Freitag, 1. Januar 2010

AFGHANISTAN: 2010 ein weiteres Kriegsjahr für Afghanistan


von Dr. Arnold Hottinger


Die Aussichten der Afghanistan Strategie Obamas
Nach langem inneren Ringen hat Präsident Obama sich entschlossen, dem Gesuch seiner Militärs statt zu geben, die eine bedeutende Truppenverstärkung in Afghanistan fordern. Ohne diese, so sagen sie, bestehe Gefahr dass der Krieg verloren gehe. Unter den Beobachtern und Fachleuten, die Afghanistan kennen, unter ihnen gibt es auch einige Amerikaner, erhoben sich viele Stimmen der Warnung. Diese Kritiker sagten in weitgehender Übereinstimmung, mehr Truppen in Afghanistan würden nur dazu dienen, die dortige Lage weiter zu verschlechtern. Dies, weil soviele Truppen wie nötig wären, um das Land ganz zu befrieden, weder zur Verfügung stünden noch finanziell tragbar wären. Manche zitierten dabei das Handbuch der amerikanischen Truppen über Counter Insurgency (Aufstandsbekämpfung), nach welchem für ein Land von der Grösse und Bevölkerung Afghanistans 400 000 Mann notwendig wären. Mit den nun geplanten Verstärkungen werden die amerikanischen Truppen etwa eine Stärke von rund 100 000 Mann erreichen.

Wo stehen die Afghanen?
Eine in diesem Masse ungenügende Zahl von Truppen, so die Kritiker, drohe mehr dazu beizutragen, immer neue Gruppen von Afghanen gegen die fremden Eindringlinge zu mobilisieren, und werde deshalb den Aufstand der „Taleban“ mehr fördern als ihn zu ersticken. Die amerikanischen Kommandanten geben dies indirekt zu, wenn sie sagen, wenn sie die Zuneigung der Bevölkerung nicht gewönnen, sei auch der Krieg nicht erfolgreich zu Ende zu bringen. Womit sie einräumen, dass ihre Truppen allein, ohne Unterstützung in der Bevölkerung, dies nicht vermögen.
Es ist aber sehr deutlich, dass gegenwärtig die amerikanischen und ihre Nato Hilfs-Truppen keineswegs im Begriff sind, die Zuneigung der Bevölkerung zu gewinnen. Vielmehr verlieren sie diese zusehends. Die Taleban als Guerrilla kämpfen in engem Kontakt mit der Bevölkerung. Wo sie nicht freiwillig aufgenommen werden (was wohl primär in vielen der Bevölkerungszentren der Pashtunen der Fall sein dürfte), erzwingen sie die unfreiwillige Mitarbeit der Landbevölkerung einfach durch den Umstand, dass sie mit ihren Waffen überall dort präsent sind, wo die Amerikaner und ihre Hilfstruppen fehlen, und dass sie brutal gegen alle sogenannten Verräter vorgehen.

Die negative Rolle der Luftangriffe
Die amerikanischen und die Nato Truppen benützen ihr Waffenmonopol in der Luft, um ihre eigenen Truppen zu schützen, wenn sie angegriffen werden und um vermutete Taleban Konzentrationen, Ausbildungslager, Kommandostellen zu bombardieren. Neben dem klassischen Luftwaffen Inventar von Helikoptern, Kriegsflugzeugen und Raketen kommt immer intensiver die neue Waffe der ferngesteuerten Drohnen zum Einsatz.

Bei diesen Luftaktionen kommen sowohl Taleban wie auch Teile der Zivilbevölkerung um ihr Leben. Die Proportionen sind umstritten. Die Armeesprecher behaupten meist, Taleban seien getroffen worden. Die afghanische Bevölkerung einschliesslich der lokalen Behörden erklären dagegen ziemlich regelmässig, das Gross der Opfer seien Zivilisten, einschliesslich Frauen und Kinder. Die Afghanen dürften geneigt sein, eher den Afghanen als den amerikanischen Kriegsmeldungen Glauben zu schenken, und es ist in der Tat wahrscheinlich, dass die Meldungen der Militärsprecher , die oft auf blossen Schätzungen beruhen, die Zahlen der Kämpfer überbetonen und jene der Zivilopfer untertreiben, soweit sie diese überhaupt in Rechnung stellen.
Jedenfalls ist der Zorn der Afghanen auf die als indiskriminierend empfundenen Luftangriffe seit langem spürbar und dürfte immer weiter anwachsen. Rachepflicht für erschlagene Stammesangehörige besteht in allen afghanischen Stämmen. Die Taleban sind in der Lage, sich diese Umstände zu Nutzen zu machen.

Polizei und Armee der afghanischen Regierung
Da auch die amerikanischen Strategen wissen, dass ihre eigenen Truppen mit oder ohne Verstärkungen nicht ausreichen, um Afghanistan mit Gewalt zu befrieden, setzt ihre Strategie (die Obama nun übernommen hat) stark auf die Mitwirkung afghanischer Regierungstruppen und der afghanischen Polizei. Die Befürworter einer verstärkten Kriegsführung räumen allerdings ein, dass weder die afghanischen Regierungstruppen noch die Polizei heute einsatzbereit und in der Lage seien, den Taleban erfolgreich zu widerstehen. Sie setzen dennoch auf die Aushebung von mehr Regierungstruppen und die Ausbildung von grossen Zahlen von Polizisten. Schlussendlich, so die heutigen Vorstellungen der amerikanischen Strategen, sollen die Afghanen selbst unter ihrer eigenen Regierung die Sicherheitsverantwortung für ihr Land wahrnehmen und den Amerikanern und Nato Soldaten erlauben, sich aus Afghanistan zurückzuziehen.

Die Ausbildung von afghanischen Polizisten und Soldaten wird deshalb als die zweite Hauptaufgabe der amerikanischen Truppen und ihrer Nato-Hilfsvölker bezeichnet. Doch bisher muss diese Ausbildung als weitgehend misraten gelten. Die Polizei ist allgemein bekannt als korrupt, und die Regierungsarmee gilt als unfähig, auf eigene Verantwortung und mit ihren eigenen Mitteln zu handeln. Die Nuklei der heute bestehenden Truppen sollen rasch vervielfacht werden. Dies müsste in kurzer Zeit geschehen, und gleichzeitig mit der Ausdehnung der Bestände müssste eine entscheidene Verbesserung ihrer inneren Disziplin und Kampfqualität bewirkt werden. – Beides zusammen und gleichzeitig wirkt wie ein Ding der Unmöglichkeit.

Eine korrupte Regierung als Partner?
Die innenpolitische Lage wirkt sich negativ auf diese ohnehin nicht besonders realistisch erscheinenden Hoffnungen aus. Die Regierung Karzai gilt nicht nur in den Augen der Amerikaner sondern auch in jenen der Afghanen selbst als korrupt. Sie beherrscht – mit amerikanischer Hilfe – wenig mehr als die Stadt Kabul. In jenen Aussenbereichen, die noch nicht voll unter dem Einfluss der Taleban stehen, wie der Provinz von Herat, jenen des Nordens und den Bergtälern der Hazara, ist die Regierung auf die Unterstützung der lokalen Warlords angewiesen. Diese verfolgen primär ihre eigenen Interessen und unterhalten zu diesem Zweck eigene Milizen. Proforma unterstützen sie Karzai und seine Regierung, schon weil dies ihnen erlaubt, sich gut mit den Amerikanern zu stellen und Hilfsgelder von ihnen zu erhalten. - Es ist diese Nicht-Regierung, deren Polizei und Regierungstruppen die Amerikaner soweit ausbilden wollen, dass sie am Ende die Sicherheitsverantwortung für das ganze Land übernehmen könnten.

Wesentlich zur im ganzen Lande vorherrschenden Korruption trägt die Drogenwirtschaft bei, in die auch hochstehende Regierungsspitzen mit verwickelt sein sollen. Das Drogenwesen ist zugleich eine der Hauptfinanzierungsquellen der Taleban. Der Kampf gegen die Drogen, der ebenfalls zum Aktionsprogramm der Amerikaner gehört, ist bisher nicht glücklich verlaufen. Die Produktion wächst statt abzunehmen.

Aderthalb Jahre für eine Umkehr
Obama hat für die erhofften Vorgänge, die eine Umkehr aller bis heute sichtbaren Entwicklungen im Land voraussetzten, einen sehr knappen Zeitraum angesetzt. Er sagt heute, im Sommer 2011 müssten die Amerikaner in die Lage gelangen, den Abzug ihrer Truppen zu beginnen. Dies ist natürlich eine bewusst vague Formulierung, die allerhand Verzögerungen und Fristverlängerungen zulassen dürfte. Doch die Formel macht auch klar, dass nun eiliger Handlungsbedarf bestehe, nachdem in den sieben Jahren seit dem Jahr 2002, wegen Vernachlässigung des afghanischen Kriegsschauplatzes im Schatten des Irak Krieges, im wesentlichen zuerst nichts geschehen war und später deutliche Rückschritte zu Gunsten von strategischen Gewinnen der Taleban offenbar wurden.

Der schwierige Verbündete Pakistan
Wie jedermann weiss, hat der Krieg in Afghanistan einen zweiten Schauplatz in Pakistan. Obama hat auch ihn angesprochen. Auch in Pakistan sind gegenwärtig die Taleban (man unterscheidet Pakistanische von Afghanischen Taleban, jedoch beide arbeiten zusammen) im Vormarsch. Auf Druck der Amerikaner hat die pakistanische Armee zwei Initiativen gegen sie unternommen, eine erste im vergangenen Frühsommer in Swat und eine zweite seit Oktober in Süd-Waziristan. Beide haben sie grosse Mengen von lokaler Bevölkerung zur Flucht nach dem Inneren Pakistans gezwungen. Beide Offensiven wurden als Erfolge der pakistanischen Armee dargestellt. Es ist dieser in der Tat auch gelungen, den Taleban ihre Herrschaft über Swat zu entreissen und einige zentrale Stützpunkte der Rebellen in Süd-Wasiristan zu erstürmen. Doch ist unklar, wieviele Taleban in diesen Aktionen getötet oder gefangen wurden und wie gross jene Teile waren, die sich bei Zeiten zurückzogen und darauf warten, zu jenem Zeitpunkt in die heute umkämpften Gebiete zurückzukehren, in dem die Präsenz der pakistanischen Kampftruppen abnimmt. Um die amerikanische Terminologie ( von clear, hold, build) anzuwenden, die „Säuberung“ war erfolgreich, doch der Erfolg der„holding“ Phase ist ungewiss und von der „Aufbau“ Phase, die ihr folgen müsste, scheint bisher noch kaum die Rede zu sein.

Unklare Resultate der Armeeoffensiven
Es fällt auf, dass nach anfänglichen Fluten von Heeresmitteilungen über Swat und später über Süd-Wasiristan nun Stillschweigen vorherrscht. Es bleibt unklar, ob die dortigen Offensiven ihre Ziele erreicht haben, ob sie weiter gehen, welche politischen Schritte nach den militärischen stattfinden, falls es überhaupt solche gibt. Deutlich ist nur, dass die pakistanischen Taleban ihre Bombenaktionen im pakistanischen Inneren, weit über Peschawar hinaus, gesteigert haben. Ihre Terrorakte fordern fast täglich neue zivile Opfer.

ISI als Partner der Taleban
Die Amerikaner selbst sprechen davon, dass sie es in Pakistan mit einem doppelgesichtigen Partner zu tun haben. Sie wissen und sagen es laut, dass die pakistanischen Militärs über Jahre hinweg ihre eigenen Taleban mehr zu instrumentalisieren als zu bekämpfen suchten und die afghanischen Taleban einsetzten und förderten, ja sie ursprünglich weitgehend ins Leben riefen, um in Afghanistan Einfluss zu gewinnen. Sie versuchen heute diese Tendenzen der pakistanischen Offiziere, die bisher in ISI (Inter Service Intelligence) gebündelt waren, auszuschalten, indem sie den pakistanischen Behörden und Offizieren erklären, die grossen Hilfsgelder für Waffen und für zivile Projekte, die für Pakistan bereitgestellt sind, würden nur ausbezahlt, wenn die pakistanischen Militärs eindeutig auf die Seite Amerikas treten.
Sie müssen jedoch realisticher Weise damit rechnen, dass es einige pakistanische Geheimdienstchefs geben dürfte, die weiter versuchen, ein doppeltes Spiel zu treiben. Sie werden betonen, sie stünden auf der Seite Amerikas, doch ist schwerlich ganz und in jedem Fall auszuschliessen, dass sie unter der Hand weiterhin die afghanischen Taleban kultivieren und möglicherweise auch weiter versuchen, mit den pakistanischen Taleban politische Übereinkommen zu treffen. Alte Taleban Führer wie Mulla Omar geniessen seit dem amerikanischen Einmarsch nach Afghanistan von 2002 diskretes Asyl in pakistanisch Belutchistan. Bisher hat sich das nicht geändert. Was die pakistanischen Taleban angeht, hatten sie vor der Swat Offensive mit den pakistanischen Militärs verhandelt und Verträge geschlossen. Diese scheinen dann aber ihre Zusagen gebrochen zu haben. Sie nahmen ganz Swat voll in Besitz, tyrannisierten die lokale Bevölkerung und begannen sich in die Nachbardistrikte auszudehnen. Erst daraufhin wurde die Swat Offensive der Armee ausgelöst.

Endgültige Feindschaft zwischen ISI und Taleban?
Es könnte sein, dass neben dem Druck der Amerikaner das Verhalten der pakistanischen Taleban selbst dazu beiträgt, die Strategen der ISI umzuorientieren. Die Bombenanschläge im Inneren Pakistans markieren die Taleban als klare Feinde des pakistanischen Staates und damit auch seiner Streitkräfte. Doch vorläufig bleibt eine Unsicherheit darüber, ob die pakistanische Armee wirklich mit voller Macht darauf ausgeht, die Taleban in Pakistan auszuschalten, oder ob sie sich veranlasst sieht oder gezwungen glaubt, weiter mit ihnen nach Möglichkeit zu paktieren.

Indien spielt eine Rolle in dieser komplexen Balance. Bisher waren die Taleban ISI als Partner willkommen, die benützt werden konnten, um das strategische Übergewicht der indischen Streitkräfte gegenüber Pakistan einigermassen aufzuwiegen. Irreguläre Kämpfer im Heiligen Krieg, die von Pakistan her diskret unterstützt wurden, haben über viele Jahre hinweg dazu gedient, um eine bedeutende Teile des gesamten indischen Heeres in Kashmir zu binden. Manchmal waren es bis zur Hälfte der gesamten Streitkräfte. ISI sah und sieht wahrscheinlich weiterhin Indien als seinen Hauptfeind, die Taleban aber bisher und vielleicht heimlich noch immer als ein wichtiges Instrument, um Indien in Schach zu halten.

Regierung gegen Armee?
Präsident Zardari und sein Regierungschef, Yusaf Rasa Gilani, sehen dies nicht durch die gleiche Brille. Für sie wäre es wünschenswert, voll und ganz mit Washington zusammenzuarbeiten, die Hilfe aus Amerika voll auszuschöpfen und den Taleban das Handwerk zu legen, besonders jetzt, wo sie sich durch ihre Terrorschläge als schädlich erweisen und bei der betroffenen Bevölkerung unbeliebt machen. Solange die Regierung Gilani an der Macht bleibt oder eine demokratische Nachfolgerin aufweist, haben die Amerikaner einen Partner in Pakistan. Doch die Armee hat sich bisher als eine eigenständige Macht im Lande erwiesen, die periodisch alle Macht übernahm und Pakistan unter ihr Regime stellte. Dass sie dies wieder tun könnte, ist nicht ganz ausgeschlossen. Vielleicht aber vorläufig unwahrscheinlich, solange die amerikanischen Hiflsgelder für Zivilisten und Militärs so dringend gebraucht werden wie gegenwärtig. Die Armeespitzen müssen sich fragen, was sie im Fall einer Machtübernahme mit einem bankrotten Pakistan anfangen könnten.

Überwindbare Schwierigkeiten?
All diese Schwierigkeiten sind der Obama Regierung bewusst. Wenn man den Darstellungen von Strategiespezialisten folgt, die zu den engen Beratern des Generals McChrystal gehören,

(siehe z.B.Anthony H.Cordesman, Press Briefing vom 2. 12. 09 abhörbar auf http://CISIS.org/event/cisis-press-briefing-cordesman-discuss-president-obamas-announcement-afghanistan-strategy )

werden all diese Schwierigkeiten erwähnt mit dem Zusatz, dies müsse in Zukunft ganz anders werden. Was heute geschehe, müsse in sein Gegenteil umgedreht werden. Erfolg sei imperativ, und die Umkehr aller gegenwärtigen Entwicklungen sei die Voraussetzung dafür. Man bleibt mit der Frage, wie denn die Umkehr in allen wichtigen strategischen Bereichen erzielt werden soll.

Dazu wird auch als ein zweiter ziviler Flügel „Erfolg“ im Bereich der wirtschaftlichen und Entwicklungshilfe für die Afghanen gefordert. Wobei offen zugegeben wird, dass die grossen Gelder, die bisher in diesem Bereich verschwendet wurden, keine Wirkung erzielt hätten. Neben der alles durchdringenden Korrpution dürfte die fehlende Sicherheit dafür verantwortlich sein, dass keine wirksamen Hilfsunternehmen ausserhalb der grossen Städte zustande kamen, obwohl viele Pläne und grosse Initialausgaben dafür nicht gefehlt hatten. Versprochene wirtschaftliche und soziale Fortschrittte, die dann nicht zustande kommen, wirken natürlich besonders schädlich. Die Bevölkerung schliesst daraus, dass die Regierung Karzai und die sie stützenden Amerikaner nur so tun, jedoch nicht wirklich beabsichtigten, ihnen zu Hilfe zu kommen.
Die Lage der Bevölkerung ist vielerorts dermassen hoffnungslos, dass für sie die Fragen des Überlebens vor allen anderen Vorrang erhalten – auch jener, ob in der Zukunft von Kabul aus die Taleban oder, wie heute, die „Marionetten der Amerikaner“ regieren.

(vgl. Question Time for Afghan district governor. von BBC pashto service 18.12.09: news.bbc.co.uk/1/hi/world/south_asia/8387011.stm
)

Auch in diesem weiten Bereich von effektiver Regierung und wirksamer Entwicklungshilfe fordern heute die amerikanischen Strategen, dass alles ganz anders, zu werden habe - man fragt sich nur, ob und wie sie das bewerkstelligen werden.

Die Sicht aus Washington
Wenn man nach den politischen Voraussetzungen und Gründen der nun angekündigten Afghanistan Strategie innerhalb der amerikanischen Politik Ausschau hält, muss man wohl von der Gesamtlage ausgehen, in der sich Obama zur Zeit befindet. Seine Kritiker, sowohl im Lager der Republikaner wie auch wachsend in jenem des linken Flügels der Demokraten, werfen ihm in steigender Lautstärke vor, er verstehe es zwar, grosse Reden zu halten, doch Erfolge im Sinn seiner Versprechen und Wünsche habe er kaum noch hervorgebracht.
Eine amerikanische Strategie des Machtabbaus in Afghanistan und der daraus fast unvermeidlich hervorgehenden Machtübernahme der Taleban würde von den Kritikern der Rechten und des Zentrums als der Anfang vom Ende und daher als ein klarer Misserfolg eingestuft worden. Es scheint durchaus denkbar, dass Obama urteilte, eine solche gewissermassen auf Misserfolg abzielende Strategie in Afghanistan sei unmöglich – nicht nur wegens des dadurch zu gewärtigenden Leidens der Afghanen und der Gefahren, denen Pakistan ausgesetzt wäre, sondern auch in Bezug auf das eigene Renomé. Die schon 2010 bevorstehenden parlamentarischen Wahlen könnten dadurch verloren gehen, indem sie republikanische Mehrheiten in beiden Kammern hervorbrächten. Angesichts dieser Doppelbedrohung könnte Obama sich für die Vorwärtsstrategie in Afghanistan entschlossen haben, - nicht nur wegen Afghanistan sondern auch wegen Amerika.

Was wäre ein Sieg in Afghanistan?
Wie eine Niederlage in Afghanistan aussähe, kann man klar umschreiben; sie wäre durch die Machtübernahme der Taleban in Kabul gegeben. Viel verschwommener ist das Bild eines „Sieges“ der Amerikaner. Gewiss, optimal wäre Sicherheit im ganzen Lande und eine aktionsfähige, mehr oder weniger demokratisch abgestützte, afghanische Regierung in Kabul. Doch von diesem Idealbild kann man Abstriche machen und immernoch eine Art von Erfolg, wenn nicht Sieg, proklamieren. Etwa: eine afghanische Regierung, welche die Macht in den grossen Städten ausübt, wo immerhin etwa ein Drittel aller Afghanen leben und der es gelingt, mit den lokalen Mächten und Stammesführern, darunter vielleicht auch einige Taleban oder ehemalige Taleban, zusammenzuarbeiten. Als „Sieg“ könnte auch beschrieben werden, wenn in diesem oder in jenen Bereich (Sicherheit, Wirtschaft, effektive Regierung, Korruptions- und Drogenbekämpfung) eine Umkehr der heutigen negativen Entwickungen bewirkt würde.. Schliesslich genügte vielleicht auch nur die Wahrnahme einer derartigen Umkehr, gestützt auf mehr oder weniger glaubwürdige Statistiken und Entwicklungskurven, deren mindestens kurzfristiger Verlauf positiv ausgelegt werden kann. (Dieses würde ungefähr dem zur Zeit im Irak wahrgenommenen „Erfolg“ entsprechen.)
All dies, auch bloss teilweise erzielte und vielleicht bloss provisorische Erfolge, böte einen besseren Ausgangspunkt für die kommenden Wahlen als ein offener Verzicht auf den Krieg in Afghanistan. Wobei allerdings unberücksichtigt bleibt, was für die Afghanen und die Pakistani auf mittlere oder auf längere Sicht verderblicher wäre: ein weiteres Jahr Krieg, ohne echten Erfolg und danach erneut die Frage, ob weitermachen wie bisher, indem man den Krieg um ein weiteres Jahr verlängert mit dem Ziel, eine mögliche Machtergreifung der Taleban zu vermeiden? - Oder aber schon heute ein Ende mit Schrecken?

Gäbe es andere Möglichkeiten?
Einige der Kritiker der Verstärkungsstrategie haben alternative Pläne skizziert, die ihrer Ansicht nach erlauben könnten, der afghanischen Falle ohne weitere Truppeneinsätze zu entkommen. Sie arbeiten dabei mit politischen Schritten, die zu verwirklichen wären. Etwa einer anzustrebenden Versöhnung zwischen Pakistan und Indien unter Lösung der Kashmirfrage, als Voraussetzung dafür, dass Pakistan sein Verhältnis zu Afghanistan grundlegend änderte, - und in Afghanistan eine anzustrebende Loya Jirga, in der auch die Taleban vertreten sein müssten, um die Zukunft des Landes ohne amerikanisches Diktat zu bestimmen. Dies gestützt durch Hilfsmassnahmen im Grössenbereich eines Teiles der Gelder, die gegenwärtig für den Krieg verschleudert werden. (Zur Zeit soll jeder Tag des Kriegs in Afghanistan 165 Mio Dollar kosten, Tendenz steigend, proportional zu den geplanten Truppenverstärkungen).
William R. Polk, Orientalist, Historiker und erfahrener Mitarbeiter im amerikanischen Sicherheitsrat unter Kennedy, hat derartige Lösungsansätze umschrieben.


William R. Polk: Let America be America and Depart Afghanistan, guest editorial im Blog: „Informed Comment2“von Juan Cole, 22.Nov.2009.
Dergleiche: Open letter to President Obama in: The Nation, 19. Oct.2009 http://www.thenation.com/doc/2009/polk. Vgl. auch viele andere Afghanistan Artikel in The Nation. Ebenso Patrick Seale in Agence Global, Can Pakistan Insurgent be tamed? Und andere Artikel unter „Afghanistan“: http://agenceglobal.com/list.asp?type=3&id=7 Vgl. auch Ahmed Rashid in bbc: Afghan and Pakistani doubts over Obamas plan,
http://news.co.uk/2/hi/south_asia/839047.stm


All diese Kritiker unterstreichen, dass eine Lösung in Afghanistan einen internationalen Rahmen unter Beteiligung aller angrenzenden und benachbarten Länder, Chinas, Irans, der zentralasaitischen Republiken, Indiens, Pakistans, Russlands und der USA zur Neutralisierung Afghanistans benötige, sowie eine Serie von Kompromissen unter allen Afghanen. Sie glauben alle, dass solche Schritte erst Wirklichkeit werden können, nachdem Amerika seine Truppen abgezogen habe, oder mindestens glaubwürdig klarstelle, dass dies in einer bestimmten Frist mit Sicherheit geschehen werde. Die meisten von ihnen erklären auch, dass Afghanistan heute keine Bedrohung für die USA oder Europa abgäbe, sogar wenn die Taleban dort regieren sollten, weil al-Qa’eda längst nicht mehr von Afghanistan aus agiere sondern dezentralisiert in und aus jenen muslimischen oder auch westlichen Ländern, die ihr Gelegenheit dazu bieten.

Die Prognose für 2010
Man kann angesichts all der skizzierten Entwicklungen für das Jahr 2010 in Afghanistan und in Pakistan erwarten, dass alles im wesentlichen unverändert fortdauern wird. Dramatische Veränderungen im positiven und im negativen Sinne sind nicht ganz auszuschliessen. Doch die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass der amerikanische und Nato-Krieg in Afghanistan andauern wird, ohne eine entscheidende Niederlage der Taleban zu bewirken, eher wohl noch ein weiteres Ansteigen der Macht der Rebellen ausserhalb der grossen Städte und eine Fortdauer der Bombenanschläge.
Auch in Pakistan ist es unwahrscheinlich, dass die pakistanischen Taleban aus allen Gebieten der Nordwestregion, einschliessich der Stammesgebiete, vertrieben werden können. Auch dort werden sie ihr Möglichstes tun, um die Bombenattentate im Inneren Pakistans fortzuführen. Dass in Kabul im kommenden Jahr wesentlich weniger korrupt regiert werden wird als im vergangenen, ist ebenfalls unwahrscheinlich, obwohl Karzai dies gegenwärtig den Amerikanern verspricht. Dies und die fortdauernde Unsicherheit werden auch, wie im vergangenen Jahr, die eigentlich vorgesehene Entwicklungshilfe sehr weitgehend im Sand verlaufen lassen. Die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass man am Ende des kommnenden Jahres im besten Fall vor einer im wesentlichen gleichen Sitation stehen wird wie heute. Ein negativeres Szenario würde auf weiteren Verfall hinauslaufen. Als Gewinn würde dann einzig dastehen, dass Obama keine Niederlage in Afghanistan und Pakistan eingestehen müsste und vielleicht sogar in die Lage käme, mehr oder weniger glaubwürdig zu behaupten, „positive Entwicklungen“ liesssen sich feststellen oder stünden immerhin vor der Türe.

1 Kommentar:

  1. > die jemenitischen Regierungstruppen

    das sollte wohl eher "afghanische" Regierungstruppen heissen ...

    Ansonsten wie immer ein sehr interessanter Artikel. Die meisten Journalisten recherchieren heute leider überhaupt nicht mehr, sondern schreiben sich bloss ein paar Trivialaussagen gegenseitig ab - natürlich ohne jede Quellenangabe. Ich habe lange nach Äusserungen von Ihnen im Zusammenhang mit der Schweizer Minarettdiskussion gesucht, bis ich auf diesen Blog gestossen bin. Das Verhältnis zwischen (weltlichem) Staat und Religion wird uns sowohl in Westeuropa wie auch in den ex-osmanischen Staaten wohl noch vermehrt beschäftigen. Ein grosses Merci für diesen erhellenden Hintergrund-Blog!

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