Mit der Wahl des Islamisten Mohammed Mursi zum neuen Präsidenten haben die Ägypter Geschichte geschrieben – Doch der Kampf um Ägypten tritt nur in eine neue Phase Birgit Cerha Mit einem Schlag mündete die quälende Hochspannung auf dem Kairoer „Platz der Revolution“ in frenetischen Jubel. Ägyptens Moslembruderschaft feiert mit Hunderttausenden ihrer Anhänger den größten Triumph ihrer langen, oft so qualvollen Geschichte. Der Sieg ihres Kandidaten Mohammed Mursi in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl ist zugleich ein Sieg der Demokratie, der Revolution gegen die Diktatur Mubaraks, die beinahe zu scheitern drohte. Zum erstenmal in der Geschichte Ägyptens konnte das Volk einen Präsidenten tatsächlich frei wählen und das Militär lässt zu, dass erstmals nicht nur kein Offizier die Spitze des Staates erklimmt, sondern auch noch der Führer einer Massenbewegung, die es seit Jahrzehnten bekriegte. Selbst Vertreter der säkularen jugendlichen Aktivisten, die durch ihre Revolution in nur 18 Tagen Mubarak zu Fall gebracht hatten, verhehlen ihre Begeisterung über diese als fair empfundenen Wahlen nicht. Das von der Revolution erschöpfte Volk kann aufatmen. Hätte die Wahlkommission Mursis Gegenkandidaten, den Repräsentanten des alten Systems Ahmed Shafik, zum neuen Präsidenten erklärt, wäre Ägypten eine neue Welle der Gewalt wahrscheinlich nicht erspart geblieben. Mursis hochmotivierte Anhängerscharen hätten eine solches wohl zurecht als Manipulation empfundenes Ergebnis nicht tatenlos hingenommen. Doch die Euphorie ist getrübt durch eine Serie ungelöster, für die Zukunft Ägyptens höchst entscheidender Fragen und durch die Tatsache, dass Mursi als Präsident ohne Macht, ohne Verfassung, ohne Parlament, mit völlig unklaren Befugnissen Mubaraks Nachfolge antritt. Die einzige Macht, auf die er sich stützen kann, ist jene der Legitimität, die die Moslembrüder durch zwei Wahlsiege im vergangenen halben Jahr (Parlaments- und nun Präsidentschaftswahlen) gewannen und die ihnen stärkere Überzeugungskraft in der nun bevorstehenden Kraftprobe mit dem herrschende Militärrat verleihen könnte. Mursi, treuer Funktionär der Moslmbruderschaft, verspricht, Präsident für alle Ägypter zu werden. Deshalb verhandelte er in den vergangenen Tagen auch mit Teilen der säkularen Opposition, deutete die Möglichkeit an, einen Liberalen, wie Nobelpreisträger Mohammed el Baradei zum Premier zu berufen und eine Frau oder einen Kopten zu seinem Vizepräsidenten. Doch selbst wenn er dieses Versprechen hält, wird es ihm kaum gelingen, eine Brücke zur zweiten Hälfte Ägyptens zu bauen, zu jenen, die Shafik ihre Stimme gaben, den Kräften und Profiteuren des alten Systems, die immer noch die wichtigsten Institutionen beherrschen und entschlossen scheinen, diese nicht an ihre jahrzehntelangen Gegner abzugeben. Wird er quälenden Ängste der Minderheiten, allen voran der acht Millionen Kopten, vor einer Islamisierung des Landes zerstreuen können und der Frauen vor neuer Diskriminierung? Wird er seinen demokratischen Versprechen treu bleiben oder wird er sich zur Machterhaltung mit dem Militär arrangieren, wie etwa Gesinnungsbrüder es in Pakistan oder im Sudan getan hatten und ein repressives System, das Ägyptens Generäle – zumindest vorerst – führen wollen, unterstützen? Mursis Wahl hat die Ägypter nicht von der quälenden Ungewißheit über die Zukunft des Landes befreit. Sie hat jedoch bewiesen, dass das Militär, ungeachtet der autoritären Dekrete der vergangenen Woche, „sanfter Putsch“ genannt, die demokratische Revolution nicht abtöten konnte. „Der größte Erfolg den die Revolution bisher erzielte“, so meinte Sonntag abend der Aktivitst Bassem Sabry, „ereignete sich in der Psyche der Ägypter“. Niemand kann ihnen mehr eine Diktatur, wie jene der vergangenen 30 Jahre aufzwingen.
Sonntag, 24. Juni 2012
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