Tausende kehren zurück zum Zentrum der Tahrir-Revolution, während die Ängste vor erneuten Turbulenzen im Vorfeld der Stichwahl für die Präsidentschaft wachsen von Birgit Cerha Sie sind wieder zornig. Tausende Ägypter verbrachten die Nacht auf dem Tahrir-Platz in Kairo, wo sie vor15 Monaten durch ihre friedliche Entschlossenheit ihren modernen „Pharao“, Präsident Hosni Mubarak nach drei Jahrzehnten vom Thron gestürzt hatten. Hier hatten sie die Macht des Volkes demonstriert und das System in seinen Grundfesten erschüttert. Nun empfinden die Revolutionäre der 18-tägigen Revolution nichts als zornige Ohnmacht. Die Verhaftung des und ein Gerichtsverfahren gegen den gestürzten Präsidenten hatten sie gegen den offensichtlichen Willen der herrschenden Militärjunta durchgesetzt. Nun, da ein unabhängiges Gericht Samstag das Urteil gegen Mubarak, dessen Söhne, den langjährigen Innenminister, einen mutmaßlich korrupten Familienfreund und sechs Polizeichefs verkündete, fühlen sich die gewaltlosen Kämpfer um Würde, Freiheit und für ein modernes demokratisches, die Familien der 84 von Schergen des Regimes getöteten und 6000 verletzten Demonstranten verraten und betrogen. „Exekution ist die einzige Antwort auf diese Verbrechen“, fasst eine empörte Aktivistin die Gründe für den Ärger vieler Ägypter zusammen, den Ärger darüber, dass Mubarak und sein Innenminister und Verantwortlicher für die Gewalttaten der Polizei, Hadib el-Adly, nur zu lebenslanger Haft verurteilt wurden, dass Mubarak, seine Söhne und ein Familienfreund von Korruption freigesprochen wurden und vor allem, dass sechs Polizeichefs völlig straffrei blieben. Der Prozeß, der erste in der Region, in dem ein unabhängiges Gericht einen gestürzten Diktator in dessen Beisein für die Taten seiner Herrschaft zur Rechenschaft gezogen hatte, setzte dennoch einen Markstein für die gesamte arabische Welt. Er konnte aber die tiefen Gräben, die die 18tägige Revolution in der ägyptischen Gesellschaft offengelegt hatte, nicht überbrücken. Ganz im Gegenteil. (Bild: Fotos der getöteten Demonstranten vor dem Gerichtsgebäude) Mubarak verfolgte den Urteilsspruch mit eiserner Miene. Bewegungslos und schweigend, wie stets seit Beginn des Prozesses am 3. August 2011 lag er auf seinem mobilen Krankenbett, seine Augen unter einer pechschwarzen Sonnenbrille verborgen. Nur einmal hatte er in den vergangenen zehn Monaten seine Unschuld beteuert. Plädoyer hielt er keines, wandte sich dafür in einem offenen Brief direkt an das Volk, dem er seine große Liebe bekundete und für das er, der Held im Befreiungskrieg von Israel besetzten ägyptischen Landes, ein Leben lang gekämpft hätte. Zutiefst deprimiert, berichten Insider, fühle er sich nicht nur unschuldig sondern völlig missverstanden. Richter Ahmed Refaat begründete nach einer poetischen Würdigung der Revolution seine Entscheidung gegen die Höchststrafe, den Tod, mit fehlenden Beweisen, dass Mubarak persönlich den Befehl zum Gemetzel unter Demonstranten gegeben hätte. Lebenslang laute das Urteil gegen Mubarak und Adly aber, weil beide die blutige Gewalt nicht verhindert hätten. Wiewohl das Gericht das Leben des gestürzten Autokraten schonte, blieben dem 84-Jährigen schwerste Demütigungen nicht erspart. Wie ein wildes Tier, vor dem man das Volk schützen müsse, hatte man Mubarak und seine Mitangeklagten gezwungen, hinter metallenen Gitterstäben und Stacheldraht den Prozeß zu verfolgen – ein Symbol für den Triumph des Volkes über die Tyrannei. Ägypten ist tief gespalten. Der Prozess gegen Mubarak hat, ebenso wie die erste Runde der Präsidentschaftswahlen, in der gemäßigte Kompromisse suchende Kandidaten unterlagen, die hohen Erwartungen der demokratischen Revolutionäre und ihrer Sympathisanten nicht erfüllt. Eine tiefe Kluft zieht sich durch das Volk. Auf der einen Seite stehen jene, die Mubarak Jahrzehnte des Friedens und der Stabilität danken. Fast eine Million Ägypter setzte sich im Internet für seine Freilassung ein,. Viele, die mit dem alten Herrscher nicht sympathisieren, fürchten aber eine islamische Radikalisierung und weitere Destabilisierung mit katastrophalen Folgen. Auf der anderen Seite stehen jene, die Mubarak vorwerfen, dass er Ägypten seinen führenden Status in der arabischen Welt genommen, dass er das Volk in Armut gestürzt und Korruption einer kleinen Schichte bis zum Exzess getrieben hat. Besonders empört viele, dass nun niemand für den Tod von fast tausend wehrlosen Bürgern direkt zur Verantwortung gezogen wurde, dass hohe Offiziere der wegen ihrer wahllosen Brutalitäten seit langem verhassten Polizei freigelassen wurden. Während Juristen, wie Khalid Abu Bakr, Anwalt einiger Opferfamilien, die „Transparenz und Objektivität dieses historischen Prozesses“ würdigen, der internationale Standards erreicht habe, klagen andere, wie Heba Horayef von Human Rights Watch in Kairo, dass das Verfahren „ein Schlaglicht auf die äußerst schlechte Arbeit der Staatsanwaltschaft“ werfe, die „äußerst schlechte Untersuchungen durchgeführt hat“. Unabhängige Beobachter vermuten auch massiven Druck auf Zeugen, die ursprüngliche Aussagen über Befehle an die Polizei, scharfe Munition gegen Demonstranten einzusetzen, wieder zurückgezogen hatten. Juristen in Kairo gehen davon aus, dass die Angeklagten gegen die Urteile berufen. Eine Reihe von prozeduralen Entscheidungen ließen wichtige Fragen offen, die auch dem neuen, Mitte Juni gewählten Präsidenten die Möglichkeit eröffnen könnte, Mubarak zu begnadigen. Vielleicht, so meinen Skeptiker, hatte das ganze Justizspektakel dieses Ziel verfolgt. Ein langer Rechtsstreit und eine politische Schlacht über die Fairness des Urteils wird nun wohl das Land in Atem halten und könnte den ohnedies schon so schwierigen Übergangsprozess zu einem neuen politischen (demokratischen) System empfindlich stören.
Montag, 4. Juni 2012
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