Freitag, 29. Juni 2012

LEXIKON: Unsinkbarer Flugzeugträger

von Birgit Cerha
Zypern, nur etwa 9.200 qkm groß, auf den Handels- und Kriegswegen zwischen Europa, Afrika und Asien gelegen, spielte von alters her eine bedeutende Rolle. Immer noch. Politisch unbedeutend und, abgesehen von den Konflikten mit der Türkei, neutral bot sich die Insel als idealer Umschlagplatz für allerlei legale und illegale Geschäfte, für die Deponie hoher Geldsummen, als Treffpunkt für Vermittler und Spione und als Sprungbrett für allerlei Aktivitäten – von geschäftlichen, über militärische bis zu humanitären - im turbulenten Mittleren Osten. Die Bedeutung der kleinen Insel zeigt sich auch durch die acht dort voll im Betrieb stehenden Flugplätze.

Bis heute blieb Zypern für den Westen von zentraler geostrategischer Bedeutung. Deshalb stoßen Forderungen aus Nicosia nach Schließung der beiden britischen Stützpunkte – Akrotiri und Dekhelia – in London auf taube Ohren. Als Preis für die Entlassung in die Unabhängigkeit hatten sich die Engländer zwei Hoheitsgebiete von insgesamt 254 qkm (etwa drei Prozent des Territorium) für Militärstützpunkte und Abhöraktionen bis weit nach Asien hinein gesichert. 2.500 Soldaten und 1.500 Zivilisten stehen dort im einsatz, während London seit 1965 den Zyprioten die dafür vereinbarten Gebühren schuldig bleibt.

Die Basen besitzen für Londons nationale Interessen in der Region hohe Priorität, stehen aber auch Amerikanern und Europäern immer wieder offen. So spielten sie eine zentrale Rolle als Geheimdienstzentren und für die Logistik bei Einsätzen im Libanon, in Afghanistan, während des Kuwait-Krieges und des Krieges gegen den irakischen Diktator Saddam Hussein, sowie der anschließenden amerikanischen Besatzung. Zuletzt waren sie unverzichtbar beim NATO-Einsatz in Libyen und zur Beobachtung der dramatisch eskalierenden Entwicklungen im nahegelegenen Syrien. Von hohem strategischen Wert ist auch die große OTH-(Überhorizont-)Radaranlage auf dem Mount Olympos, die der Royal Airforce ermöglicht, Radarechos ohne Sichtkontakt weit über die Erdkrümmung hinaus, bis zu einer Entfernung von 6000 km zu erhalten. Damit läßt sich der Luftraum vom Atlantik bis zum Nordwesten von Indienüberwachen. Militärkriese scherzen: „Selbst eine Moskito kann in Teheran ihren Flug nicht beginnen, ohne dass die Radarbeobachter in Zypern drauf aufmerksam werden.“

Weiterlesen ...

LEXIKON: Die Wurzeln des Hasses auf Zypern

von Birgit Cerha
Zypern ist an seiner nördlichsten Seite nur 65 km von der türkischen Küste entfernt. Seine Bewohner machen nur 0,16 Prozent der Bevölkerung der EU aus und das Bruttoinlandsprodukt des griechischen Teils entspricht etwa dem selben Prozentsatz. Nachdem die britische Kolonialmacht, durch einen blutigen Kampf der zyperngriechischen Guerillaorganisation EOKA für Anschluss der auch von einer türkischen Minderheit bewohnten Insel an Griechenland (ENOSIS) in die Enge getrieben, Zypern in die Unabhängigkeit entlassen hatte, drängte die griechischen Zyprioten ihre türkischen Mitbürger aus Regierung und Verwaltung, vertrieben sie durch Terror aus Dörfern in Enklaven, die Ende der 50er Jahre von UNO-Truppen geschützt wurden.
Ein von der griechischen Miitärjunta initiierter Putsch radikaler Griechen provozierte 1974 die Invasion türkischer Truppen zum Schutz der bedrohten Minderheit. Seither halten 35.000 türkische Soldaten ein Drittel der Insel besetzt und berufen sich dabei auf ihre Rechte als Schutzmacht, die sie laut Verfassung von 1960 mit Griechen und Briten teilen. Eine von der UNO gezogene „grüne Linie“ riegelte beide Teile fast hermethisch voneinander ab, nachdem 145.000 Menschen, überwiegend Zyperngriechen, den Norden und 60.000 Zyperntürken den Süden in die jeweils andere Richtung verlassen hatten. Die Teilung wurde seither zwar etwas gelockert, doch Hass, Mißtrauen, Ängste leben fort, psychische Wunden bluten. Selbst die besten internationalen Diplomaten bissen sich an diesem Problem bisher die Zähne aus.

Weiterlesen ...

Zypern: Zerrissen und fast bankrott

Kann die geostrategisch immer noch so wichtige Mittelmehrinsel als „ehrlicher Makler“ Krisenmanager der EU sein? – Ein Ministaat mit Zukunftsperspektiven

von Birgit Cerha

Es sollte eine Periode höchsten Triumphes werden. Jahrzehntelange Sehnsüchte sollten sich endlich erfüllen, wenn der griechische Teil der Republik Zypern an die Spitze Europas aufsteigt und mit dieser Macht im Rücken dem riesigen Feind im Norden (der Türkei) eine Kraft zeigt, die sich nicht brechen läßt. „Vereintes Zypern in einem vereinten Europa“ unter dieses Motto wollte Nicosia seine Ratspräsidentschaft stellen, die es am 1. Juli für sechas Monate übernimmt, eine Zeit, in der die Insel sich als „würdiges Mitglied der europäischen Gemeinschaft beweisen wollte.

Doch Freude und Hoffnung sind überschattet von der tiefen Demütigung, nicht nur, dass die 38-jährige Spaltung dieses Ministaates unüberwindbar bleibt, sondern, dass sich die fast bankrotte Wirtschaft unter den Eurorettungsschirm flüchten muss. Uneinigkeit und wirtschaftliche Schwäche seien „symbolisch“ für die Lage der EU, versucht die „Cyprus Mail“ sich und ein zutiefst irritiertes Zypernvolk zu trösten. Bissige Kommentare aus Europa schmerzen. Von einem „verlorenen Halbjahr“ sprechen EU-Politiker in Brüssel hinter vorgehaltener Hand angesichts der Unerfahrenheit Zyperns als Krisenmanager. Und der Vorsitzende des CDU-Wirtschaftsrates, Kurt Lank, wettert gar über ein „Paradoxon der EU, dass der Hund die Verantwortung für die Verteilung der Würste“ übrnehme. „Wir werden niemals in der Lage sein, Europa zu heilen, wenn der Präsident in mit einer hochansteckenden Krankheit in Intensivstation liegt.“

Angesichts solcher Attacken versucht Zypern „ andere Qualitäten“ hervorzuheben: Da „wir keine riesigen Interessen und keine geheime Agenda haben“, könne Nicosia überzeugend als „ehricher Makler“ auftreten, betont EU-Botschafter Kornelios Korneliou.

Tatsächlich ist die drittgrößte Insel im Mittelmeer in vieler Hinsicht ein Sonderfall – negativ, aber auch positiv. Hier, wo laut griechischer Mythologie einst Aphrodite, die Göttin der Liebe, dem Schaum des Meeres entstieg, zerreißt seit Generationen ein unüberbrückbarer Graben des Hasses und der Angst voreinander das etwa eine Million Menschen zählende Volk (82 Prozent Griechen und 18 Prozent Türken). Zypern, der einzige geteilte Staat in der EU, hat seine politischen Probleme – die 38-jährige Besatzung des nördlichen Inseldrittels durch 35.ooo türkische Soldaten – in die Union getragen, kann damit de facto die Aufnahmeverhandlungen mit der Türkei und eine enge Kooperation der EU mit der NATO blockieren. Das Ziel, die Insel bis zu Beginn der Ratspräsidentschaft wieder zu vereinen scheiterte endgültig im April und wie ein Damoklesschwert hängt die Drohung des ob griechisch-zypriotischer EU-Präsidentschaft erbosten türkischen Premiers Erdogan über Zypern, die nur von der Türkei anerkannte „Türkische Republik Zypern“ (TRZ) – europäisches Land! - zu annektieren.

Die (von griechischen Zyprioten geführte) international anerkannte Republik Zypern wurde 2004 in die EU und vier Jahre später in die Eurozone aufgenommen, wobei EU-Gesetz im besetzten nördlichen Inselteil, der TRZ, erst ab Wiedervereinigung der Insel gilt – für die weniger als 100.000 türkischen Zyprioten eine bittere Entwicklung. International isoliert und durch ein von Griechenland und (griechisch)Zypern betriebenes Embargo zu Armut verdammt (das Bruttoinlandsprodukt der TRZ ist pro Kopf halb so hoch wie jenes des südlichen Inselteils und die Arbeitslosigkeit liegt bei neun Prozent) ist Türkisch-Zypern auf die milden Gaben aus Ankara angewiesen, die jährlich bei etwa 450 Mio. Euro liegen. Als Ankara im Vorjahr rigide Sparmaßnahmen diktierte, begann sich ein lange aufgestauter Unmut unter der heimischen Bevölkerung gegen die einst als Retter vor griechisch-zyprioitischem Extremismus begrüßten und unterdessen zunehmend verhaßte türkische Besatzung offen Luft zu machen. „Unser Land gehört uns“ und „Die Mutter aller Probleme ist die Teilung Zypern“, lauten unterdessen Slogans bei immer wiederkehrenden anti-türkischen Demonstrationen. Besonders irritiert die Türken Zyperns die „zivile Invasion“, die anhaltende gezielte Ansiedlung von Türken aus Anatolien, die die heimische türkischsprachige Bevölkerung zunehmend marginalisiert und auch politisch empfindlich schwächt. Die Zuwanderer stülpen den häufig liberalen und durchwegs säkularen türkischen Zyprioten ihre traditionalistische und stark religiöse Kultur auf. So wächst die Sehnsucht der Türken Zyperns nach Wiedervereinigung mit den Griechen, denen sie auch genetisch nach jüngsten DNA-Analysen weit näher sind als den Festlandtürken.

Trotz dieser Emotionen, obwohl der damalige griechisch-zypriotische Präsident Papadopoulos 2003 als provokativen – doch vergeblichen - Anreiz für die Türkei, ihre Truppen endlich von der Insel abzuziehen, die Mauer in der geteilten Hauptstadt Nicosia durchbrochen hatte, konnte die psychische Kluft zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen, die unterschwellige Angst der Zyperntürken vor griechischer Dominanz und die Panik der Zyperngriechen vor der mächtigen türkischen Armee nicht überwunden werden. Nicht zuletzt wegen des immer noch dominierenden Einflusses der prägnant nationalistischen griechisch-orthodoxen Kirche, sind auch ein halbes Jahrhhundert nach Beginn blutiger Volksgruppenkämpfe und fast 40 Jahre nach der türkischen Invasion und der Vertreibung von mehr als hunderttausend Menschen aus ihren Heimen, alle Ansätze eines Versöhnungsprozesses gescheitert. Dementsprechend endeten auch unzählige internationalen Vermittlungsversuche immer in derselben Sackgasse. Das Zypernproblem ist damit zu einem der längsten und unlösbarsten Konflikte Europas geworden.

Die besondere geostrategische Lage der Insel an der Schnittstelle zwischen Europa und Asien erweist sich als Fluch, doch zugleich auch als Segen. Die hartnäckige Weigerung Ankaras, seine Truppen von Nord-Zypern abzuziehen hängt entscheidend mit dem Bedürfnis zusammen, sich die Kontrolle über das östliche Mittelmeer zu sichern – eine Absicht, die sich auch in nächster Zeit nicht ändern wird. Anderseits verschafft gerade diese geostrategische Position den Griechen der Insel die Möglichkeit, wichtige Bündnispartner anzuwerben. So besitzt auch Zypern heute als einziges EU-Land die Option, sich zur Deckung seines Kapitalbedarfs von geschätzten zehn Mrd. Euro bei einer Staatsverschuldung von fast 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts Kredite außerhalb der Union zu verschaffen. Als Hauptpartner bietet sich Russland an, das nun, da es um seinen einzigen Mittelmeerhafen für seine Marine im syrischen Tartus fürchten muss, an Zyperns Küste die beste Alternative erkennt. Zudem verbinden Zyperns Griechen (aus religiöse, wie marxistisch-ideologischen Gründen) seit einem halben Jahrhundert enge Beziehungen mit Rußland. Präsident Demetris Chrstofias, das „rote Schaf Europas“, der „Fidel Castro des Mittelmeeres“, wie der einzige (Euro-)Kommunist an der Spitze eines EU-Staates gerne genannt wird, steht Freund Putin, Rußlands Präsidenten, nahen, der bereits voll Wohlwollen auf ein erneutes Kreditansuchen Nicosias reagierte. Bereits Ende 2011 hat Moskau Zypern, das seit langem reichen Russen als wichtiger „Hafen“ für allerlei legale und weniger legale Geschäfte dient, einen 2,5 Mrd. Euro-Kredit gewährt.

Christofias verhehlt sein Misstrauen gegenüber der EU nicht, die er erst vor kurzem mit Blick auf das finanzgequälte Griechenland als „koloniale Macht“ beschimpfte. Doch die große Mehrheit der Zyprioten fürchtet Brüssels Auflagen, radikale Sparmaßnahmen und vor allem ein Ende der seit langem internationale Firmen in großen Zahlen anlockenden Niedrigsteuer und damit eines wichtigen Sonderstatus. Putin freilich würde solche Bedingungen nicht stellen, doch die Zinsen für sein Geld wären wohl weit höher.

Sein ganzes Erwachsenenleben hat Christofias gegen Besatzung und „koloniales Verhalten“ gekämpft, bis jetzt. Sein Ziel ist nicht nur ein Abzug der türkischen Armee aus dem Norden, sondern auch der Briten von ihren seit 1959 als Preis für die Unabhängigkeit augehandelten Stützpunkten. Die Eröffnungsfeier der Ratspräsidentschaft am 5. Juli soll dies ganz Europa dokumentieren. Schauplatz ist Kurion, das 2.000 Jahre alte Amphitheater an der südlichen Küste. Es liegt auf britischem Hoheitsgebiet, im Stützpunkt Akrotiri. Zyperns Kulturschätze, so die Botschaft, gehören den Zyprioten – und mit ihnen das Land. Die Briten müssen raus. Die Liste der Besonderheiten Zyperns ist damit noch nicht zuende. Als erstes EU-Land droht der Insel in nächster Zukunft das Trinkwasser auszugehen. Jahrelange Trockenheit und ein Touristenstrom, von mehr als zwei Millionen Menschen im Jahr bringt die Quellen in alarmierender Weise zum Versiegen. Doch vor den Küsten der Insel verbirgt Aphrodite neue Gaben: riesige Vorräte an Erdgas und vielleicht sogar Öl, die den Energiebedarf Zyperns (auch für die Entsalzung von Meerwasser) für die nächsten 210 Jahre decken und längerfristig beruhigendes ökonomisches Wachstum sichern könnte. Doch wie anderswo, verschärft der Reichtum die Spannungen. Aus Angst vor einer gierigen Türkei haben sich die Zyperngriechen mit Israel zu Exploration und Förderung des Gases zusammengeschlossen, während Ankara Kriegsschiffe entsandte, um den Anteil ihrer Schützlinge im Norden der Insel an diesen Quellen durchzusetzen. Griechisch-Nicosia aber beteuert, das Einkommen aus diesen Schätzen an alle Zyprioten, auch die türkischen, zu verteilen. „Diese Energie“, so der zuständige Handelsministrer in Nicosia, Neoklis Sylikiotis, „kann sich als Katalysator für die Wiedervereinigung“ erweisen. Fest steht: Alle werden verlieren, wenn Zypern nicht endlich die Teilung überwindet.

Weiterlesen ...

Dienstag, 26. Juni 2012

SYRIEN: Chronologie eines grausigen Konflikts

von Birgit Cerha

Es war eine Gruppe von Kindern gewesen, die, angesteckt durch den „arabischen Frühling“ der Freiheit in Tunesien und Ägypten, Graffitis an Häuserwände in der syrischen Stadt Deraa gemalt hatten, in denen sie das Regime Assad kritisierten. Sie wurden verhaftet, einige starben im Kugelhagel der Sicherheitskräfte. So begannen am 18.März 2011 friedliche Proteste der unterdrückten syrischen Bevölkerung gegen das Regime. Die Menschen forderten nicht den Sturz Präsident Assads, sondern demokratische Reformen.Doch das Regime reagierte extrem nervös mit brutalster Gewalt. Drei Entscheidungen Assads erwiesen sich als schicksalshaft für die weitere Entwicklung: die Entsendung von Truppen nach Deraa im April 2011, um anhaltende Proteste mit ungeheuerlicher Brutalität niederzuschlagen. „Human Rights Watch“ spricht von „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Es folgten Großattacken am ersten Tag des für Sunniten bedeutsamen Fastenmonats Ramadan (auf die Sunniten-Hochburgen Abu Kamal, Deir al Zour und Hama) durch das alawitische Regime und wenig später grauenvolle Bluttaten in Homs, Idlib und der Umgebung von Damaskus.

Diese exzessive Gewalt überzeugte einige Rebellengruppen, das Prinzip der Gewaltlosigkeit aufzugeben und in zur Selbstverteidigung Waffen einzusetzen. Damit eskalierte der Konflikt, den Saudi-Arabien und Katar über die Türkei und den Irak mit Waffen und Jihadis auf der Seite der Opposition unterstützen. Friedliche Demokraten verloren ihre Stimme. Im Dezember entsandte die Arabische Liga Beobachter zur Durchsetzung eines Friedensplans, stoppte deren Einsatz aber ein Monat später angesichts zunehmender Gewalt. Im Februar 2012 blockierten China und Rußland eine Verurteilung Syriens im Weltsicherheitsrat, eine Haltung, die Assad zu weiteren Brutalitäten ermutigt. Ein von Assad im März akzeptierter Friedensplan des UN-Abgesandten Kofi Annans kann das Blutvergießen nicht stoppen. Ein Team von UN-Beobachtern wird direkt von Regierungseinheiten attackiert. Der Friedensplan ist de facto gescheitert. Die Hoffnung auf eine internationale Konferenz droht sich am Widerstand der USA nicht zu erfüllen, die eine Teilnahme des Irans – Syriens engsten Verbündeten – entschieden ablehnen.

Weiterlesen ...

SYRIEN: Verzweifelte Zivilbevölkerung

von Birgit Cerha

Niemand kennt das wahre Ausmaß der Tragödie dieses an Brutalität dramatisch eskalierenden Krieges in Syrien. UN-Kreise schätzen die Zahl der Toten auf 15.000 seit Beginn der Rebellion m März 2011, darunter immer mehr Soldaten des Assad-Regimes. Wieviele Syrer verschollen sind, wieviele in den Gefängnissen verschwanden bleibt Spekulation. Manche Kreisen sprechen von 100.000 Häftlingen, die Sicherheitskräfte einfach abschleppten, weil sie friedlich gegen das Regime demonstrierten.

Laut UNO bedürfen derzeit mindestens 1,5 Millionen syrische Zivilisten in Kampfgebieten dringender humanitärer und medizinischer Hilfe, die ihnen vom Regime oder durch anhaltende Gewalt verwehrt wird, allein in der massiv von Regierungseinheiten attackierten zentralsyrischen Stadt Homs sind es 250.000 und in der Grenzprovinz zur Türkei 350.000. 500.000 Syrer haben in den vergangenen 15 Monaten versucht, irgendwo im Land eine sichere Bleibe zu finden, während mehr als 32.000 Syrer in die Türkei flüchteten. Ihre Zahl vermehrte sich jüngst um Hunderte pro Tag. Der Flüchtlingsstrom nach Jordanien nahm in seit Anfang Juni dramatisch zu. Ein großer Teil ließ sich nicht von der UNO registrieren, die Gesamtzahl dürfte die 120.000-Grenze erreichen.

Wiewohl das Assad-Regime Teile der Grenze zum Libanon vermint hat, sucht auch dort eine wachsende Zahl verzweifelter Syrer Sicherheit. Die meisten der offiziell mehr als 27.000 Flüchtlinge, überwiegend Sunniten, fanden in der von Sunniten kontrollierten Region um die nordlibanesische Stadt Tripoli Unterschlupf, sowie in der Bekaa-Ebene. Viele dieser meist traumatisierten Hilfesuchenden kommen völlig mittellos an, sind angewiesen auf die Unterstützung der lokalen Bevölkerung und Hilfsorganisationen, die ein anhaltender Flüchtlingsstrom völlig überfordern wird.

Weiterlesen ...

Blutige Geostrategie auf dem Rücken von Millionen Unschuldigen

Längst ist der Kampf gegen das syrische Regime zu einem „Stellvertreterkrieg“ entartet, der die Kräfteverhältnisse im Mittleren Osten radikal verändern soll

von Birgit Cerha

Die NATO ist alarmiert, die Türkei fürchtet um ihre Sicherheit und das schwer bedrängte syrische Regime bewies durch den bisher nicht eindeutig geklärten Abschuss eines türkischen Kampfflugzeuges an seiner Grenze die Stärke seiner von Russland in Jahrzehnten aufgepäppelten Luftwaffe. Die Botschaft ist klar: Syrien ist nicht Libyen. Eine internationale Militärintervention hätte mit weit stärkerer und verlustreicher Gegenwehr zu rechnen.Der allerdings von Ankara offiziell dementierte Verdacht, dass sich die türkischen Kampfjets in einer Aufklärungsmission zur Unterstützung der in der Türkei stationierten „Freien syrischen Armee“ und anderer bewaffneter Rebellen, so nahe an – oder über? – Syriens Grenze gewagt hätten, illustriert in alarmierender Deutlichkeit die sich stetig ausweitende Dimension eines Konflikts, der als interne demokratische Protestbewegung gegen ein brutales Regime begonnen hatte. Nach 15 Monaten ist der Kampf gegen den sich barbarisch verteidigenden Damaszener Diktator zu einem „Stellvertreterkrieg“ entartet, der die Kräfteverhältnisse im Mittleren Osten radikal verändern soll und enorme Gefahren für den Weltfrieden in sich birgt.

Syrien liegt im turbulentesten Teil des ohnedies so instabilen Mittleren Ostens, einem Gebiet von zentraler geostrategischer Bedeutung. Der politisch so hochbegabte Vater des gegenwärtigen Herrschers, Hafez el Assad, hatte es verstanden, diesem kleinena Land an der Grenze zu Israel und dem NATO-Staat Türkei entscheidende regionalpolitische Stärke zu verleihen. Einst einer der wichtigsten arabischen Verbündeten der Sowjetunion, ist Syrien bis heute Moskaus Tor zum Mittleren Osten und – durch den Hafen Tartus – zum Mittelmeer. Durch seinen strategischen Bund mit dem Iran und die Unterstützung Israel bekämpfender Palästinensergruppen (Hamas und Islamischer Jihad), sowie der libanesischen Hisbollah, hat sich auch Hafez geostrategisch weniger begabter Sohn Bashar bis heute ein Veto über Frieden nach Israels Bedingungen erhalten, während er zugleich aber großen Bedacht auf Ruhe an Syriens Grenzen zum jüdischen Staat legt. Diese strategische Stabilität ist in ernster Gefahr, sollte Assad stürzen.

Schon innerhalb der ersten drei Monate der Proteste gegen die Diktatur begannen sich diverse Kräfte von außen mit dem klaren Ziel in den Konflikt zu mischen, die grundlegenden geopolitischen Fakten zu verändern, gleichgültig, ob sie damit in Gegensatz zu den sich vorrangig nach Würde und Freiheit sehnenden Revolutionären in Syrien gerieten. Trotz des Wirrwarrs militanter Gruppen und Agenten, die sich insbesondere im türkischen Grenzgebiet zu Syrien in verstärkten Zahlen tummeln, steht unterdessen eindeutig fest, dass das sunnitische Ölreich Saudi-Arabien die so lange erhoffte Chance ergriff, den „schiitischen Halbmond“ zu durchstoßen, einen expansiven Iran auf sein eigenes Hoheitsgebiet zurückzudrängen und dessem Streben nach regionaler Dominanz endgültig einen Riegel vorzuschieben.

Das Schreckgespenst des „schiitischen Halbmondes“, der sich unter Irans Führung über den (bereits von Teheran weitgehend dominierten) Irak, die Schiitengebiete auf der Arabischen Halbinsel, über das von den Schiiten nahestehenden Alawiten beherrschte Syrien Assads bis zur israelischen Grenze zieht, verängstigt die sunnitischen Herrscher am Golf, wie auch Jordanien zutiefst. Zehntausende zivile Opfer in Syrien in einem eskalierenden Krieg erscheinen dem selbst vor massiven Repressionen nicht zurückschreckenden Königshaus der Al-Sauds angesichts des hohen geopolitischen Ziels den Preis wert. Der saudische Außenminister Saud al Faisal spricht gar offen von der „Pflicht“, die Opposition zu bewaffnen. Dass die Saudis und das gleichgesinnte Katar dies seit vielen Monaten mit wachsender Eifrigkeit tun, ist unterdessen längst klar So formieren sich die Fronten in einem „Stellvertreterkrieg“, in dem – wie in den Zeiten des Kalten Krieges – Rußland (und China) und die USA gegensätzliche Positionen einnehmen, und sich dabei in Wahrheit nicht um Menschenleben, sondern fast ausschließlich um ihre jeweiligen geostrategische Interessen kümmern. Vor allem die Saudis wagen, besessen, dem expandieren iranischen Schiismus eine Barriere zu errichten und sich für den schmerzlichen Verlust des Iraks zu entschädigen, ein gefährliches Spiel mit unabsehbaren Konsequenzen. Von längst mit der Durchführung begonnenen Plänen ist die Rede, saudische Jihadis, die nach jahrelangen Kämpfen gegen die schiitischen Herrscher aus dem Irak heimgekehrt waren und Al-Kaida-Terroristen, die sich in saudischen Gefängnissen einem Rehabilitierungsprogramm unterzogen hatten , zum Kampfeinsatz gegen das Assad-Regime zu entsenden. Die Jihadis sind hochmotiviert, ungeduldig endlich wieder zu kämpfen und einem Regime den Garaus zu machen, das von sunnitischen Fundamentalisten ohnedies als häretisch betrachtet wird. Unterdessen aber hat das Königshaus offenbar die Gefahr erkannt, die diese gerufenen und nicht zu kontrollierenden Jihadi-Geister für die ganze Region, und vielleicht auch für das Königshaus selbst in sich bergen. So erließ ein hoher Geistlicher des Königreiches am 7. Juni eine Fetwa (islamisches Rechtsgutachten), das Jihadis den Einsatz in Syrien künftig nur noch mit Unterstützung der saudischen Regierung gestattet. Doch es könnte zu spät sein.

Wieder, wie einst in Afghanistan, stehen die Amerikaner, wiewohl zögernd aber dennoch offenbar auch durch tatkräftige Hilfe, im Bunde mit radikalen Islamisten und deren höchst fragwürdigen Zielen.

Für keinen der beteiligten Staaten hätte der Sturz des Assad-Regimes derart gravierende Folgen, wie für den Iran. Ohne den syrischen Partner würde Teheran den Zugang zum Libanon, mit seiner dank iranischer Hilfe militärisch so kräftigen schiitischen Hisbollah verlieren, das effizienteste Druckmittel gegen Israel, insbesondere auch im Falle eines drohenden israelischen Angriffs auf iranische Atomanlagen. Auch die Unterstützung der islamistischen palästinensischen Hamas würde sich ohne die syrische „Schnittstelle“ als fast unmöglich erweisen – eine Aussicht, die Israel wohl in helle Begeisterung versetzen mag, könnte es damit ohne nennenswerten Widerstand den Palästinensern vollends seinen Willen aufzwingen. Um dieses Schreckensszenario zu verhindern, setzen die Iraner seit Monaten offenbar alles daran, Assad bei der blutigen Repression mit Rat und vermutlich auch mit Tat (von der Präsenz Angehöriger der iranischen Elitetruppe der Al-Quds-Garden in Syrien ist u.a. die Rede) zur Seite zu stehen. Doch die Iraner fürchten auch, sollte alle Hilfe nichts fruchten, Assad stürzen, dann könnten sie nicht nur ihren Zugang zum Mittelmeer und zu Israel verlieren, sondern auch die Chance verspielen, sich vielleicht doch noch mit einem Nachfolgeregime zur zumindest teilweisen Sicherung ihrer Interessen zu arrangieren. Deshalb geben sich die geistlichen Herrscher, wie meist, ambivalent, zeigen Sorge angesichts des wachsenden Leids der syrischen Zivilbevölkerung, um deren Sympathien nicht vollends zu verspielen.

Der inzwischen längst gewaltsamen ausgetragene „Stellvertreterkrieg“ zwischen Saudi-Arabien und Iran wird die Entwicklungen in und um Syrien bestimmen, in dramatischer Weise, wenn es nicht gelingt, den „Kalten Krieg“ der Großmächte zu beenden, alle Beteiligten zu einer friedlichen Kompromißlösung an den Verhandlungstisch zu bringen und der Region damit eine noch viel größere humanitäre Katastrophe mit unabsehbaren Folgen für die Zukunft zu ersparen.

Weiterlesen ...

Sonntag, 24. Juni 2012

ÄGYPTEN: Ein Sieg für die Demokratie

Mit der Wahl des Islamisten Mohammed Mursi zum neuen Präsidenten haben die Ägypter Geschichte geschrieben – Doch der Kampf um Ägypten tritt nur in eine neue Phase

Birgit Cerha

Mit einem Schlag mündete die quälende Hochspannung auf dem Kairoer „Platz der Revolution“ in frenetischen Jubel. Ägyptens Moslembruderschaft feiert mit Hunderttausenden ihrer Anhänger den größten Triumph ihrer langen, oft so qualvollen Geschichte. Der Sieg ihres Kandidaten Mohammed Mursi in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl ist zugleich ein Sieg der Demokratie, der Revolution gegen die Diktatur Mubaraks, die beinahe zu scheitern drohte. Zum erstenmal in der Geschichte Ägyptens konnte das Volk einen Präsidenten tatsächlich frei wählen und das Militär lässt zu, dass erstmals nicht nur kein Offizier die Spitze des Staates erklimmt, sondern auch noch der Führer einer Massenbewegung, die es seit Jahrzehnten bekriegte. Selbst Vertreter der säkularen jugendlichen Aktivisten, die durch ihre Revolution in nur 18 Tagen Mubarak zu Fall gebracht hatten, verhehlen ihre Begeisterung über diese als fair empfundenen Wahlen nicht.

Das von der Revolution erschöpfte Volk kann aufatmen. Hätte die Wahlkommission Mursis Gegenkandidaten, den Repräsentanten des alten Systems Ahmed Shafik, zum neuen Präsidenten erklärt, wäre Ägypten eine neue Welle der Gewalt wahrscheinlich nicht erspart geblieben. Mursis hochmotivierte Anhängerscharen hätten eine solches wohl zurecht als Manipulation empfundenes Ergebnis nicht tatenlos hingenommen.

Doch die Euphorie ist getrübt durch eine Serie ungelöster, für die Zukunft Ägyptens höchst entscheidender Fragen und durch die Tatsache, dass Mursi als Präsident ohne Macht, ohne Verfassung, ohne Parlament, mit völlig unklaren Befugnissen Mubaraks Nachfolge antritt. Die einzige Macht, auf die er sich stützen kann, ist jene der Legitimität, die die Moslembrüder durch zwei Wahlsiege im vergangenen halben Jahr (Parlaments- und nun Präsidentschaftswahlen) gewannen und die ihnen stärkere Überzeugungskraft in der nun bevorstehenden Kraftprobe mit dem herrschende Militärrat verleihen könnte.

Mursi, treuer Funktionär der Moslmbruderschaft, verspricht, Präsident für alle Ägypter zu werden. Deshalb verhandelte er in den vergangenen Tagen auch mit Teilen der säkularen Opposition, deutete die Möglichkeit an, einen Liberalen, wie Nobelpreisträger Mohammed el Baradei zum Premier zu berufen und eine Frau oder einen Kopten zu seinem Vizepräsidenten. Doch selbst wenn er dieses Versprechen hält, wird es ihm kaum gelingen, eine Brücke zur zweiten Hälfte Ägyptens zu bauen, zu jenen, die Shafik ihre Stimme gaben, den Kräften und Profiteuren des alten Systems, die immer noch die wichtigsten Institutionen beherrschen und entschlossen scheinen, diese nicht an ihre jahrzehntelangen Gegner abzugeben. Wird er quälenden Ängste der Minderheiten, allen voran der acht Millionen Kopten, vor einer Islamisierung des Landes zerstreuen können und der Frauen vor neuer Diskriminierung? Wird er seinen demokratischen Versprechen treu bleiben oder wird er sich zur Machterhaltung mit dem Militär arrangieren, wie etwa Gesinnungsbrüder es in Pakistan oder im Sudan getan hatten und ein repressives System, das Ägyptens Generäle – zumindest vorerst – führen wollen, unterstützen?

Mursis Wahl hat die Ägypter nicht von der quälenden Ungewißheit über die Zukunft des Landes befreit. Sie hat jedoch bewiesen, dass das Militär, ungeachtet der autoritären Dekrete der vergangenen Woche, „sanfter Putsch“ genannt, die demokratische Revolution nicht abtöten konnte. „Der größte Erfolg den die Revolution bisher erzielte“, so meinte Sonntag abend der Aktivitst Bassem Sabry, „ereignete sich in der Psyche der Ägypter“. Niemand kann ihnen mehr eine Diktatur, wie jene der vergangenen 30 Jahre aufzwingen.

Weiterlesen ...

Dienstag, 19. Juni 2012

Saudi-Arabiens Nachfolge-Dilemma

Inmitten einer turbulenten Region, muss das Ölreich endlich einen Ausweg aus der lähmenden Gerontokratie suchen

von Birgit Cerha

[Bild: Fünf Söhne vn Abdul Aziz haben bisher den saudischen Thron bestiegen]

Die Fotos gebeugter, kränklicher Prinzen, geführt von dem auf einen Gehstock gestützten, von hohem Alter gezeichneten König, der nun zum zweiten Mal in nur neun Monaten einen Nachfolger für seinen verstorbenen Kronprinzen bestellen musste, erinnere viele Saudis „an die letzten Jahre der Sowjetunion“, bemerkt die prominente saudische Anthropologin und politische Analystin Mai Yamani. Damals, in den 90er Jahren, war ein kränklicher Führer rasch auf den nächsten gefolgt, für eine kurze, inaktive Amtsperiode. Viele Saudis glauben in ihrem Land nun dasselbe Muster fortdauernder Ungewissheit und Erstarrung zu erkennen.“ Dies erscheint vielen umso beunruhigender, als die Flammen der Revolution und des Aufruhr große Teile der Region erfasst haben. Der 86-jährige König Abdullah reagierte rasch auf den – zumindest für die Öffentlichkeit – unerwarteten Tod des Kronprinzen Nayef, der Sonntag in Riad begraben wurde. Nayefs jüngerer Bruder, Prinz Salman, Verteidigungsminister und ein Halbbruder des Königs, wird in den nächsten Tagen auf Vorschlag Abdullahs vom Thronrat zum designierten Nachfolger des Monarchen ernannt werden. Die Wahl überrascht nicht. Salman genießt einen Ruf als asketischer, kompetenter und hart arbeitender Staatsmann , der innerhalb der großen Familie der al-Sauds streng für Disziplin sorgt und ein Sondergefängnis für amok laufende Prinzen verwaltet. Im Gegensatz zum erzkonservativen Nayef, der, besessen von Ängsten vor iranischem Expansionismus nach informierten Kreisen einen „sunnitischen Frühling“ der Rebellion gegen die von Teheran gestützte irakischen Herrscher in Bagdad unterstützt hatte, gilt Salman als Gemäßigter in politischen und religiösen Fragen, der allerdings von der Unvereinbarkeit demokratischer Prinzipien mit der saudischen Kultur überzeugt ist. Er erwies sich im vergangenen halben Jahrzehnt als hervorragender Administrator, der die Verwandlung der verschlafenen 200.000 Bewohner zählenden Kleinstadt Riad in eine moderne Metropole für 5,5 Millionen Menschen überwachte und als Gouverneur verwaltetea. Er hat auch sein eigenes Medienimperium mit der populären und in der gesamten arabischen Welt sehr einflußreichen Tagreszeitung „Asharq al-Awsat“ an der Spitze, aufgebaut.

Salman aber ist bereit 76 und, wie der König, bei schlechter Gesundheit. 2010 mußte er sich einer Wirbelsäulenoperation unterziehen und erlitt mindestens einen Schlaganfall.

Mit der Entscheidung für Salman, hat Abdullah die immer drängender werdende drängende Frage der Zukunft des Königshauses aufgeschoben. Zwar ist die Wahrscheinlichkeit, dass Salman den Thron besteigt, groß, doch wer ihm vielleicht schon bald danach nachfolgen könnte, bleibt ungeklärt.

Das 1932 von Abdul Aziz ibn Saud gegründete Königreich gleicht einem Familienunternehmen. Nachdem es Ibn Saud gelungen war , das riesige Gebiet der Arabischen Halbinsel zu erobern, ihm seinen Namen zu geben und seine Brüder und Vettern durch die Strategie des „Teile und Herrsche“ zu kontrollieren setzte er die Nachfolgeregel fest, nach der die Herrschaft direkt auf seine Söhne (einst an die 70) übergeht. Nach Ibn Sauds Tod schafften es seine Söhne, ungeachtet so mancher interner Konflikte, diese Regel strikt einzuhalten. Das ist nun aber bald nicht mehr möglich. Etwa ein Dutzend Söhne des Reichgründers sind heute noch am Leben, doch die meisten sind für das höchste Staatsamt ungeeignet, entweder krank, politisch völlig unerfahren oder bekannt durch ihre Missachtung islamischer Lebensregeln. Nur der nun zum Innenminister ernannte Bruder Salmans, Prinz Ahmed gilt als fähig für das höchste Staatsamt, ebenso wie der 67-jährige Sohn ibn Sauds, Geheimdienstchef Prinz Mukrin.

Doch Mukrin gilt für führende Prinzen als ungeeignet, weil seine Mutter Jemenitin ist, während der heute 71-jährige Prinz Ahmed wahrscheinlich, wenn er eines Tages an die Macht käme, die Gerontokratie fortsetzen würde. Damit ergibt sich die dringende Notwendigkeit, junge Vitalität in das Königshaus einzuschleusen. Doch der Sprung zur nächsten Generation ist nicht vielversprechend. Die meisten politisch erfahrenen Enkel Ibn Sauds nähern sich auch schon den 70ern oder sind krank oder politisch für die wahabitischen Geistlichen, die durch ihren Bund mit den Al-Sauds die Stabilität des Königreiches garantieren, inakzeptabel. Ein Übergang zu den Urenkeln wäre gefragt, doch er birgt die enorme Gefahr, das Ölreich in seinen Grundfesten erschütternder Machtkämpfe. Denn unter den heute etwa 7000 Prinzen, hegt eine beträchtliche Zahl zumindest mittelfristig Machtansprüche, all dies vor wachsenden Forderungen der Bevölkerung nach politischer Mitbestimmung und der vom Iran unterstützten schiitischen Minderheit nach einem Ende der Diskriminierung. Doch die Verantwortlichen des Königshauses stecken den Kopf in den Sand.

Weiterlesen ...

Montag, 18. Juni 2012

Ägypten: „Schlimmer als am Nullpunkt“

Das Militär sichert sich in einem „sanften Coup“ gegen die Moslembruderschaft weitreichende Macht und verurteilt die Präsidentschaftswahl zur Bedeutungslosigkeit

von Birgit Cerha



In einer großen Zeremonie werde Ägyptens neuer, am 16. Und 17 Juni gewählter Präsident am 30. Juni angelobt werden und der seit dem Sturz Präsident Mubaraks im Februar 2011 regierende „Höchste Militärrat“ (HMR) werde, wie versprochen, die Macht übergeben. Mit dieser Erklärung versuchten Montag die HMT-Generäle ein empörtes Volk zu beschwichtigen und erfüllten zugleich ein ihrem wichtigsten Verbündeten und Finanzier, USA, gegebenes Versprechen. Doch niemanden vermag diese Farce zu überzeugen. Noch steht nicht fest, wer von den beiden für viele Ägypter de facto unwählbaren Kandidaten – dem Moslembruder Mursi oder dem Ex-General und Ex-Premier Mubaraks Shafik – der neue Präsident sein wird. Beide beanspruchen den Sieg für sich und damit einen Erfolg, der in den vergangenen Stunden fast jede Relevanz verlor. Denn was ein historischer Tag für das Land der Pharaonen werden sollte – der Aufstieg des ersten in freien Wahlen vom Volk bestellten Herrschers – erwies sich als schwere Enttäuschung. Nur wenige Stunden nach Schließung der Wahllokale verkündete der HMR ein Verfassungsdekret, das ihm auch für die nächste Zukunft weitreichende Machtbefugnisse sichert. Nachdem Donnerstag das Verfassungsgericht überraschend das erst vor vier Monaten gewählte Parlament aufgelöst hatte, übernimmt nun der Militärrat die Gesetzgebungshoheit bis eine neue Volksvertretung gewählt ist. Er erhält auch die Kontrolle über das Budget und die volle Autorität über die Streitkräfte, ein besonderes Anliegen des HMR). Mitgliedern des Militärrates, allen voran dessen Chef, Feldmarschall Tantawi, sind die Posten auf Lebenszeit gesichert.

Vor allem gilt auch die Verfassungsgebende Versammlung aufgelöst, die das von der Moslembruderschaft (MB) und den radikaleren islamistischen Salafisten dominierte Parlament gewählt hatte. Die Militärs werden eine Kommission nach ihrem Geschmack einsetzen, die binnen drei Monaten einen Verfassungsentwurf erarbeiten und diesen dem Volk zur Billigung vorlegen soll. Innerhalb eines Monats nach Annahme der neuen Verfassung sollen dann Parlamentswahlen stattfinden. Ob dieser Zeitplan eingehalten wird, ist äußerst fraglich. Zumindest bis zu einem Übergang zu einem demokratischen System – falls dieser je stattfindet – hat auch die Polizei nach einem eben verabschiedeten Dekret de facto unumschränkte Befugnisse zu verhaften, wen sie will. Die islamistische und säkulare Opposition ist ebenso schockiert wie Angehörige der in Ägypten sehr lebendigen Zivilgesellscvhaft. Der Friedensnobepreisträger Mohammed el Baradei spricht von einem „schweren Rückschlag für die Demokratie und die Revolution.“ Der Menschenrechtsaktivist Hossam Bahgal klagt, der „Arabische Frühling“ habe Ägypten in eine „Militärdiktatur“ geführt und eine Demokratieaktivisten faßt die Sorge vieler zusammen: Ägypten sei in eine Lage zurückgefallen, die „schlimmer“ sei „als der Nullpunkt“.

Dieser von den Offizieren der Mubarak-Ära sorgfältig geplant Coup richtet sich in erster Linie gegen die Moslembruderschaft, den Erzfeind des herrschenden Establishments seit Jahrzehnten. Seit Beginn der Proteste gegen Mubarak im Januar 2011 sprachen die Kräfte des alten Regimes von einem Komplott der Moslembrüder (MB) und versuchten, diese in Teilen der Bevölkerung sehr populäre und bestens organisierte Kraft zu schwächen und zu isolieren. Innerhalb der MB setzten sich die Hardliner durch, die in den vergangenen Monaten zunehmend ihre revolutionären und demokratischen Partner vor den Kopf stießen und wichtige Teile der ägyptischen Gesellschaft, Liberale, Frauen und Kopten, in tiefe Ängste vor einer drohenden Islamisierung des Landes stürzten. Als sie schließlich neben dem Parlament, der Verfassungsgebenden Versammlung auch noch die Präsidentschaft zu erobern schienen, starteten die anti-islamischen Generäle ihren Coup. Dabei geht es den Offizieren keineswegs nur darum, Ägypten vor einer verstärkten Islamisierung zu retten, sondern vor allem auch sich ihre Machtposition im Staat und in der Wirtschaft, die weitreichenden Privilegien, die die Streitkräfte auch als Empfänge von Milliarden von Militärhilfe aus den USA geniießen, zu erhalten.

Die MB ist entschlossen, die Auflösung des Parlaments mit legalistischen Mitteln zu bekämpfen. Laut Verfassung von 1971 (wobei umstritten ist, ob diese auch derzeit gilt) steht ein solcher Schritt nur dem Präsidenten zu. Manche Aktivisten verkünden eine neue Periode der Proteste. Die Generäle aber spekulieren mit der Müdigkeit der ägyptischen Bevölkerung nach 17-monatigen Turbulenzen mit ihren gravierenden Auswirkungen auf die Wirtschaft und das Einkommen der Bevölkerung. Ein großer Teil der Ägypter sehnt sich nach Ruhe und Stabilität. Die Stimmung am Kairoer Tahrir-Platz, der Geburtsstätte der Revolution, Sonntag und Montag war erstaunlich gedämpft, ja resigniert.

Weiterlesen ...

Sonntag, 17. Juni 2012

Hilflose UN-Beobachter in Syrien

Die Chancen auf eine Rettung Syriens vor einem katastrophalen Bürgerkrieg schwinden rapide

von Birgit Cerha

Mit seiner Entscheidung, die Mission der 298 militärischen Beobachter und 112 Zivilisten, die im Auftrag der UNO in Syrien die Durchsetzung eines Waffenstillstands überwachen sollten, nach nur zwei Monaten auszusetzen, hat deren Kommandant, Robert Mood, dem einzigen noch bestehenden Friedensplan für das gequälte Land einen schweren Schlag versetzt. Die Beobachtermission ist Teil eines in zähen Verhandlungen vom Sonderbeauftragten der UNO und der Arabischen Liga, Kofi Annan, mit dem Assad-Regime und dessen Gegnern ausgehandelten Friedensplans, der letzten Hoffnung für Syrien, wo 15-monatige brutale Repression durch das Regime und zunehmend gewaltsame Gegenwehr schon bis zu 15.000 Menschenleben kosteten.

Vorläufig betonen Moore, Vertreter der UNO und der Arabischen Liga, dass sich die Beobachter nur von den Szenen der Gewalt zurückgezogen hätten und ihre Arbeit wieder aufnehmen würden, sobald ihr Leben nicht mehr in Gefahr wäre. Sie begründen diesen Schritt mit der insbesondere in den vergangenen zehn Tagen dramatisch eskalierten Gewalt. Während das Regime keinen militärischen Einsatz scheut, um an die Rebellen verlorenes Terrain zurückzuerobern, eskalieren auch die bewaffneten Gegner Assads ihre Attacken.

Tatsächlich hat sich die Arbeit der Beobachter aus 60 UN-Mitgliedsländern in den vergangenen Tagen als zunehmend lebensgefährlich erwiesen. Sie wurden beschossen, von Regime-Sympathisanten attackiert und zweimal explodierte eine Bombe nahe ihrer Fahrzeuge. Verletzt allerdings wurde bisher niemand.

Der Weltsicherheitsrat wird Dienstag über die weiteren Schritte beraten. Findet er nicht rasch eine Lösung, dann könnte Kofi Annans Friedensplan endgültig gescheitert und die Beobachter würden – wie ihre Vorgänger von der Arabischen Liga im Vorjahr – unverrichteter Dinge abziehen. Die Weltgemeinschaft würde tatenlos dem weiteren Gemetzel mit seinen für de gesamte Region unabsehbaren Folgen zusehen. Die Opposition, die Anti-Assad-Aktivisten in Syrien schäumen. Zwar hatten sie Annans Plan, der schließlich eine Verhandlungslösung für Syrien – und nicht den Sturz des Diktators – vorsieht, grundsätzlich abgelehnt, sich aber anfänglich für verbal für die Durchsetzung eines Waffenstillstandes kooperativ gezeigt, nun beschuldigen sie die UNO unmoralischen Verhaltens: „Ihre Präsenz ist wie ihre Abwesenheit“, wettert ein Aktivist aus Homs. „Sie (die Beobachter) sind unfähig, die Gewalt zu stoppen“ und würden nun nicht einmal mehr bezeugen können, wer und wie unbewaffnete Zivilisten dahingemetzelt würden.

Längst steht freilich fest, dass beide Seiten kein Interesse an einem Waffenstillstand und der Suche nach einer Kompromisslösung haben. Derzeit geht es beiden nur um militärische Geländegewinne. Nicht nur Assads Gegner, auch unabhängige Quellen sind davon überzeugt, dass der Diktator nicht einmal die ersten Punkte des Annan-Plans – Abzug seiner Streitkräfte und schwerer Waffen aus Städten und anderen Siedlungsgebieten – bereit ist zu erfüllen, geschweige denn gemeinsam mit der Opposition demokratische Reformen zu beschließen. Beides würde das Ende seines Regimes besiegeln.

Moores Entscheidung ist eine Botschaft insbesondere an Rußland und China, Assads wichtigste Verbündete, den Druck auf den Diktator zu verstärken, um Annans Friedensplan noch eine Chance zu geben. Scheitert er, herrscht weitgehende internationale Ratlosigkeit. Rußland schlug für 30 Juni eine internationale Konferenz über diesen Konflikt vor, der zunehmend internationale Dimension erreicht. Moskau besteht auf Beteiligung des engen syrischen Verbündeten Iran, ohne den eine haltbare Lösung nicht möglich ist. Doch dies scheiterte bisher am Widerstand der Amerikaner und Europäer. Auch der Plan, Kontaktgruppen für beide Seiten zu bilden, stößt auf Schwierigkeiten. Zugleich wächst nun die Gefahr, dass Rufe vor allem von Teilen der Opposition nach einer militärischen Lösung, mehr und mehr besonnene Stimmen übertönen.

Weiterlesen ...

Mittwoch, 13. Juni 2012

Ägyptens Zukunft in der Schwebe

Höchste Richter entscheiden über den Weg aus 60-jähriger Diktatur – Legalistisches Chaos stürzt das Land in tiefe Ungewißheit

von Birgit Cerha

Am 16. und 17. Juni sollen die Ägypter in zweiter Runde zum ersten Mal frei ihren Präsidenten wählen. Am 1. Juli – so versprachen die seit dem Sturz Präsident Mubaraks im Februar 2011 herrschenden Generäle – soll der „Höchste Militärrat“ die Macht im Staat an das demokratisch gewählte Staatsoberhaupt abgeben. Die Ära der Demokratie sollte damit am Nil beginnen. Doch ob diese historischen Ereignisse tatsächlich eintreten, ist höchst ungewiss. Denn während der Wahlkampf zwischen den beiden Kandidaten – dem sich revolutionär gebenden Kandidaten der „alten Ordnung“, Shafik, und jenem der von Mubaraks Diktatur massiv unterdrückten Moslembruderschaft, Mursi, in voller Heftigkeit tobt, beginnt Ägyptens Höchstes Verfassungsgericht heute, Donnerstag, - nur zwei Tage vor der Stichwahl - Beratungen über zwei Schicksalsentscheidungen für das Land:

1. Muss Ahmed Shafik, Mubaraks letzter Premierminister und in den Augen vieler, insbesondere der revolutionären Kräfte, Symbol des alten Regimes und Sachwalter der Interessen der so lange herrschenden Elite, disqualifiziert werden?

2.Sind die ersten Parlamentswahlen nach Mubarak vom vergangenen November verfassungswidrig?

Beide Entscheidungen, die die Richter in einem seit dem Sturz Mubaraks ausgebrochenen legalistischen Chaos fällen müssen, haben gravierende, aber bisher höchst ungewisse Konsequenzen.

Nach seiner Machtübernahme vor mehr als einem Jahr setzte der Militärrat die bis dahin geltende Verfassung von 1971 aus, entwarf neue in einem Referendum im März 2011 gebilligte Artikel und später noch 63 weitere. Alle drei Grundgesetze könnten nun zur Anwendung kommen. Höchste Aktualität besitzt das „Isolations-Gesetz“, das das von der Moslembruderschaft und den radikaleren islamistischen Salafisten zu fast 75 Prozent dominierte Parlament im April in großer Hast verabschiedet hatte, um die Kandidatur des verhassten ehemaligen militärischen Geheimdienstchefs, engsten Beraters und Vizepräsidenten Mubaraks, Omar Suleiman für die Präsidentschaft zu blockieren. Das Gesetz hatte dies nicht erreicht, doch Suleiman wurde schließlich disqualifiziert, weil er nicht genügend Unterschriften für seine Kandidatur sammeln konnte. Opfer des Gesetzes, das hohe Funktionäre des alten Regimes vom Präsidentenamt ausschließt, wurde jedoch Shafik. Die Disqualifikation wurde jedoch bis zu einer Entscheidung des Höchsten Verfassungsgerichts ausgesetzt.

Das Gericht, so meinen Beobachter am Nil, könnte die Entscheidung einfach aufschieben und würde damit das Land in große Ungewissheit stürzen. Ein beratendes Juristengremium empfahl den Höchstrichtern unterdessen, sich nicht – was ebenfalls eine Option wäre – für unzuständig zu erklären, womit Shafik automatisch disqualifiziert wäre, sondern die Verfassungswidrigkeit des “Isolations-Gesetzes zu entscheiden, da es für bestimmte Persönlichkeiten (Premier und Vizepräsident) aber nicht andere hohe Funktionäre gelte.

Die Folgen einer Disqualifiktion Shafiks so kurz vor den Wahlen sind unklar. Es gibt drei Optionen: Mursi könnte sich allein den Wählern stellen; der im ersten Wahlgang Drittplazierte, der linke politische Aktivist Hamdeen Sabahi könnte in die Stichwahl aufsteigen oder die erste Wahlrunde müßte wiederholt werden, womit die Machtübergabe des Militärrates aufgeschoben wäre.

Aus Kreisen des Höchstgerichts ist unterdessen durchgesickert, dass die Parlamentswahlen für verfassungswidrig erklärt würden. Unter Druck insbesondere der Moslembruderschaft hatte der Militärrat kurz vor den Wahlen ein Gesetz abgeändert, das ein Drittel der Parlamentssitze unabhängigen Kandidaten vorbehielt, während die Parteien um die anderen zwei Drittel werben mußten. Das neue Gesetz gestattet Parteimitgliedern, auch für Unabhängige reservierte Sitze zu erobern. Insbesondere die Moslembrüder verhinderten damit, dass Anhänger des alten Regimes als Unabhängige ins neue Parlament einziehen und sicherten sich zudem, gemeinsam mit dem Salafisten die überwältigende Mehrheit.

Wird das Parlament aufgelöst – noch ist unklar, wer dazu die Macht besäße – könnte es zur Gänze neu gewählt werden oder auch nur zu einem Drittel. Ein solcher Schritt könnte die politische Landschaft verändern, denn die Moslembruderschaft hat in den vergangenen Monaten durch ein weithin als problematisch angesehenes Verhalten im Parlament möglicherweise beträchtlich an Popularität eingebüßt. Unklar ist allerdings auch, ob die Verfassungsgebende Versammlung, die nach monatelangem Streit zwischen Islamisten, die sie zu dominieren suchen und Säkularisten in der Nacht auf Mittwoch endlich von 85 Prozent der Parlamentarier (die anderen, alle Gegner der Islamisten, boykottierten die Entscheidung) gewählt wurde von einem neuen Parlament neu bestellt werden müßte. Damit blieben vor allem die Machtbefugnisse des Präsidenten, die in einer neuen Verfassung erst festgelegt werden müßte, für viele Monate ungeklärt.

Ägyptens Höchstgericht stand lange, insbesondere in den 80er Jahren, im Ruf höchster Kompetenz und Unabhängigkeit. Etwa die Hälfte der 18 Richter wurde in dieser Zeit berufen. Die anderen wurden später ernannt, als Mubarak „mehr kooperative“ Juristen einzuschleusen versuchte. Ihre Entscheidungen werden Ägyptens Weg in die Zukunft weisen.

Weiterlesen ...

Dienstag, 12. Juni 2012

Assads Herrschaft „in den letzten Zuckungen“?

Während die Grausamkeiten auf beiden Seiten barbarische Ausmaße erreichen, bröckelt die historische Allianz zwischen dem syrischen Regime und der Geschäftswelt

von Birgit Cerha

Schockierende Berichte über ungeheuerliche Brutalitäten in Syrien häufen sich. Mehr als 1.100 Kinder kamen laut Human Rights Watch seit Februar 2011 durch Gewaltakte in dem eskalierenden Krieg um die Macht in diesem geostrategisch so zentralen Land ums Leben. Gezielt würden Kinder von den staatlichen Sicherheitskräften als menschliche Schutzschilder missbraucht, während gewalttätige Rebellen, wie die in der Türkei stationierte „Freie Syrische Armee“ (FSA), zunehmend Minderjährige für ihren Kampf gegen das Assad-Regime rekrutierten, stellte jüngst auch der Weltsicherheitsrat fest. „Wir sind in eine heikle Phase eingetreten. Das Regime liegt in den letzten Zuckungen“, betont Abdul Basit Sieda, der eben zum neuen Führer des ebenfalls in der Türkei stationierten oppositionellen „Syrischen Nationalrates“ (SNR) gewählte kurdische Philosophieprofessor. Und die Gegner Präsident Assads gewinnen neuen Mut, dass sie dem Regime endlich den Todesstoß versetzen könnten. Zu diesem Zweck will Sieda die Basis des bisher von der Moslembruderschaft dominierten SNR wesentlich erweitern und vor allem Minderheiten, wie die Kurden, die Christen, die alewitischen Gegner Assads u.a. in die so voreilig vom Westen als Repräsentantin des syrischen Volkes anerkannte Organisation zur Teilnahme gewinnen. Doch die Chancen stehen schlecht. Seit mehr als zwei Jahrzehnten lebt Sieda in Schweden, in Syrien kennt ihn niemand und selbst für die Kurden, die dem von Sunniten dominierten SNR zutiefst misstrauen, weil er bisher von einem föderalen, die Rechte der Minderheiten achtenden System nach Assad nichts wissen will, sehen in Sieda keinen Führer, der sich für ihre Interessen engagiert. Somit bleibt die politische Opposition de facto führerlos, vermutlich weiterhin zersplittert und offen für Manipulationen (wie bisher überwiegend durch die Moslembrüder) und Rivalitäten.

Die gewalttätigen Rebellen, wie die FSA aber haben in den vergangenen Wochen beträchtlich an Boden gewonnen. Verstärkte internationale Bemühungen – vor allem von Saudi-Arabien und Katar, stillschweigend unterstützt und koordiniert durch die USA –, die militanten Regimegegner mit besseren, aus der Türkei, dem Irak und dem Libanon geschmuggelten Waffen und mehr Geld auszustatten, zeigen Erfolge. „Sie erweisen sich als zunehmend schlagkräftige Guerillaeinheiten“, analysiert ein unabhängiger Militärexperte. Das Regime setzt zwar exzessive Gewalt zur Zerstörung der Rebellen-Hochburgen ein, doch Assads Männer können nicht überall zur selben Zeit zuschlagen. So kontrollieren die Rebellen nun zahlreiche kleine Städte und Dörfer in Nord-Syrien, wo das Regime de facto bereits in die Hände diverser Gegner Assads – radikale Salafisten und Angehörige der weitgehend säkularen FSA - gefallen ist. Überfälle auf Regierungspositionen nehmen zu. Anfang Juni töteten Guerillas mehr als 80 syrische Soldaten und verkündeten zugleich offiziell, dass sie sich nicht mehr an den vom UN-Abgesandten Kofi Annan vermittelten Waffenstillstand halten wollten, was sie ohnedies nicht getan hatten. Unter den Sicherheitskräften lassen sich Anzeichen einer Demoralisierung erkennen, die Zahl der Desertionen steigt.

Zugleich gibt es verstärkte Hinweise, dass auch Assads militante Gegner ungeheuer brutal zuschlagen. So mehren sich glaubwürdige Augenzeugenberichte, dass das jüngste Massaker, bei dem in Houla, eine zu 90 Prozent von Sunniten bewohnte Stadt, mehr als hundert Menschen, darunter etwa 40 Kinder, bestialisch ermordet wurden, nicht – wie behauptet – von Regierungssoldaten, sondern von sunnitischen Oppositionellen verübt worden war. Dafür spricht auch die Tatsache, dass die Opfer fast ausschließlich Angehörige der alewitischen und schiitischen Minderheit der Stadt sind. Die Täter aber hätten laut Augenzeugen die Ermordeten gefilmt und die Videos ins Internet als sunnitische Opfer des Regimes gepostet. Bereits Anfang April hatte Mutter Agnes-Mariam de la Croix des nahegelegenen St.James-Klosters eindringlich vor Rebellen gewarnt, die Gräueltaten begingen und diese dann arabischen und westlichen Medien als Verbrechen des Regimes präsentierten. Berichte, dass Assads Sicherheitskräfte das Massaker von Houla angerichtet hätten, dürften entscheidend zu einem Stimmungsumschwung unter jenen vor allem sunnitischen Syrern der Mittelschichte beigetragen haben, die bisher stillschweigend das Regime unterstützt haben. So ist ein einwöchiger Proteststreik der Händler des berühmten Damaszener Souks Hamediye, die erste derartige Aktion zivilen Ungehorsams seit Beginn der Rebellion, das bisher deutlichste Anzeichen, dass die historische Allianz zwischen Regime und der überwiegend sunnitischen Geschäftswelt – wichtiges Rückgrat der Herrschaft Assads - zu bröckeln beginnt. Zugleich rücken auch die oppositionellen Kämpfer immer näher zu den Zentren der beiden größten Städte – Damaskus und Aleppo -, das Herz des Regimes.

Offen rufen FSA-Kommandeure zu einer Großoffensive, die Assad endgültig in die Knie zwingen soll. Und sie nennen gar einen Zeitpunkt: 20. Juli, wenn die UNO-Beobachter ihre Syrien-Mission beenden. Um diese Zeit etwa beginnt auch der Fastenmonat Ramadan. Auch Regimekreise halten den 20. Juli für einen Stichtag, an dem es gelte, Syrien endgültig von „Terroristen“ zu „säubern“. Trotz ihrer jüngsten Erfolge und der zunehmenden Unterstützung, sind die auch von Kriminellen und radikalen Gewalttätern unterwanderten Rebellen militärische Assads Sicherheitskräften immer noch weit unterlegen. Waffen aber strömen weiter von allen Seiten ins Land und eine wehrlose Zivilbevölkerung zahlt einen schockierenden Preis.

Weiterlesen ...

Montag, 4. Juni 2012

Urteil gegen Mubarak vertieft Gräben in Ägypten

Tausende kehren zurück zum Zentrum der Tahrir-Revolution, während die Ängste vor erneuten Turbulenzen im Vorfeld der Stichwahl für die Präsidentschaft wachsen

von Birgit Cerha



Sie sind wieder zornig. Tausende Ägypter verbrachten die Nacht auf dem Tahrir-Platz in Kairo, wo sie vor15 Monaten durch ihre friedliche Entschlossenheit ihren modernen „Pharao“, Präsident Hosni Mubarak nach drei Jahrzehnten vom Thron gestürzt hatten. Hier hatten sie die Macht des Volkes demonstriert und das System in seinen Grundfesten erschüttert. Nun empfinden die Revolutionäre der 18-tägigen Revolution nichts als zornige Ohnmacht. Die Verhaftung des und ein Gerichtsverfahren gegen den gestürzten Präsidenten hatten sie gegen den offensichtlichen Willen der herrschenden Militärjunta durchgesetzt. Nun, da ein unabhängiges Gericht Samstag das Urteil gegen Mubarak, dessen Söhne, den langjährigen Innenminister, einen mutmaßlich korrupten Familienfreund und sechs Polizeichefs verkündete, fühlen sich die gewaltlosen Kämpfer um Würde, Freiheit und für ein modernes demokratisches, die Familien der 84 von Schergen des Regimes getöteten und 6000 verletzten Demonstranten verraten und betrogen. „Exekution ist die einzige Antwort auf diese Verbrechen“, fasst eine empörte Aktivistin die Gründe für den Ärger vieler Ägypter zusammen, den Ärger darüber, dass Mubarak und sein Innenminister und Verantwortlicher für die Gewalttaten der Polizei, Hadib el-Adly, nur zu lebenslanger Haft verurteilt wurden, dass Mubarak, seine Söhne und ein Familienfreund von Korruption freigesprochen wurden und vor allem, dass sechs Polizeichefs völlig straffrei blieben. Der Prozeß, der erste in der Region, in dem ein unabhängiges Gericht einen gestürzten Diktator in dessen Beisein für die Taten seiner Herrschaft zur Rechenschaft gezogen hatte, setzte dennoch einen Markstein für die gesamte arabische Welt. Er konnte aber die tiefen Gräben, die die 18tägige Revolution in der ägyptischen Gesellschaft offengelegt hatte, nicht überbrücken. Ganz im Gegenteil.

(Bild: Fotos der getöteten Demonstranten vor dem Gerichtsgebäude)

Mubarak verfolgte den Urteilsspruch mit eiserner Miene. Bewegungslos und schweigend, wie stets seit Beginn des Prozesses am 3. August 2011 lag er auf seinem mobilen Krankenbett, seine Augen unter einer pechschwarzen Sonnenbrille verborgen. Nur einmal hatte er in den vergangenen zehn Monaten seine Unschuld beteuert. Plädoyer hielt er keines, wandte sich dafür in einem offenen Brief direkt an das Volk, dem er seine große Liebe bekundete und für das er, der Held im Befreiungskrieg von Israel besetzten ägyptischen Landes, ein Leben lang gekämpft hätte. Zutiefst deprimiert, berichten Insider, fühle er sich nicht nur unschuldig sondern völlig missverstanden. Richter Ahmed Refaat begründete nach einer poetischen Würdigung der Revolution seine Entscheidung gegen die Höchststrafe, den Tod, mit fehlenden Beweisen, dass Mubarak persönlich den Befehl zum Gemetzel unter Demonstranten gegeben hätte. Lebenslang laute das Urteil gegen Mubarak und Adly aber, weil beide die blutige Gewalt nicht verhindert hätten. Wiewohl das Gericht das Leben des gestürzten Autokraten schonte, blieben dem 84-Jährigen schwerste Demütigungen nicht erspart. Wie ein wildes Tier, vor dem man das Volk schützen müsse, hatte man Mubarak und seine Mitangeklagten gezwungen, hinter metallenen Gitterstäben und Stacheldraht den Prozeß zu verfolgen – ein Symbol für den Triumph des Volkes über die Tyrannei.

Ägypten ist tief gespalten. Der Prozess gegen Mubarak hat, ebenso wie die erste Runde der Präsidentschaftswahlen, in der gemäßigte Kompromisse suchende Kandidaten unterlagen, die hohen Erwartungen der demokratischen Revolutionäre und ihrer Sympathisanten nicht erfüllt. Eine tiefe Kluft zieht sich durch das Volk. Auf der einen Seite stehen jene, die Mubarak Jahrzehnte des Friedens und der Stabilität danken. Fast eine Million Ägypter setzte sich im Internet für seine Freilassung ein,. Viele, die mit dem alten Herrscher nicht sympathisieren, fürchten aber eine islamische Radikalisierung und weitere Destabilisierung mit katastrophalen Folgen. Auf der anderen Seite stehen jene, die Mubarak vorwerfen, dass er Ägypten seinen führenden Status in der arabischen Welt genommen, dass er das Volk in Armut gestürzt und Korruption einer kleinen Schichte bis zum Exzess getrieben hat. Besonders empört viele, dass nun niemand für den Tod von fast tausend wehrlosen Bürgern direkt zur Verantwortung gezogen wurde, dass hohe Offiziere der wegen ihrer wahllosen Brutalitäten seit langem verhassten Polizei freigelassen wurden. Während Juristen, wie Khalid Abu Bakr, Anwalt einiger Opferfamilien, die „Transparenz und Objektivität dieses historischen Prozesses“ würdigen, der internationale Standards erreicht habe, klagen andere, wie Heba Horayef von Human Rights Watch in Kairo, dass das Verfahren „ein Schlaglicht auf die äußerst schlechte Arbeit der Staatsanwaltschaft“ werfe, die „äußerst schlechte Untersuchungen durchgeführt hat“. Unabhängige Beobachter vermuten auch massiven Druck auf Zeugen, die ursprüngliche Aussagen über Befehle an die Polizei, scharfe Munition gegen Demonstranten einzusetzen, wieder zurückgezogen hatten.

Juristen in Kairo gehen davon aus, dass die Angeklagten gegen die Urteile berufen. Eine Reihe von prozeduralen Entscheidungen ließen wichtige Fragen offen, die auch dem neuen, Mitte Juni gewählten Präsidenten die Möglichkeit eröffnen könnte, Mubarak zu begnadigen. Vielleicht, so meinen Skeptiker, hatte das ganze Justizspektakel dieses Ziel verfolgt. Ein langer Rechtsstreit und eine politische Schlacht über die Fairness des Urteils wird nun wohl das Land in Atem halten und könnte den ohnedies schon so schwierigen Übergangsprozess zu einem neuen politischen (demokratischen) System empfindlich stören.

Weiterlesen ...