eine demokratische Nachfolgerin aufweist, haben die Amerikaner einen Partner in Pakistan. Doch die Armee hat sich bisher als eine eigenständige Macht im Lande erwiesen, die periodisch alle Macht übernahm und Pakistan unter ihr Regime stellte. Dass sie dies wieder tun könnte, ist nicht ganz ausgeschlossen. Vielleicht aber vorläufig unwahrscheinlich, solange die amerikanischen Hiflsgelder für Zivilisten und Militärs so dringend gebraucht werden wie gegenwärtig. Die Armeespitzen müssen sich fragen, was sie im Fall einer Machtübernahme mit einem bankrotten Pakistan anfangen könnten.
Überwindbare Schwierigkeiten?
All diese Schwierigkeiten sind der Obama Regierung bewusst. Wenn man den Darstellungen von Strategiespezialisten folgt, die zu den engen Beratern des Generals McChrystal gehören,
(siehe z.B.Anthony H.Cordesman, Press Briefing vom 2. 12. 09 abhörbar auf http://CISIS.org/event/cisis-press-briefing-cordesman-discuss-president-obamas-announcement-afghanistan-strategy )
werden all diese Schwierigkeiten erwähnt mit dem Zusatz, dies müsse in Zukunft ganz anders werden. Was heute geschehe, müsse in sein Gegenteil umgedreht werden. Erfolg sei imperativ, und die Umkehr aller gegenwärtigen Entwicklungen sei die Voraussetzung dafür. Man bleibt mit der Frage, wie denn die Umkehr in allen wichtigen strategischen Bereichen erzielt werden soll.
Dazu wird auch als ein zweiter ziviler Flügel „Erfolg“ im Bereich der wirtschaftlichen und Entwicklungshilfe für die Afghanen gefordert. Wobei offen zugegeben wird, dass die grossen Gelder, die bisher in diesem Bereich verschwendet wurden, keine Wirkung erzielt hätten. Neben der alles durchdringenden Korrpution dürfte die fehlende Sicherheit dafür verantwortlich sein, dass keine wirksamen Hilfsunternehmen ausserhalb der grossen Städte zustande kamen, obwohl viele Pläne und grosse Initialausgaben dafür nicht gefehlt hatten. Versprochene wirtschaftliche und soziale Fortschrittte, die dann nicht zustande kommen, wirken natürlich besonders schädlich. Die Bevölkerung schliesst daraus, dass die Regierung Karzai und die sie stützenden Amerikaner nur so tun, jedoch nicht wirklich beabsichtigten, ihnen zu Hilfe zu kommen.
Die Lage der Bevölkerung ist vielerorts dermassen hoffnungslos, dass für sie die Fragen des Überlebens vor allen anderen Vorrang erhalten – auch jener, ob in der Zukunft von Kabul aus die Taleban oder, wie heute, die „Marionetten der Amerikaner“ regieren.
(vgl. Question Time for Afghan district governor. von BBC pashto service 18.12.09: news.bbc.co.uk/1/hi/world/south_asia/8387011.stm )
Auch in diesem weiten Bereich von effektiver Regierung und wirksamer Entwicklungshilfe fordern heute die amerikanischen Strategen, dass alles ganz anders, zu werden habe - man fragt sich nur, ob und wie sie das bewerkstelligen werden.
Die Sicht aus Washington
Wenn man nach den politischen Voraussetzungen und Gründen der nun angekündigten Afghanistan Strategie innerhalb der amerikanischen Politik Ausschau hält, muss man wohl von der Gesamtlage ausgehen, in der sich Obama zur Zeit befindet. Seine Kritiker, sowohl im Lager der Republikaner wie auch wachsend in jenem des linken Flügels der Demokraten, werfen ihm in steigender Lautstärke vor, er verstehe es zwar, grosse Reden zu halten, doch Erfolge im Sinn seiner Versprechen und Wünsche habe er kaum noch hervorgebracht.
Eine amerikanische Strategie des Machtabbaus in Afghanistan und der daraus fast unvermeidlich hervorgehenden Machtübernahme der Taleban würde von den Kritikern der Rechten und des Zentrums als der Anfang vom Ende und daher als ein klarer Misserfolg eingestuft worden. Es scheint durchaus denkbar, dass Obama urteilte, eine solche gewissermassen auf Misserfolg abzielende Strategie in Afghanistan sei unmöglich – nicht nur wegens des dadurch zu gewärtigenden Leidens der Afghanen und der Gefahren, denen Pakistan ausgesetzt wäre, sondern auch in Bezug auf das eigene Renomé. Die schon 2010 bevorstehenden parlamentarischen Wahlen könnten dadurch verloren gehen, indem sie republikanische Mehrheiten in beiden Kammern hervorbrächten. Angesichts dieser Doppelbedrohung könnte Obama sich für die Vorwärtsstrategie in Afghanistan entschlossen haben, - nicht nur wegen Afghanistan sondern auch wegen Amerika.
Was wäre ein Sieg in Afghanistan?
Wie eine Niederlage in Afghanistan aussähe, kann man klar umschreiben; sie wäre durch die Machtübernahme der Taleban in Kabul gegeben. Viel verschwommener ist das Bild eines „Sieges“ der Amerikaner. Gewiss, optimal wäre Sicherheit im ganzen Lande und eine aktionsfähige, mehr oder weniger demokratisch abgestützte, afghanische Regierung in Kabul. Doch von diesem Idealbild kann man Abstriche machen und immernoch eine Art von Erfolg, wenn nicht Sieg, proklamieren. Etwa: eine afghanische Regierung, welche die Macht in den grossen Städten ausübt, wo immerhin etwa ein Drittel aller Afghanen leben und der es gelingt, mit den lokalen Mächten und Stammesführern, darunter vielleicht auch einige Taleban oder ehemalige Taleban, zusammenzuarbeiten. Als „Sieg“ könnte auch beschrieben werden, wenn in diesem oder in jenen Bereich (Sicherheit, Wirtschaft, effektive Regierung, Korruptions- und Drogenbekämpfung) eine Umkehr der heutigen negativen Entwickungen bewirkt würde.. Schliesslich genügte vielleicht auch nur die Wahrnahme einer derartigen Umkehr, gestützt auf mehr oder weniger glaubwürdige Statistiken und Entwicklungskurven, deren mindestens kurzfristiger Verlauf positiv ausgelegt werden kann. (Dieses würde ungefähr dem zur Zeit im Irak wahrgenommenen „Erfolg“ entsprechen.)
All dies, auch bloss teilweise erzielte und vielleicht bloss provisorische Erfolge, böte einen besseren Ausgangspunkt für die kommenden Wahlen als ein offener Verzicht auf den Krieg in Afghanistan. Wobei allerdings unberücksichtigt bleibt, was für die Afghanen und die Pakistani auf mittlere oder auf längere Sicht verderblicher wäre: ein weiteres Jahr Krieg, ohne echten Erfolg und danach erneut die Frage, ob weitermachen wie bisher, indem man den Krieg um ein weiteres Jahr verlängert mit dem Ziel, eine mögliche Machtergreifung der Taleban zu vermeiden? - Oder aber schon heute ein Ende mit Schrecken?
Gäbe es andere Möglichkeiten?
Einige der Kritiker der Verstärkungsstrategie haben alternative Pläne skizziert, die ihrer Ansicht nach erlauben könnten, der afghanischen Falle ohne weitere Truppeneinsätze zu entkommen. Sie arbeiten dabei mit politischen Schritten, die zu verwirklichen wären. Etwa einer anzustrebenden Versöhnung zwischen Pakistan und Indien unter Lösung der Kashmirfrage, als Voraussetzung dafür, dass Pakistan sein Verhältnis zu Afghanistan grundlegend änderte, - und in Afghanistan eine anzustrebende Loya Jirga, in der auch die Taleban vertreten sein müssten, um die Zukunft des Landes ohne amerikanisches Diktat zu bestimmen. Dies gestützt durch Hilfsmassnahmen im Grössenbereich eines Teiles der Gelder, die gegenwärtig für den Krieg verschleudert werden. (Zur Zeit soll jeder Tag des Kriegs in Afghanistan 165 Mio Dollar kosten, Tendenz steigend, proportional zu den geplanten Truppenverstärkungen).
William R. Polk, Orientalist, Historiker und erfahrener Mitarbeiter im amerikanischen Sicherheitsrat unter Kennedy, hat derartige Lösungsansätze umschrieben.
William R. Polk: Let America be America and Depart Afghanistan, guest editorial im Blog: „Informed Comment2“von Juan Cole, 22.Nov.2009.
Dergleiche: Open letter to President Obama in: The Nation, 19. Oct.2009 http://www.thenation.com/doc/2009/polk. Vgl. auch viele andere Afghanistan Artikel in The Nation. Ebenso Patrick Seale in Agence Global, Can Pakistan Insurgent be tamed? Und andere Artikel unter „Afghanistan“: http://agenceglobal.com/list.asp?type=3&id=7 Vgl. auch Ahmed Rashid in bbc: Afghan and Pakistani doubts over Obamas plan,
http://news.co.uk/2/hi/south_asia/839047.stm
All diese Kritiker unterstreichen, dass eine Lösung in Afghanistan einen internationalen Rahmen unter Beteiligung aller angrenzenden und benachbarten Länder, Chinas, Irans, der zentralasaitischen Republiken, Indiens, Pakistans, Russlands und der USA zur Neutralisierung Afghanistans benötige, sowie eine Serie von Kompromissen unter allen Afghanen. Sie glauben alle, dass solche Schritte erst Wirklichkeit werden können, nachdem Amerika seine Truppen abgezogen habe, oder mindestens glaubwürdig klarstelle, dass dies in einer bestimmten Frist mit Sicherheit geschehen werde. Die meisten von ihnen erklären auch, dass Afghanistan heute keine Bedrohung für die USA oder Europa abgäbe, sogar wenn die Taleban dort regieren sollten, weil al-Qa’eda längst nicht mehr von Afghanistan aus agiere sondern dezentralisiert in und aus jenen muslimischen oder auch westlichen Ländern, die ihr Gelegenheit dazu bieten.
Die Prognose für 2010
Man kann angesichts all der skizzierten Entwicklungen für das Jahr 2010 in Afghanistan und in Pakistan erwarten, dass alles im wesentlichen unverändert fortdauern wird. Dramatische Veränderungen im positiven und im negativen Sinne sind nicht ganz auszuschliessen. Doch die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass der amerikanische und Nato-Krieg in Afghanistan andauern wird, ohne eine entscheidende Niederlage der Taleban zu bewirken, eher wohl noch ein weiteres Ansteigen der Macht der Rebellen ausserhalb der grossen Städte und eine Fortdauer der Bombenanschläge.
Auch in Pakistan ist es unwahrscheinlich, dass die pakistanischen Taleban aus allen Gebieten der Nordwestregion, einschliessich der Stammesgebiete, vertrieben werden können. Auch dort werden sie ihr Möglichstes tun, um die Bombenattentate im Inneren Pakistans fortzuführen. Dass in Kabul im kommenden Jahr wesentlich weniger korrupt regiert werden wird als im vergangenen, ist ebenfalls unwahrscheinlich, obwohl Karzai dies gegenwärtig den Amerikanern verspricht. Dies und die fortdauernde Unsicherheit werden auch, wie im vergangenen Jahr, die eigentlich vorgesehene Entwicklungshilfe sehr weitgehend im Sand verlaufen lassen. Die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass man am Ende des kommnenden Jahres im besten Fall vor einer im wesentlichen gleichen Sitation stehen wird wie heute. Ein negativeres Szenario würde auf weiteren Verfall hinauslaufen. Als Gewinn würde dann einzig dastehen, dass Obama keine Niederlage in Afghanistan und Pakistan eingestehen müsste und vielleicht sogar in die Lage käme, mehr oder weniger glaubwürdig zu behaupten, „positive Entwicklungen“ liesssen sich feststellen oder stünden immerhin vor der Türe.
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