Mit seinem unerwarteten Versprechen, den saudischen Frauen das Wahlrecht zu erteilen, löst König Abdullah Freude aber auch tiefe Skepsis aus
Birgit Cerha
Saudische Frauenrechtlerinnen feiern einen unerwarteten Sieg, während Kommentatoren „weitreichende Folgen“ nicht nur für das Königsreich, sondern für die gesamte Region am Persischen Golf erwarten. Die überraschende Ankündigung König Abdullahs, dass Frauen künftig dasselbe Wahlrecht besitzen dürfen wie die Männer im Königreich und nicht nur für Positionen in lokalen Ämtern kandidieren dürfen, sondern auch in den Schura-Rat, ein vom König ernanntes Beratungsgremium , aufgenommen werden, löst in diesem ultrakonservativen Land eine Mischung aus Euphorie und tiefer Skepsis aus. „Wir hoffen, dass wir (Frauen) endlich Bürger mit vollen Rechten in diesem Staat werden“, bemerkt die Frauenrechtlerin und Universitätsprofessorin Hatun al Fassi. Und sie, wie viele andere, sehen den Schritt des Königs als Folge des „Arabischen Frühlings“, in dem in Ländern wie Tunesien, Ägypten und dem Jemen die Frauen eine treibende Kraft spielten und immer noch spielen.
Auch in Saudi-Arabien, wo die Frauen unterdrückt werden, wie nirgends sonstwo , riskieren mutige Bürgerinnen zunehmend Schikanen und Gefängnis, um mehr Rechte, insbesondere eine Aufhebung des Verbots selbst ein Auto zu steuern, durchzusetzen. Die Soziologin Fauziyah Abu Khalid wertet die Ankündigung des Königs als Hinweis darauf, dass selbst konservative Sektoren der Gesellschaft erkannt hätten, „dass auch andere Teile der Gesellschaft ein Recht besitzen, ihre Stimme zu erheben“. So manche Optimisten sprechen von „Sensation“, vom Bemühen des 87-jährigen Monarchen, als Reformer in die Geschichte einzugehen, auch wenn die Menschenrechte immer noch massiv mit Füßen getreten werden.
Abdullah hatte bei seinem Amtsantritt 2005 seinen Untertanen weitreichende Reformen versprochen. Doch er setzte bisher nur kleine Schritte – etwa die Gründung der ersten Universität für weibliche und männliche Studenten, sowie die Förderung der Bildung von Frauen durch die Vergabe Tausender Stipendien für Auslandsstudien. Jeder dieser Schritte stieß auf heftigen Widerstanden der erzkonservativen Ulemas (Religionsgelehrten) und deren einflussreiche Gesinnungsgenossen im Königshaus. Manche Kommentatoren werten die Tatsache, dass sich der Königs nun sogar so weit vorwagte, den Frauen politische Rechte zu gewähren, als Hinweis darauf, dass die Ulemas an Einfluß und Macht verlören. Dennoch ist mit heftigen Widerstand zu rechnen, ins besondere durch den Erzkonservativen Innenminister, Prinz Nayif ibn Abdulaziz, der wahrscheinlich Abdullahs Nachfolge antreten wird. Er gilt als energischer Verfechter der anhaltenden Geschlechtertrennung im Königreich, im Bunde mit den fundamentalistischen Wahabiten-Geistlichen.
Freilich, Abdullah trug diesen Kreisen Rechnung, indem er auf die Scharia (das islamische Recht) verwies, mit dem die künftige Rolle der Frauen im öffentlichen Leben in Einklang stehen müsse. Zudem gelten die neuen Regeln nicht für die nächsten Gemeinderatswahlen kommenden Donnerstag (die einzigen Wahlen im Königreich), sondern erst für die darauffolgende Runde im Jahr 2015.
Kritiker des Königshauses halten den Schritt Abdullahs für ein Ablenkungsmanöver eines verängstigten Königs, der zunächst mit Milliarden von Dollar versucht hatte, den Bazillus des „Arabischen Frühlings“ von den Grenzen seines Reiches fernzuhalten und dennoch die Frauen nicht von Rebellion abhalten konnte.
Denn, ob Abdullahs Ankündigung tatsächlich den erhofften Wandel einleitet, hängt davon ab, in welcher Weise die Scharia nun interpretiert wird. Zudem weisen Kritiker darauf hin, dass die Gewährung politischer Rechte nichts als Symbolik bleibt, wenn ihr nicht weitere Maßnahmen folgen, die der Degradierung der Frauen zu Bürgern zweiter Klasse endlich ein Ende setzen: etwa Reiseverbot ohne Genehmigung durch einen für sie verantwortlichen Mann; Auspeitschung für Ehebruch, Schikanen durch die Religionspolizei selbst wegen der kleinsten Übertretung der rigorosen Kleidervorschriften, Zwang zum Tragen des Gesichtsschleiers und insgesamt der Geschlechtertrennung in allen Lebensbereichen.
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Montag, 26. September 2011
Freitag, 23. September 2011
Salehs Rückkehr verschärft Spannungen im Jemen
Opposition befürchtet Eskalation der Gewalt zur Unterdrückung der Freiheitsbewegung nach gescheiterten Vermittlungsbemühungen
von Birgit Cerha
Der Donner von Explosionen und schwerer Artillerie überzog Jemens Hauptstadt Sanaa Freitag morgen. Mit Feuerwerken und Kanonen feierten Anhänger Präsident Salehs die abrupte Heimkehr des Diktators nach dreimonatigem Genesungsaufenthalt in Saudi-Arabien. Saleh, so verkündete einer seiner Sprecher, rufe die Kämpfenden zu einem Waffenstillstand auf und zu Verhandlungen, um die gefährliche politische Krise endlich zu beenden. Für Saleh, so der Sprecher „gibt es keine Alternative zu Dialog und Verhandlungen“.
Oppositionskreise verhehlten Freitag nicht den schweren Schock, in den sie die Heimkehr des Präsidenten versetzt hätte. Abdel-Hadi al-Azizi, Führer der Protestbewegung, die seit neun Monaten durch Sitzstreiks und Massenkundgebungen im Herzen Sanaas den Abtritt des seit drei Jahrzehnten herrschenden Diktators friedlich zu erzwingen suchten, betonte Salehs Rückkehr „bedeutet mehr Spaltungen, mehr Rivalitäten, mehr Konfrontationen. Wir durchleben eine sehr kritische Eskalation.
Jemens jugendliche Aktivisten, weitgehend ausgebildete und berufstätige Männer und Frauen, die die Hoffnung des Landes darstellen, hatten vor neun Monaten als erste Aktivistengruppe des arabischen Raumes begonnen, durch friedliche Demonstrationen den Diktator zudemokratischen Reformen zu zwingen. Im März hatten sie ihr Ziel beinahe erreicht, so schien es zumindest. Doch Saleh ist lanjgähriger Meister der politischen Überlebenskunst, intimer Kenner der Ränkespiele zwischen den diversen politischen Gruppen, Stämmen und Bevölkerungsschichten des Jemen. Er versuchte zunächst durch Reformversprechen, die sich rasch als unseriös erwiesen, die Gegner zu schlagen, dann zunehmend durch brutale Gewalt. Auf diese Weise wuchs die Schar der Oppositionellen, denen sich einer der engsten Mitstreiter Salehs, General Ali Mohsen, anschloß.
Am 3. Juni erlitt er bei einem Attentatsversuch gegen ihn und seine Führungsclique schwere Brandwunden. Als er sich nach einigem Zögern in Spitalsbehandlung in Saudi-Arabien begab, glaubten die Aktivisten, denen sich unterdessen auch die legale Parlamentsopposition angeschlossen hatte, ihr Ziel in greifbarer Nähe. Dreimal versprach Saleh, ein Abkommen zur allmählichen Machtübergabe zu unterzeichnen, nur um seine Zusage im letzten Moment wieder zurück zu ziehen. Starker Druck Riads und anderer Golfstaaten, den Weg zur Macht und damit zur Wiederherstellung der Stabilität in dem strategisch so wichtigen Jemen freizugeben, verfehlte seine Wirkung. So trotzt Saleh nun allen, Freund und Feind und kehrte nach Sanaa heim.
Der Zeitpunkt ist äußerst kritisch. Denn in Sanaa brach ein blutiger Machtkampf zwischen Kräften der schwerbewaffneten Eliten unter Führung General Mohsens, sowie des mächtigen Stammesführer Sadek al Ahmar auf den einen und der von Salehs Sohn angeführten „Republikanischen Garden“ und anderen regimetreuen Einheiten aus. Binnen fünf Tagen starben mehr als hundert Menschen und die Gewaltlosigkeit betonenden Demokratie-Aktivisten werden zu unschuldigen Geiseln in diesem Gemetzel. Ein Dienstag vereinbarter Waffenstillstand brach rasch wieder zusammen. Vermittler Des Golf-Kooperationsrates und der UNO kehrten unverrichteter Dinge wieder heim. Salehs alter Rivale Ahmar, der Hunderttausend schwer bewaffnete Stammeskrieger mobilisieren kann und teilweise bereits mobilisierte, zeigt sich unerbittlich und schwor eben wieder „bei Gott“, dass er nie wieder zulassen werde, dass Saleh über den Jemen herrsche.
Auch die Aktivisten zeigen sich kompromißlos, sie bestehen darauf, dass der Diktator wegen der ungeheuerlichen Brutalitäten der Regierungssoldaten gegenüber den Demonstranten zur Rechenschaft gezogen werden müsse. Ein Plan der Golfstaaten sieht Straffreiheit für Saleh und seine Familie vor. Saleh hatte vor wenigen Tagen seinen Vizepräsidenten zu erneuten Verhandlungen über diesen Plan ermächtigt. Doch die Chance auf Einigung erscheint nun geringer denn je. Oppositionelle befürchten, die Heimkehr des Diktators werde dessen Anhänger stärken und zu noch brutaleren Schlägen gegen die Demonstranten ermutigen. Doch dass sich diese einschüchtern lassen, erscheint ebenso unwahrscheinlich.
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von Birgit Cerha
Der Donner von Explosionen und schwerer Artillerie überzog Jemens Hauptstadt Sanaa Freitag morgen. Mit Feuerwerken und Kanonen feierten Anhänger Präsident Salehs die abrupte Heimkehr des Diktators nach dreimonatigem Genesungsaufenthalt in Saudi-Arabien. Saleh, so verkündete einer seiner Sprecher, rufe die Kämpfenden zu einem Waffenstillstand auf und zu Verhandlungen, um die gefährliche politische Krise endlich zu beenden. Für Saleh, so der Sprecher „gibt es keine Alternative zu Dialog und Verhandlungen“.
Oppositionskreise verhehlten Freitag nicht den schweren Schock, in den sie die Heimkehr des Präsidenten versetzt hätte. Abdel-Hadi al-Azizi, Führer der Protestbewegung, die seit neun Monaten durch Sitzstreiks und Massenkundgebungen im Herzen Sanaas den Abtritt des seit drei Jahrzehnten herrschenden Diktators friedlich zu erzwingen suchten, betonte Salehs Rückkehr „bedeutet mehr Spaltungen, mehr Rivalitäten, mehr Konfrontationen. Wir durchleben eine sehr kritische Eskalation.
Jemens jugendliche Aktivisten, weitgehend ausgebildete und berufstätige Männer und Frauen, die die Hoffnung des Landes darstellen, hatten vor neun Monaten als erste Aktivistengruppe des arabischen Raumes begonnen, durch friedliche Demonstrationen den Diktator zudemokratischen Reformen zu zwingen. Im März hatten sie ihr Ziel beinahe erreicht, so schien es zumindest. Doch Saleh ist lanjgähriger Meister der politischen Überlebenskunst, intimer Kenner der Ränkespiele zwischen den diversen politischen Gruppen, Stämmen und Bevölkerungsschichten des Jemen. Er versuchte zunächst durch Reformversprechen, die sich rasch als unseriös erwiesen, die Gegner zu schlagen, dann zunehmend durch brutale Gewalt. Auf diese Weise wuchs die Schar der Oppositionellen, denen sich einer der engsten Mitstreiter Salehs, General Ali Mohsen, anschloß.
Am 3. Juni erlitt er bei einem Attentatsversuch gegen ihn und seine Führungsclique schwere Brandwunden. Als er sich nach einigem Zögern in Spitalsbehandlung in Saudi-Arabien begab, glaubten die Aktivisten, denen sich unterdessen auch die legale Parlamentsopposition angeschlossen hatte, ihr Ziel in greifbarer Nähe. Dreimal versprach Saleh, ein Abkommen zur allmählichen Machtübergabe zu unterzeichnen, nur um seine Zusage im letzten Moment wieder zurück zu ziehen. Starker Druck Riads und anderer Golfstaaten, den Weg zur Macht und damit zur Wiederherstellung der Stabilität in dem strategisch so wichtigen Jemen freizugeben, verfehlte seine Wirkung. So trotzt Saleh nun allen, Freund und Feind und kehrte nach Sanaa heim.
Der Zeitpunkt ist äußerst kritisch. Denn in Sanaa brach ein blutiger Machtkampf zwischen Kräften der schwerbewaffneten Eliten unter Führung General Mohsens, sowie des mächtigen Stammesführer Sadek al Ahmar auf den einen und der von Salehs Sohn angeführten „Republikanischen Garden“ und anderen regimetreuen Einheiten aus. Binnen fünf Tagen starben mehr als hundert Menschen und die Gewaltlosigkeit betonenden Demokratie-Aktivisten werden zu unschuldigen Geiseln in diesem Gemetzel. Ein Dienstag vereinbarter Waffenstillstand brach rasch wieder zusammen. Vermittler Des Golf-Kooperationsrates und der UNO kehrten unverrichteter Dinge wieder heim. Salehs alter Rivale Ahmar, der Hunderttausend schwer bewaffnete Stammeskrieger mobilisieren kann und teilweise bereits mobilisierte, zeigt sich unerbittlich und schwor eben wieder „bei Gott“, dass er nie wieder zulassen werde, dass Saleh über den Jemen herrsche.
Auch die Aktivisten zeigen sich kompromißlos, sie bestehen darauf, dass der Diktator wegen der ungeheuerlichen Brutalitäten der Regierungssoldaten gegenüber den Demonstranten zur Rechenschaft gezogen werden müsse. Ein Plan der Golfstaaten sieht Straffreiheit für Saleh und seine Familie vor. Saleh hatte vor wenigen Tagen seinen Vizepräsidenten zu erneuten Verhandlungen über diesen Plan ermächtigt. Doch die Chance auf Einigung erscheint nun geringer denn je. Oppositionelle befürchten, die Heimkehr des Diktators werde dessen Anhänger stärken und zu noch brutaleren Schlägen gegen die Demonstranten ermutigen. Doch dass sich diese einschüchtern lassen, erscheint ebenso unwahrscheinlich.
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Mittwoch, 21. September 2011
Jemen „auf des Messers Schneide“
Rapide eskalierende Gewalt droht Arabiens Armenhaus in Anarchie und einen Bürgerkrieg mit katastrophalen Auswirkungen für die gesamte Region zu reißen
von Birgit Cerha
„Es ist Krieg, es ist Krieg“, ruft verzweifelt ein junger Demonstrant auf dem inzwischen heißumkämpften „Platz der Veränderung“ im Herzen der jemenitischen Hauptstadt Sanaa. Dort, wo Tausende junge Jemeniten seit neun Monaten betont friedlich Demokratie und ein Ende der 33-jährigen Diktatur Ali Abdullah Salehs verlangen, sind die unbewaffneten Demonstranten blutig zwischen die Fronten in einem dramatisch eskalierenden Konflikt geraten. Binnen drei Tagen starben mehr als 60 Menschen auch in anderen Teilen der Stadt und des Landes. Mindestens 25 Kinder sind laut Siyaj, einer Organisation zur Verteidigung der Rechte der Kinder, darunter, fast ausschließlich von Schüssen durch Salehs Soldaten getroffen. Sanaa glich Mittwoch einer toten Stadt. Wer nicht mit Tausenden Menschen im Morgengrauen flüchtete, sucht in den Häusern Schutz, während Regierungstruppen das von Einheiten des im März abgesprungenen Generals Ali Mohsen geschützte Protestlager im Stadtzentrum bombardieren.
Parallel zur Gewalt hat sich auch die Wirtschaftslage dramatisch zugespitzt. Seit Aktivisten vor neun Monaten ihre friedlichen Proteste gegen das Regime begannen, ist der Jemen politisch gelähmt und die Wirtschaft am Rande des Zusammenbruchs. Laut einer Studie der britischen „Oxfam“ haben heute bereits ein Drittel der 7,5 Millionen-Bevölkerung nicht mehr genug zum Essen.
All dies verstärkt die Frustrationen der Aktivisten und mit ihnen eines großen Teils der Bevölkerung. Ermutigt durch den Sturz Muammar Gadafis in Libyen, hatte die jemenitische Protestbewegung Sonntag versucht, das monatelange Patt zu brechen und ihren Aktionsraum innerhalb von Sanaa auszuweiten. Salehs Sicherheitskräfte antworteten mit brutaler Gewalt und offene Kämpfe brachen aus, als General Mohsen sein im März gegebenes Versprechen wahrmachte, die friedlichen Demonstranten wenn nötig mit Gewalt zu verteidigen. Die Angst vor einem Bürgerkrieg steigt.
Seit 1994, als er einen Krieg gegen den mit dem Norden 1990 vereinten Süd-Jemen gewonnen hatte, versuchte sich Saleh durch Manipulation der Stämme und die Methode des Teile und Herrsche an der Macht zu halten. Doch Jahre der Dürre, sinkender Öleinkünfte und wachsender Armut hatten seinen Manövrierraum wesentlich eingeengt. Durch verbale Zugeständnisse, deren mangelnde Ernsthaftigkeit rasch zutage trat, sowie gewaltsame Attacken auf Demonstranten hatte der Diktator versucht den Herausforderungen einer friedlichen Zivilgesellschaft zu trotzen, bis er sich vor vier Monaten nach einem Raketenanschlag auf ihn und zahlreiche führende Politiker nach Saudi-Arabien in Spitalsbehandlung begeben musste. Dort kündigte er dreimal an, einen unter Führung Riads von den Golfstaaten erarbeiteten Plan zur Machtübergabe zu unterzeichnen, zog die Versprechen jedoch jeweils rasch wieder zurück. Ankündigungen, er werde bald heimkehren – eine Absicht, die die Saudis bisher blockierten, heizten im Land die Spannung auf. Dort haben sich die Fronten verhärtet. Salehs Familie, sein Sohn und seine Neffen, halten vor allem durch die Kontrolle der Sicherheits- und Geheimdienstkräfte die Fäden der Macht in Händen. Neben der Kraftprobe mit der im Parlament vertretenen Opposition und der Protestbewegung ist aber eine zweite ist jedoch ein Machtkampf an anderer Front blutig ausgebrochen. Hier geht es um alte Rivalitäten innerhalb der privilegierten Elite im Herzen des Regimes, zwischen der Saleh-Familie und dem mächtigen Ahmar-Clan, sowie General Mohsen.
Für Vermittler der UNO und der Golfstaaten, die nun rasch in Sanaa das Schlimmste verhüten wollen, könnte es zu spät sein. Die Protestbewegung, aufgrund der vielen leeren Versprechen zutiefst mißtrauisch gegenüber dem Diktator, beharrt auf Salehs sofortigem Rücktritt. Sie will vom Plan der Golfstaaten, der Straffreiheit für Saleh und dessen Familie vorsieht, angesichts der ungeheuerlichen Brutalitäten nichts wissen. Saleh hingegen versucht, wie in den vergangenen neun Monaten, auch weiterhin auf Zeit zu spielen, in dem Glauben, dass diese doch noch für ihn arbeite. In dieser Situation befürchten viele mit Ali Abdul Jabar, dem Direktor eines jemenitischen Forschungszentrums, das Schlimmste: „Wenn die internationale Gemeinschaft nicht rasch (diplomatisch) interveniert“, sei die Katastrophe unvermeidlich. „Schon jetzt toben Kämpfe in jeder Straße“ Sanaas und diese würden sich rasch über das ganze Land ausbreiten.
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von Birgit Cerha
„Es ist Krieg, es ist Krieg“, ruft verzweifelt ein junger Demonstrant auf dem inzwischen heißumkämpften „Platz der Veränderung“ im Herzen der jemenitischen Hauptstadt Sanaa. Dort, wo Tausende junge Jemeniten seit neun Monaten betont friedlich Demokratie und ein Ende der 33-jährigen Diktatur Ali Abdullah Salehs verlangen, sind die unbewaffneten Demonstranten blutig zwischen die Fronten in einem dramatisch eskalierenden Konflikt geraten. Binnen drei Tagen starben mehr als 60 Menschen auch in anderen Teilen der Stadt und des Landes. Mindestens 25 Kinder sind laut Siyaj, einer Organisation zur Verteidigung der Rechte der Kinder, darunter, fast ausschließlich von Schüssen durch Salehs Soldaten getroffen. Sanaa glich Mittwoch einer toten Stadt. Wer nicht mit Tausenden Menschen im Morgengrauen flüchtete, sucht in den Häusern Schutz, während Regierungstruppen das von Einheiten des im März abgesprungenen Generals Ali Mohsen geschützte Protestlager im Stadtzentrum bombardieren.
Parallel zur Gewalt hat sich auch die Wirtschaftslage dramatisch zugespitzt. Seit Aktivisten vor neun Monaten ihre friedlichen Proteste gegen das Regime begannen, ist der Jemen politisch gelähmt und die Wirtschaft am Rande des Zusammenbruchs. Laut einer Studie der britischen „Oxfam“ haben heute bereits ein Drittel der 7,5 Millionen-Bevölkerung nicht mehr genug zum Essen.
All dies verstärkt die Frustrationen der Aktivisten und mit ihnen eines großen Teils der Bevölkerung. Ermutigt durch den Sturz Muammar Gadafis in Libyen, hatte die jemenitische Protestbewegung Sonntag versucht, das monatelange Patt zu brechen und ihren Aktionsraum innerhalb von Sanaa auszuweiten. Salehs Sicherheitskräfte antworteten mit brutaler Gewalt und offene Kämpfe brachen aus, als General Mohsen sein im März gegebenes Versprechen wahrmachte, die friedlichen Demonstranten wenn nötig mit Gewalt zu verteidigen. Die Angst vor einem Bürgerkrieg steigt.
Seit 1994, als er einen Krieg gegen den mit dem Norden 1990 vereinten Süd-Jemen gewonnen hatte, versuchte sich Saleh durch Manipulation der Stämme und die Methode des Teile und Herrsche an der Macht zu halten. Doch Jahre der Dürre, sinkender Öleinkünfte und wachsender Armut hatten seinen Manövrierraum wesentlich eingeengt. Durch verbale Zugeständnisse, deren mangelnde Ernsthaftigkeit rasch zutage trat, sowie gewaltsame Attacken auf Demonstranten hatte der Diktator versucht den Herausforderungen einer friedlichen Zivilgesellschaft zu trotzen, bis er sich vor vier Monaten nach einem Raketenanschlag auf ihn und zahlreiche führende Politiker nach Saudi-Arabien in Spitalsbehandlung begeben musste. Dort kündigte er dreimal an, einen unter Führung Riads von den Golfstaaten erarbeiteten Plan zur Machtübergabe zu unterzeichnen, zog die Versprechen jedoch jeweils rasch wieder zurück. Ankündigungen, er werde bald heimkehren – eine Absicht, die die Saudis bisher blockierten, heizten im Land die Spannung auf. Dort haben sich die Fronten verhärtet. Salehs Familie, sein Sohn und seine Neffen, halten vor allem durch die Kontrolle der Sicherheits- und Geheimdienstkräfte die Fäden der Macht in Händen. Neben der Kraftprobe mit der im Parlament vertretenen Opposition und der Protestbewegung ist aber eine zweite ist jedoch ein Machtkampf an anderer Front blutig ausgebrochen. Hier geht es um alte Rivalitäten innerhalb der privilegierten Elite im Herzen des Regimes, zwischen der Saleh-Familie und dem mächtigen Ahmar-Clan, sowie General Mohsen.
Für Vermittler der UNO und der Golfstaaten, die nun rasch in Sanaa das Schlimmste verhüten wollen, könnte es zu spät sein. Die Protestbewegung, aufgrund der vielen leeren Versprechen zutiefst mißtrauisch gegenüber dem Diktator, beharrt auf Salehs sofortigem Rücktritt. Sie will vom Plan der Golfstaaten, der Straffreiheit für Saleh und dessen Familie vorsieht, angesichts der ungeheuerlichen Brutalitäten nichts wissen. Saleh hingegen versucht, wie in den vergangenen neun Monaten, auch weiterhin auf Zeit zu spielen, in dem Glauben, dass diese doch noch für ihn arbeite. In dieser Situation befürchten viele mit Ali Abdul Jabar, dem Direktor eines jemenitischen Forschungszentrums, das Schlimmste: „Wenn die internationale Gemeinschaft nicht rasch (diplomatisch) interveniert“, sei die Katastrophe unvermeidlich. „Schon jetzt toben Kämpfe in jeder Straße“ Sanaas und diese würden sich rasch über das ganze Land ausbreiten.
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Dienstag, 20. September 2011
Rückkehr in die Vergangenheit
Die Eskalation der Gewalt zwischen Türken und Kurden gefährdet zaghafte Versuche zur Lösung der kurdischen Frage
von Birgit Cerha
Er werde keine Mühe scheuen, im Mittleren Osten und darüber hinaus „Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit….. Freiheit und Demokratie“ zur Geltung zu verhelfen. „Wenn die Türkei zwischen Regimes und deren Untertanen entscheiden muss, dann wird sie immer auf der Seite des Volkes stehen.“ Diesem Grundsatz folgend und sein Land als „demokratisches Modell“ für eine jahrzehntelang von Diktatoren gequälte Region in Zeiten dramatischer Turbulenzen präsentierend, solidarisiert sich der türkische Premier Erdogan demonstrativ mit der syrischen Protestbewegung in deren „Kampf für Freiheit“ gegen die Diktatur Baschar el Assads. Und er lässt seinen Außenminister Ahmet Davutoglu klarstellen: „Unsere Region braucht dringend einen ernsthaften Reformprozess. Die Forderungen der Menschen in dieser Region sind normal, richtig und legitim. Sie zu erfüllen, wird unsere Region zu größerer Stabilität, mehr Demokratie und Wohlstand“ führen.
Erdogan und sein Team haben Glück. Noch hat der Bazillus des „Arabischen Frühlings“ die Grenzen der Türkei nicht durchdrungen. Noch muss der Premier die Glaubwürdigkeit dieser Mahnungen an andere nicht unmittelbar unter Beweis stellen. Zumindest nicht vor einer Weltöffentlichkeit, vor internationalen Mächten, die so gerne an das „türkische Modell“ für den Mittleren Osten glauben wollen, an einen aufgeklärten Islam, der sich demokratischen Werten verpflichtet und dem Westen verbunden fühlt. Noch hat sich die größte ethnische Volksgruppe in der Türkei, haben sich die Kurden, an ihren Leidensgenossen in Syrien, Libyen, Ägypten oder dem Jemen kein Beispiel genommen. Dennoch stehen nun auch in der Türkei die Zeichen auf Sturm. Zerstoben scheint die von Erdogan und seiner „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AK) verbreitete Hoffnung eines „neuen Zeitalters der Harmonie“ zwischen den Türken und den in den Grenzen der atatürk’schen Republik lebenden Kurden, deren ethnisch eigenständige Existenz, deren individuelle und kollektive Grundrechte diverse Staatsverfassungen seit 1924 leugnen – bis heute. Immer noch.
„Jene, die ihre Freiheit verloren haben, verloren sie, weil sie sie nicht verteidigt hatten.“ Mahnend richtet der kurdische Anwalt und Menschenrechtsaktivist Muharrem Erbey in einem Brief aus einem türkischen Gefängnis diese Worte Voltaires an seine Mitbrüder. 2009 wegen seiner Proteste gegen Menschenrechtsverletzungen in der Türkei inhaftiert, ist er eines von vielen Beispielen für die immer noch anhaltenden Repressionen gegen Kurden durch den sich unter EU-Druck demokratisch reformierenden türkischen Staat.
Dabei hatte Erdogan vor mehr als zwei Jahren Hoffnungen geweckt wie kein Premier vor ihm. Er nannte das Konzept „demokratische Öffnung“ gegenüber den Kurden, türkische Medien sprachen von „historischem Durchbruch“, nachdem sich die Regierung erstmals zu einigen kulturellen Freiheiten für das unterdrückte Volk durchgerungen hatte. Doch plötzlich kehrten alte Spannungen zurück, brach neue Gewalt aus, vergiften Warnungen und Drohungen, Blut und Tod das Klima scheinbarer Harmonie. Die Spirale von Gewalt und Gegengewalt dreht sich erneut. Guerillas der „Kurdischen Arbeiterpartei“ (PKK) attackieren türkische Soldaten, die Armee bombardiert PKK-Stützpunkte im Nord-Irak, trifft Dörfer, treibt Ziivlisten in die Flucht und möglicherweise auch in den Tod (unabhängige Bestätigung dafür fehlt vorerst noch). Entwicklungen, Motive und Ursachen der Eskalation sind verwirrend. Fest steht, die Sprache des Krieges ist zurückgekehrt. „Es ist nicht mehr zu tolerieren. Der Preis wird hoch sein für sie (die PKK)“ und auch „für jene“ (gemeint sind die Mitglieder der pro-kurdischen „Partei für Frieden und Demokratie“ BDP), die sich nicht von der PKK distanzierten, droht der Regierungschef und kündigt einen „neuen Kampf“ an, vielleicht auch eine erneute Invasion des Nord-Iraks, wo seit Jahren ohnedies 1.200 türkische Soldaten stehen.
Künftig, so der plötzlich so martialisch gesinnte Premier, sollen Spezialeinheiten der Polizei, mit neuen Waffen und erstmals auch mit Drohnen ausgerüstet, eine entscheidende Rolle im Kampf gegen die PKK übernehmen, der erst enden werde, wenn die Guerillas vernichtet seien. Die Drohung, paramilitärische Polizeieinheiten einzusetzen heizt die Spannungen weiter auf, weckt sie doch Erinnerungen an die 1990-er Kriegsjahre, als diese Truppen u.a. bei der Zerstörung von fast 4.000 Dörfern und der Vertreibung von deren insgesamt etwa zwei Millionen Bewohnern ungeheures Grauen verbreiteten, Wunden schlug, die längst nicht verheilt sind. Sie seien noch viel schlimmer als die Soldaten gewesen, meinen viele Kurden. 1997 wurden sie aufgelöst und seither hat sich die Situation etwas entspannt. Ihr erneuter Einsatz würde auch noch die letzten Friedenschancen zerstören. Diese Absicht Erdogans bestärkt viele Kurden, aber auch liberale Türken in dem Verdacht, dass es der Premier mit einer Aussöhnung gar nicht ernst meine. Auch die AK, so klagt der türkische Publizist Cengiz Candar, „sieht trotz aller Versuche, den Exzessen der Militärs in Kurdistan Einhalt zu gebieten, das Kurdenproblem durch das selbe nationalistische Prisma wie die Soldaten“.
Mit der Neubelebung der verhassten Polizeieinheiten verfolgt Erdogan wohl primär politische Motive. Ermutigt durch seinen Wahlsieg im Juni hofft er offensichtlich, das Militär, so lange Garant des atatürk’schen Systems, nach dem erzwungenen Rücktritt seines Oberkommandierenden und dessen drei höchsten Offizieren noch stärker zu entmachten, es noch mehr seines Prestiges zu berauben, indem er den Krieg gegen die PKK zunehmend unter zivile Kontrolle stellt. Die Sonderpolizei würde dem mit der AK eng verbundenen Innenministerium unterstehen. „Politisch ist das ein sehr schlechter Schritt“, meint der in Istanbul stationierte Militär-Analyst Gareth Jenkins, denn er vermittelt den Eindruck, die Regierung schreite zurück in die Vergangenheit“. (Eurasianet. Org, 18.8.2011). Die 90er Jahre gelten unter Kurden, aber auch liberalen Türken als „verlorene Zeit“. Auch Erdogan betrachtet offenbar, wie seine Vorgänger, die Kurdenfrage nun rein als „Sicherheitsproblem“ und kehrt zu alter Terminologie zurück: „Es gibt in der Türkei kein Kurdenproblem, nur ein Problem mit der PKK“, betont er seit kurzem immer wieder.
Dabei hatten die Parlamentswahlen im Juni neue Chancen auf eine Annäherung zwischen Türken und Kurden, auf die so dringend nötige politische Inklusivität eröffnet. Die BDP gewann mit 36 Mandaten so viele Sitze im Parlament wie keine pro-kurdische Partei zuvor. Doch die Freude währte nur kurz. Nicht nur wurde dem rechtmäßig gewählten Kurdenpolitiker Hatip Dicle das Mandat entzogen, weil er drei Tage vor den Wahlen wegen einer Rede, die er 2007 gehalten hatte, zu einem Jahr und acht Monaten Gefängnis verurteilt worden war. Dicle, der auf einen Prozess wegen eines ähnlichen „Delikts“ wartet, ist seit Dezember 2009 in Haft und hat damit die Strafe bereits abgesessen. Fünf anderen gewählten Abgeordneten der BDP, die wegen geäußerter Ansichten gegenwärtig im Gefängnis auf ihren Prozess warten, wurde nachträglich die Kandidatur verweigert. In allen sechs Fällen schlug die Wahlbehörde die Mandate der AK zu, die damit auf erstaunlich undemokratische Weise ihre Macht im Parlament weiter ausbauen konnte.
Das dieses Signal die eine demokratische Lösung suchenden Kurden zutiefst alarmiert, überrascht nicht. Ein seither anhaltender Parlamentsboykott der BDP, wie die vom „Kongreß der demokratischen Gesellschaft in der Türkei“ (DTK), einem 850 Mitglieder zählenden Dachverband aus türkischen und kurdischen Politikern, Intellektuellen und Vertretern von Bürgerrechtsgruppen, am 14. Juli abrupt ausgerufene „Demokratische Autonomie“ des kurdischen Volkes in der Türkei, haben die Spannungen allerdings noch verschärft, insbesondere, weil zum selben Zeitpunkt in der Provinz Diyarbakir 13 türkische Soldaten ums Leben kamen.Türkische Poliker und Medien konzentrierten sich auf diesen Terrorakt, für den sie die PKK verantwortlich machten. Diese weist jede Schuld zurück und selbst Angehörige der mit dem türkischen Staat gegen die PKK kollaborierenden „Dorfwächter“-Milizen bestätigen Augenzeugenberichte und Behauptungen der BDP, dass die Soldaten von der türkischen Luftwaffe getötet worden seien, um die Demokratie-Initiativen der Kurden zu blockieren.
Dies ist – zunächst? - wohl gelungen.
So wichtig das Konzept der „Demokratischen Autonomie“ zur Lösung der Kurdenfrage auch sein mag, ihre überhastete, tiefer Frustration über Erdogans Manipulationen entsprungene Deklaration hat vorerst mehr Schaden angerichtet. Prominente Kurdenpolitiker distanzieren sich entschieden von einem Konzept, dem jeder konkrete Inhalt fehlt und dessen einseitige Verkündung nicht mehr als höchstens symbolischen Charakter besitzt. Dennoch entlarvt sie erneut die tragische Doppelbödigkeit westlicher Politik. Während die Palästinenser unter großen Fanfaren internationaler Medien und Beobachtung führender Politiker seit fast drei Jahrzehnten immer wieder derartige Aktionen – die einseitige Ausrufung eines unabhängigen Staates – setzten, fand eine ähnliche Aktion der ebenfalls ihrer nationalen Selbstbestimmung beraubten Kurden weltweit nicht die geringste Beachtung, wiewohl die Autoren höchsten Wert darauf legten, türkische Ängste um die „nationale Einheit“ des Staates zu zerstreuen. „Autonomie“, so betont die Deklaration, bezöge sich nur auf einen Großteil der angestammten Kurdengebiete innerhalb der türkischen Grenzen. Trotzdem löste der Schritt einen Sturm des Protests unter türkischen Nationalisten aus.
Dabei berührt die Forderung nach Autonomie eine der größten Schwächen der türkischen Verfassung: den dort verankerten überbordenden Zentralismus, Ursache gigantischer Ineffizienz lokaler Verwaltungen. Eine Reform dieses Konzepts würde allen türkischen Bürgern enormen Nutzen bringen.
Immerhin hat Erdogan ja auch die Verabschiedung einer neuen Verfassung zur höchsten Priorität seiner neuen Amtsperiode erhoben. Und hier liegt auch der entscheidende Schlüssel zur Lösung der Kurdenfrage. Doch in das Komitee, das das neue Grundgesetz erarbeiten und diskutieren soll, will der Premier Vertreter der stärksten demokratischen Kurdenpartei, der BDP, nur zulassen, wenn sie sich ausdrücklich von der PKK distanzieren – eine Forderung, die seit Jahrzehnten mit großem Erfolg zur Ausschaltung kurdischer Führer aus dem politischen Prozess erhoben wird (prominente Beispiele: Dicle und die Sacharow-Friedenspreisträgerin Leyla Zana, die insgesamt zwölf Jahre im Gefängnis saß).
Dies wiewohl längst klar ist, dass zwar ein großer Teil der Kurden Terror und Gewalt ablehnen, und dennoch dem seit zehn Jahren inhaftierten PKK-Chef Öcalan zu einem Mythos aufgebaut haben, das sich für eine echte Versöhnung zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen nicht ignorieren läßt. Die BDP nicht in eine Verfassungsreform miteinzuschließen, verheißt der Türkei nichts Gutes.
Denn unter EU-Druck hat Erdogan zwar eine Reihe von Liberalisierungen, auch gegenüber den Kurden, vorgenommen, doch die unter der Militärdiktatur 1982 verabschiedete Verfassung legt nicht nur starke autoritäre Grundsätze fest, sie bildet auch die größte Hürde für die Kurden zu gleichberechtigten Bürgern im türkischen Staat aufzusteigen. Denn sie definiert schon in der Präambel die Staatsbürgerschaft der Republik ausschließlich auf der Basis türkischer Ethnizität, längst zu der auf Atatürk zurückgehenden Staatsideologie erhoben und seit Jahrzehnten Leitlinie für den Staatsautoritarismus gegenüber den Kurden. Die ersten drei Artikel der Verfassung verstärken noch die in der Präambel festgelegten Grundsätze, verweisen auf Türkisch als die (einzige) Sprache des Landes und bekräftigen die Loyalität zu „Atatürks Nationalismus“. Artikel vier schreibt die Unveränderbarkeit der ersten drei Artikel fest. Zahlreiche andere Artikel verbieten noch ausdrücklicher die Verwendung der kurdischen Sprache, insbesondere in der Bildung.
Nichts deutet darauf hin, dass die AK hier einen radikalen Wandel vollziehen will. Ohnedies drängt sich der Verdacht auf, Erdogan geht es bei einer Verfassungsreform primär um die Verankerung eines Präsidialsystems nach französischem Vorbild, in dem er der erste Präsident sein will.
Wiederholte Reformversprechen täuschen nicht darüber hinweg, dass die AK die Türkei zusehends auf einen – modernen – autokratischen Kurs führt. Fakten und Zahlen sprechen für sich. Gewaltlos politische Gegner unter den Kurden werden massiv mit Hilfe der Justiz ausgeschaltet. 152 kurdische Politiker, darunter 15 gewählte Bürgermeister stehen derzeit vor Gericht wegen mutmaßlicher Verbindungen mit der PKK. 106 kurdische Politiker, darunter 98 ehemalige gewählte Bürgermeister sind wegen eines Appells zugunsten besserer Haftbedingungen für Öcalan angeklagt. Es drohen ihnen 20 Jahre Gefängnis. Laut BDP-Führer Selahattin Demirtas wurden seit 2009 mindestens 2.300 kurdische Aktivisten verhaftet, die Staatsanwaltschaft habe in Verfahren gegen 22 BDP-Parlamentarier bis zu insgesamt 2.350 Jahre Gefängnis beantragt. (Economist 14.4.2011), Human Rights Watch beklagt bitter den Mißbrauch von Terror-Gesetzen, um kurdische Politiker auszuschalten (hrw.org: 18.4.2011): „Ohne zwingende Beweise von Gewalttaten lassen sich die Bemühungen der öffentlichen Ankläger, diese legale Partei (BDP)mit einer illegalen Organisation (PKK) zu verknüpfen kaum als etwas anderes einschätzen als rigoroses Vorgehen gegen legitime politische Aktivität.“
„Das türkische System hat sich stets gegen Veränderung gewehrt, indem es eine konservative Position gegen andere Identitäten und Forderungen nach Freiheit einnahm“, klagt Erbey in seinem Brief aus dem Gefängnis. (opendemocracy.net, 23.8.2011) „2002 saßen 52.000 Menschen in türkischen Gefängnissen; seit April 2011 sind es 123.000.“
Repression und unerfüllte Reformversprechen, nun verschärft durch Gewalt von beiden Seiten, führen zu einer alarmierenden Polarisierung der türkischen Gesellschaft. Das zeigen etwa jüngste schwere Zusammenstöße zwischen Kurden und Türken in Istanbul. Kein Zweifel: Ein endgültiges Scheitern der „demokratischen Öffnung“ gegenüber den Kurden hätte unabsehbare Folgen. Denn die Kinder der in den vergangenen 25 Jahre Unterdrückten und Vertriebenen wachsen zu einer Generation heran, die die Duldsamkeit und Mutlosigkeit der Eltern angesichts der Allmacht der repressiven Staatsmaschinerie zunehmend durch einen rebellischen Geist ersetzt. Allein in den ersten vier Monaten 2011 wurden in Diyarbakir 350 Kinder unter 18 während Demonstrationen für die PKK festgenommen. 116 sitzen immer noch im Gefängnis. (blogs.wsj.com, 3,6,2011).
„Wir sind die letzte Generation kurdischer Politiker, die mit Vertretern des Staates verhandeln und Hände schütteln kann“, bemerkte jüngst der Oberbürgermeister von Diyarbakir, Osman Baydemir.
Steht der gequälten Region nun ein neuer Krisenherd bevor, vor allem durch eine erneute Militärintervention im Nord-Irak. 25 solche Interventionen in den vergangenen Jahren, so stellte der irakische Außenminister Hoschiyar Zebari fest, konnten die PKK nicht aus ihren Unterschlüpfen in den Bergen verjagen, sie tragen nur zur Destabilisierung des Iraks bei. Und dennoch. So manche Analysten meinen, Erdogan wolle die PKK entscheidend militärisch schwächen, bevor Syrien noch weiter im Chaos versinkt und auch den Iran mit sich reißt und damit den Guerillas neue Ausgangsbasen für einen bewaffneten Kampf um die den Kurden immer noch verwehrten Grundrechte bietet.
„Ich erwarte und wünsche, dass Sie ihrem Gewissen folgen und die Anforderungen ihres Amtes erfüllen“, um einen “ethnischen Krieg“ zwischen den Völkern der Türkei zu verhindern. Denn dieser sei „unvermeidbar“, schreibt die kurdische Abgeordnete und Sacharow-Friedenspreisträgerin Leyla Zana in einem eindringlichen Appell an US-Präsident Obama. „Unser Volk“ nämlich, dem „die Fairness der Geschichte verweigert wurde“, führt immer noch einen Kampf um seine „Existenz“ und opfere dafür viele Leben. Eine kurdische Fassung des Artikels ist in der September-Ausgabe von "Le Monde Diplomatique Kurdi" erschienen
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von Birgit Cerha
Er werde keine Mühe scheuen, im Mittleren Osten und darüber hinaus „Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit….. Freiheit und Demokratie“ zur Geltung zu verhelfen. „Wenn die Türkei zwischen Regimes und deren Untertanen entscheiden muss, dann wird sie immer auf der Seite des Volkes stehen.“ Diesem Grundsatz folgend und sein Land als „demokratisches Modell“ für eine jahrzehntelang von Diktatoren gequälte Region in Zeiten dramatischer Turbulenzen präsentierend, solidarisiert sich der türkische Premier Erdogan demonstrativ mit der syrischen Protestbewegung in deren „Kampf für Freiheit“ gegen die Diktatur Baschar el Assads. Und er lässt seinen Außenminister Ahmet Davutoglu klarstellen: „Unsere Region braucht dringend einen ernsthaften Reformprozess. Die Forderungen der Menschen in dieser Region sind normal, richtig und legitim. Sie zu erfüllen, wird unsere Region zu größerer Stabilität, mehr Demokratie und Wohlstand“ führen.
Erdogan und sein Team haben Glück. Noch hat der Bazillus des „Arabischen Frühlings“ die Grenzen der Türkei nicht durchdrungen. Noch muss der Premier die Glaubwürdigkeit dieser Mahnungen an andere nicht unmittelbar unter Beweis stellen. Zumindest nicht vor einer Weltöffentlichkeit, vor internationalen Mächten, die so gerne an das „türkische Modell“ für den Mittleren Osten glauben wollen, an einen aufgeklärten Islam, der sich demokratischen Werten verpflichtet und dem Westen verbunden fühlt. Noch hat sich die größte ethnische Volksgruppe in der Türkei, haben sich die Kurden, an ihren Leidensgenossen in Syrien, Libyen, Ägypten oder dem Jemen kein Beispiel genommen. Dennoch stehen nun auch in der Türkei die Zeichen auf Sturm. Zerstoben scheint die von Erdogan und seiner „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AK) verbreitete Hoffnung eines „neuen Zeitalters der Harmonie“ zwischen den Türken und den in den Grenzen der atatürk’schen Republik lebenden Kurden, deren ethnisch eigenständige Existenz, deren individuelle und kollektive Grundrechte diverse Staatsverfassungen seit 1924 leugnen – bis heute. Immer noch.
„Jene, die ihre Freiheit verloren haben, verloren sie, weil sie sie nicht verteidigt hatten.“ Mahnend richtet der kurdische Anwalt und Menschenrechtsaktivist Muharrem Erbey in einem Brief aus einem türkischen Gefängnis diese Worte Voltaires an seine Mitbrüder. 2009 wegen seiner Proteste gegen Menschenrechtsverletzungen in der Türkei inhaftiert, ist er eines von vielen Beispielen für die immer noch anhaltenden Repressionen gegen Kurden durch den sich unter EU-Druck demokratisch reformierenden türkischen Staat.
Dabei hatte Erdogan vor mehr als zwei Jahren Hoffnungen geweckt wie kein Premier vor ihm. Er nannte das Konzept „demokratische Öffnung“ gegenüber den Kurden, türkische Medien sprachen von „historischem Durchbruch“, nachdem sich die Regierung erstmals zu einigen kulturellen Freiheiten für das unterdrückte Volk durchgerungen hatte. Doch plötzlich kehrten alte Spannungen zurück, brach neue Gewalt aus, vergiften Warnungen und Drohungen, Blut und Tod das Klima scheinbarer Harmonie. Die Spirale von Gewalt und Gegengewalt dreht sich erneut. Guerillas der „Kurdischen Arbeiterpartei“ (PKK) attackieren türkische Soldaten, die Armee bombardiert PKK-Stützpunkte im Nord-Irak, trifft Dörfer, treibt Ziivlisten in die Flucht und möglicherweise auch in den Tod (unabhängige Bestätigung dafür fehlt vorerst noch). Entwicklungen, Motive und Ursachen der Eskalation sind verwirrend. Fest steht, die Sprache des Krieges ist zurückgekehrt. „Es ist nicht mehr zu tolerieren. Der Preis wird hoch sein für sie (die PKK)“ und auch „für jene“ (gemeint sind die Mitglieder der pro-kurdischen „Partei für Frieden und Demokratie“ BDP), die sich nicht von der PKK distanzierten, droht der Regierungschef und kündigt einen „neuen Kampf“ an, vielleicht auch eine erneute Invasion des Nord-Iraks, wo seit Jahren ohnedies 1.200 türkische Soldaten stehen.
Künftig, so der plötzlich so martialisch gesinnte Premier, sollen Spezialeinheiten der Polizei, mit neuen Waffen und erstmals auch mit Drohnen ausgerüstet, eine entscheidende Rolle im Kampf gegen die PKK übernehmen, der erst enden werde, wenn die Guerillas vernichtet seien. Die Drohung, paramilitärische Polizeieinheiten einzusetzen heizt die Spannungen weiter auf, weckt sie doch Erinnerungen an die 1990-er Kriegsjahre, als diese Truppen u.a. bei der Zerstörung von fast 4.000 Dörfern und der Vertreibung von deren insgesamt etwa zwei Millionen Bewohnern ungeheures Grauen verbreiteten, Wunden schlug, die längst nicht verheilt sind. Sie seien noch viel schlimmer als die Soldaten gewesen, meinen viele Kurden. 1997 wurden sie aufgelöst und seither hat sich die Situation etwas entspannt. Ihr erneuter Einsatz würde auch noch die letzten Friedenschancen zerstören. Diese Absicht Erdogans bestärkt viele Kurden, aber auch liberale Türken in dem Verdacht, dass es der Premier mit einer Aussöhnung gar nicht ernst meine. Auch die AK, so klagt der türkische Publizist Cengiz Candar, „sieht trotz aller Versuche, den Exzessen der Militärs in Kurdistan Einhalt zu gebieten, das Kurdenproblem durch das selbe nationalistische Prisma wie die Soldaten“.
Mit der Neubelebung der verhassten Polizeieinheiten verfolgt Erdogan wohl primär politische Motive. Ermutigt durch seinen Wahlsieg im Juni hofft er offensichtlich, das Militär, so lange Garant des atatürk’schen Systems, nach dem erzwungenen Rücktritt seines Oberkommandierenden und dessen drei höchsten Offizieren noch stärker zu entmachten, es noch mehr seines Prestiges zu berauben, indem er den Krieg gegen die PKK zunehmend unter zivile Kontrolle stellt. Die Sonderpolizei würde dem mit der AK eng verbundenen Innenministerium unterstehen. „Politisch ist das ein sehr schlechter Schritt“, meint der in Istanbul stationierte Militär-Analyst Gareth Jenkins, denn er vermittelt den Eindruck, die Regierung schreite zurück in die Vergangenheit“. (Eurasianet. Org, 18.8.2011). Die 90er Jahre gelten unter Kurden, aber auch liberalen Türken als „verlorene Zeit“. Auch Erdogan betrachtet offenbar, wie seine Vorgänger, die Kurdenfrage nun rein als „Sicherheitsproblem“ und kehrt zu alter Terminologie zurück: „Es gibt in der Türkei kein Kurdenproblem, nur ein Problem mit der PKK“, betont er seit kurzem immer wieder.
Dabei hatten die Parlamentswahlen im Juni neue Chancen auf eine Annäherung zwischen Türken und Kurden, auf die so dringend nötige politische Inklusivität eröffnet. Die BDP gewann mit 36 Mandaten so viele Sitze im Parlament wie keine pro-kurdische Partei zuvor. Doch die Freude währte nur kurz. Nicht nur wurde dem rechtmäßig gewählten Kurdenpolitiker Hatip Dicle das Mandat entzogen, weil er drei Tage vor den Wahlen wegen einer Rede, die er 2007 gehalten hatte, zu einem Jahr und acht Monaten Gefängnis verurteilt worden war. Dicle, der auf einen Prozess wegen eines ähnlichen „Delikts“ wartet, ist seit Dezember 2009 in Haft und hat damit die Strafe bereits abgesessen. Fünf anderen gewählten Abgeordneten der BDP, die wegen geäußerter Ansichten gegenwärtig im Gefängnis auf ihren Prozess warten, wurde nachträglich die Kandidatur verweigert. In allen sechs Fällen schlug die Wahlbehörde die Mandate der AK zu, die damit auf erstaunlich undemokratische Weise ihre Macht im Parlament weiter ausbauen konnte.
Das dieses Signal die eine demokratische Lösung suchenden Kurden zutiefst alarmiert, überrascht nicht. Ein seither anhaltender Parlamentsboykott der BDP, wie die vom „Kongreß der demokratischen Gesellschaft in der Türkei“ (DTK), einem 850 Mitglieder zählenden Dachverband aus türkischen und kurdischen Politikern, Intellektuellen und Vertretern von Bürgerrechtsgruppen, am 14. Juli abrupt ausgerufene „Demokratische Autonomie“ des kurdischen Volkes in der Türkei, haben die Spannungen allerdings noch verschärft, insbesondere, weil zum selben Zeitpunkt in der Provinz Diyarbakir 13 türkische Soldaten ums Leben kamen.Türkische Poliker und Medien konzentrierten sich auf diesen Terrorakt, für den sie die PKK verantwortlich machten. Diese weist jede Schuld zurück und selbst Angehörige der mit dem türkischen Staat gegen die PKK kollaborierenden „Dorfwächter“-Milizen bestätigen Augenzeugenberichte und Behauptungen der BDP, dass die Soldaten von der türkischen Luftwaffe getötet worden seien, um die Demokratie-Initiativen der Kurden zu blockieren.
Dies ist – zunächst? - wohl gelungen.
So wichtig das Konzept der „Demokratischen Autonomie“ zur Lösung der Kurdenfrage auch sein mag, ihre überhastete, tiefer Frustration über Erdogans Manipulationen entsprungene Deklaration hat vorerst mehr Schaden angerichtet. Prominente Kurdenpolitiker distanzieren sich entschieden von einem Konzept, dem jeder konkrete Inhalt fehlt und dessen einseitige Verkündung nicht mehr als höchstens symbolischen Charakter besitzt. Dennoch entlarvt sie erneut die tragische Doppelbödigkeit westlicher Politik. Während die Palästinenser unter großen Fanfaren internationaler Medien und Beobachtung führender Politiker seit fast drei Jahrzehnten immer wieder derartige Aktionen – die einseitige Ausrufung eines unabhängigen Staates – setzten, fand eine ähnliche Aktion der ebenfalls ihrer nationalen Selbstbestimmung beraubten Kurden weltweit nicht die geringste Beachtung, wiewohl die Autoren höchsten Wert darauf legten, türkische Ängste um die „nationale Einheit“ des Staates zu zerstreuen. „Autonomie“, so betont die Deklaration, bezöge sich nur auf einen Großteil der angestammten Kurdengebiete innerhalb der türkischen Grenzen. Trotzdem löste der Schritt einen Sturm des Protests unter türkischen Nationalisten aus.
Dabei berührt die Forderung nach Autonomie eine der größten Schwächen der türkischen Verfassung: den dort verankerten überbordenden Zentralismus, Ursache gigantischer Ineffizienz lokaler Verwaltungen. Eine Reform dieses Konzepts würde allen türkischen Bürgern enormen Nutzen bringen.
Immerhin hat Erdogan ja auch die Verabschiedung einer neuen Verfassung zur höchsten Priorität seiner neuen Amtsperiode erhoben. Und hier liegt auch der entscheidende Schlüssel zur Lösung der Kurdenfrage. Doch in das Komitee, das das neue Grundgesetz erarbeiten und diskutieren soll, will der Premier Vertreter der stärksten demokratischen Kurdenpartei, der BDP, nur zulassen, wenn sie sich ausdrücklich von der PKK distanzieren – eine Forderung, die seit Jahrzehnten mit großem Erfolg zur Ausschaltung kurdischer Führer aus dem politischen Prozess erhoben wird (prominente Beispiele: Dicle und die Sacharow-Friedenspreisträgerin Leyla Zana, die insgesamt zwölf Jahre im Gefängnis saß).
Dies wiewohl längst klar ist, dass zwar ein großer Teil der Kurden Terror und Gewalt ablehnen, und dennoch dem seit zehn Jahren inhaftierten PKK-Chef Öcalan zu einem Mythos aufgebaut haben, das sich für eine echte Versöhnung zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen nicht ignorieren läßt. Die BDP nicht in eine Verfassungsreform miteinzuschließen, verheißt der Türkei nichts Gutes.
Denn unter EU-Druck hat Erdogan zwar eine Reihe von Liberalisierungen, auch gegenüber den Kurden, vorgenommen, doch die unter der Militärdiktatur 1982 verabschiedete Verfassung legt nicht nur starke autoritäre Grundsätze fest, sie bildet auch die größte Hürde für die Kurden zu gleichberechtigten Bürgern im türkischen Staat aufzusteigen. Denn sie definiert schon in der Präambel die Staatsbürgerschaft der Republik ausschließlich auf der Basis türkischer Ethnizität, längst zu der auf Atatürk zurückgehenden Staatsideologie erhoben und seit Jahrzehnten Leitlinie für den Staatsautoritarismus gegenüber den Kurden. Die ersten drei Artikel der Verfassung verstärken noch die in der Präambel festgelegten Grundsätze, verweisen auf Türkisch als die (einzige) Sprache des Landes und bekräftigen die Loyalität zu „Atatürks Nationalismus“. Artikel vier schreibt die Unveränderbarkeit der ersten drei Artikel fest. Zahlreiche andere Artikel verbieten noch ausdrücklicher die Verwendung der kurdischen Sprache, insbesondere in der Bildung.
Nichts deutet darauf hin, dass die AK hier einen radikalen Wandel vollziehen will. Ohnedies drängt sich der Verdacht auf, Erdogan geht es bei einer Verfassungsreform primär um die Verankerung eines Präsidialsystems nach französischem Vorbild, in dem er der erste Präsident sein will.
Wiederholte Reformversprechen täuschen nicht darüber hinweg, dass die AK die Türkei zusehends auf einen – modernen – autokratischen Kurs führt. Fakten und Zahlen sprechen für sich. Gewaltlos politische Gegner unter den Kurden werden massiv mit Hilfe der Justiz ausgeschaltet. 152 kurdische Politiker, darunter 15 gewählte Bürgermeister stehen derzeit vor Gericht wegen mutmaßlicher Verbindungen mit der PKK. 106 kurdische Politiker, darunter 98 ehemalige gewählte Bürgermeister sind wegen eines Appells zugunsten besserer Haftbedingungen für Öcalan angeklagt. Es drohen ihnen 20 Jahre Gefängnis. Laut BDP-Führer Selahattin Demirtas wurden seit 2009 mindestens 2.300 kurdische Aktivisten verhaftet, die Staatsanwaltschaft habe in Verfahren gegen 22 BDP-Parlamentarier bis zu insgesamt 2.350 Jahre Gefängnis beantragt. (Economist 14.4.2011), Human Rights Watch beklagt bitter den Mißbrauch von Terror-Gesetzen, um kurdische Politiker auszuschalten (hrw.org: 18.4.2011): „Ohne zwingende Beweise von Gewalttaten lassen sich die Bemühungen der öffentlichen Ankläger, diese legale Partei (BDP)mit einer illegalen Organisation (PKK) zu verknüpfen kaum als etwas anderes einschätzen als rigoroses Vorgehen gegen legitime politische Aktivität.“
„Das türkische System hat sich stets gegen Veränderung gewehrt, indem es eine konservative Position gegen andere Identitäten und Forderungen nach Freiheit einnahm“, klagt Erbey in seinem Brief aus dem Gefängnis. (opendemocracy.net, 23.8.2011) „2002 saßen 52.000 Menschen in türkischen Gefängnissen; seit April 2011 sind es 123.000.“
Repression und unerfüllte Reformversprechen, nun verschärft durch Gewalt von beiden Seiten, führen zu einer alarmierenden Polarisierung der türkischen Gesellschaft. Das zeigen etwa jüngste schwere Zusammenstöße zwischen Kurden und Türken in Istanbul. Kein Zweifel: Ein endgültiges Scheitern der „demokratischen Öffnung“ gegenüber den Kurden hätte unabsehbare Folgen. Denn die Kinder der in den vergangenen 25 Jahre Unterdrückten und Vertriebenen wachsen zu einer Generation heran, die die Duldsamkeit und Mutlosigkeit der Eltern angesichts der Allmacht der repressiven Staatsmaschinerie zunehmend durch einen rebellischen Geist ersetzt. Allein in den ersten vier Monaten 2011 wurden in Diyarbakir 350 Kinder unter 18 während Demonstrationen für die PKK festgenommen. 116 sitzen immer noch im Gefängnis. (blogs.wsj.com, 3,6,2011).
„Wir sind die letzte Generation kurdischer Politiker, die mit Vertretern des Staates verhandeln und Hände schütteln kann“, bemerkte jüngst der Oberbürgermeister von Diyarbakir, Osman Baydemir.
Steht der gequälten Region nun ein neuer Krisenherd bevor, vor allem durch eine erneute Militärintervention im Nord-Irak. 25 solche Interventionen in den vergangenen Jahren, so stellte der irakische Außenminister Hoschiyar Zebari fest, konnten die PKK nicht aus ihren Unterschlüpfen in den Bergen verjagen, sie tragen nur zur Destabilisierung des Iraks bei. Und dennoch. So manche Analysten meinen, Erdogan wolle die PKK entscheidend militärisch schwächen, bevor Syrien noch weiter im Chaos versinkt und auch den Iran mit sich reißt und damit den Guerillas neue Ausgangsbasen für einen bewaffneten Kampf um die den Kurden immer noch verwehrten Grundrechte bietet.
„Ich erwarte und wünsche, dass Sie ihrem Gewissen folgen und die Anforderungen ihres Amtes erfüllen“, um einen “ethnischen Krieg“ zwischen den Völkern der Türkei zu verhindern. Denn dieser sei „unvermeidbar“, schreibt die kurdische Abgeordnete und Sacharow-Friedenspreisträgerin Leyla Zana in einem eindringlichen Appell an US-Präsident Obama. „Unser Volk“ nämlich, dem „die Fairness der Geschichte verweigert wurde“, führt immer noch einen Kampf um seine „Existenz“ und opfere dafür viele Leben. Eine kurdische Fassung des Artikels ist in der September-Ausgabe von "Le Monde Diplomatique Kurdi" erschienen
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Sonntag, 18. September 2011
Zersplittert, zerstritten und immer noch führungslos
Kann ein erneuter Einigungsanlauf die syrische Opposition zu einer glaubwürdigen Alternative aufbauen?
von Birgit Cerha
Tausende einfache Bürger trotzen Gewehrkugeln und Panzern in den Straßen syrischer Städte - seit sechs Monaten schon, todesmutig, unerschrocken und in immer größeren Zahlen. Solch eindrucksvoller Entschlossenheit im Ringen um Freiheit und Würde steht die Unfähigkeit oppositioneller Führer entgegen, sich als glaubwürdige und attraktive Alternative zu einer Diktatur zu präsentieren, die das Land seit fünf Jahrzehnten mit brutaler Gewalt als Geisel hält. Eben aber wagten 200 Gegner des Regimes Assad bei einem Treffen in einer privaten Farm außerhalb von Damaskus den jüngsten in einer Serie von Versuchen, eine gemeinsame Strategie zum Sturz des Diktators zu entwerfen. Donnerstag hatten Oppositionelle in Istanbul, wie bereits mehrmals zuvor, die Gründung einer geeinten Vertretung des Widerstandes gegen das Assad-Regime bekannt gegeben. Dem neuen „Syrischen Nationalrat“, der sich vor allem gegenüber dem Ausland als Repräsentant und Sprachrohr der syrischen Opposition präsentiert, gehören 140 Mitglieder, Technokraten, Intellektuelle, Aktivisten, an, die Hälfte in der Diapsora. Wie repräsentativ dieser jüngste Einigungsversuch ist, bleibt vorerst unklar.
Die Zersplitterung und Führungslosigkeit der syrischen Opposition erweist sich wohl als eine der größten Stärken des Regimes. Der Gegensatz zu Libyen, wo ein ähnlich repressiver Diktator 42 Jahre lang das Volk beherrscht hatte, ist krass. Während der syrische Widerstand ein halbes Jahr lang vergeblich um eine gemeinsame Repräsentanz rang, war es den libyschen Rebellen schon nach zwölf Tagen gelungen, einen Übergangsrat zu formieren, der sich als Alternative zu Muammar Gadafis Regime und als Ansprechspartner für das Ausland präsentierte.
In Syrien aber ist die Ausgangsposition für die Rebellen weit schwieriger. Im Gegensatz zu Libyen setzt sich die Bevölkerung aus einemreichen Mosaik unterschiedlicher religiöser und ethnischer Gruppen zusammen, insbesondere die sunnitische Bevölkerungsmehrheit seit Jahrzehnten butig unterdrückt von der alawitischen Minderheits-Herrschaft. Grausame Bürgerkriege im benachbarten Libanon und im Irak mit seiner ähnlichen Bevölkerungsstruktur haben den Syrern, insbesondere den Angehörige der Minderheiten, tiefe Ängste vor einem ähnlichen Schicksal eingejagt, sollte die Diktatur Assad zusammenbrechen.
Zudem hat es das Regime über die Jahrzehnte verstanden, auch nur den leisesten Dissens mit voller Härte zu vernichten. Oppositionelle Strukturen, die Basis für eine Zivilgesellschaft fehlen vollends. Führende Oppositionelle leben im Exil, darunter auch die Vertreter der möglicherweise stärksten politischen Gruppierung, der (sunnitischen) Moslembruderschaft, die Baschar el Assads Vater Hafez vor drei Jahrzehnten mit ungeheurer Brutalität zur Bedeutungslosigkeit im Land zerschlagen hatte. Demokraten, freiheitssuchende Intellektuelle innerhalb Syriens, wie Riad Seif, die für ihre Überzeugung über die Jahre enorme Opfer bringen mußten, wurden in den vergangenen Monaten durch junge Aktivisten der Revolution an den Rand gedrängt. Diese jungen, namenlosen Revolutionäre, in diversen Komitees zusammengeschlossen, mißtrauen der Exil-Opposition zutiefst. Sie wehren sich vehement dagegen, dass Syrer im Ausland, die nicht das tödliche Risiko der Revolution durchstehen müssen, sich zu Entscheidungsträgern für die Zukunft aufbauen.
In wochenlangen mühseligen Verhandlungen sei es gelungen, die volle Unterstützung maßgeblicher Oppositionskräfte innerhalb Syriens, wie auch diverser Exilgruppen – der den syrischen Arabern mißtrauenden Kurden ebenso, wie der mit syrischen Säkularisten in Konflikt stehenden Moslembrüder – für den nun in Istanbul gegründeten „Nationalrat“ zu gewinnen. Das zumindest behauptet der in Washington stationierte syrische Menschenrechts-Anwalt Yasser Tabbara, einer der Drahtzieher dieser Initiative. Er will den Nationalrat nicht als „Übergangsrat“, als „Regierung in Wartestellung“ verstanden wissen, sondern als „ersten Schritt, der uns zur Gründung einer Institution führt, die wahrhaft im Namen der in Syrien lebenden Menschen spricht“.
Als Hauptziel nennt Tabbara die Unterstützung der Revolution zum Sturz des Regimes und die Suche nach einem friedlichen Weg zu einem demokratischen und pluralistischen Syrien. Von ausländischer Intervention wollen diese Oppositionellen, ebenso wie wohl die Mehrheit der Aktivisten innerhalb Syriens absolut nichts wissen, auch nicht von einer Abkehr der Strategie der Gewaltlosigkeit, die unterdessen einige angesichts der anhaltenden Brutalitäten des Regimes zutiefst frustrierten Revolutionäre fordern. Den Syrern steht noch eine lange, blutige Kraftprobe bevor.
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von Birgit Cerha
Tausende einfache Bürger trotzen Gewehrkugeln und Panzern in den Straßen syrischer Städte - seit sechs Monaten schon, todesmutig, unerschrocken und in immer größeren Zahlen. Solch eindrucksvoller Entschlossenheit im Ringen um Freiheit und Würde steht die Unfähigkeit oppositioneller Führer entgegen, sich als glaubwürdige und attraktive Alternative zu einer Diktatur zu präsentieren, die das Land seit fünf Jahrzehnten mit brutaler Gewalt als Geisel hält. Eben aber wagten 200 Gegner des Regimes Assad bei einem Treffen in einer privaten Farm außerhalb von Damaskus den jüngsten in einer Serie von Versuchen, eine gemeinsame Strategie zum Sturz des Diktators zu entwerfen. Donnerstag hatten Oppositionelle in Istanbul, wie bereits mehrmals zuvor, die Gründung einer geeinten Vertretung des Widerstandes gegen das Assad-Regime bekannt gegeben. Dem neuen „Syrischen Nationalrat“, der sich vor allem gegenüber dem Ausland als Repräsentant und Sprachrohr der syrischen Opposition präsentiert, gehören 140 Mitglieder, Technokraten, Intellektuelle, Aktivisten, an, die Hälfte in der Diapsora. Wie repräsentativ dieser jüngste Einigungsversuch ist, bleibt vorerst unklar.
Die Zersplitterung und Führungslosigkeit der syrischen Opposition erweist sich wohl als eine der größten Stärken des Regimes. Der Gegensatz zu Libyen, wo ein ähnlich repressiver Diktator 42 Jahre lang das Volk beherrscht hatte, ist krass. Während der syrische Widerstand ein halbes Jahr lang vergeblich um eine gemeinsame Repräsentanz rang, war es den libyschen Rebellen schon nach zwölf Tagen gelungen, einen Übergangsrat zu formieren, der sich als Alternative zu Muammar Gadafis Regime und als Ansprechspartner für das Ausland präsentierte.
In Syrien aber ist die Ausgangsposition für die Rebellen weit schwieriger. Im Gegensatz zu Libyen setzt sich die Bevölkerung aus einemreichen Mosaik unterschiedlicher religiöser und ethnischer Gruppen zusammen, insbesondere die sunnitische Bevölkerungsmehrheit seit Jahrzehnten butig unterdrückt von der alawitischen Minderheits-Herrschaft. Grausame Bürgerkriege im benachbarten Libanon und im Irak mit seiner ähnlichen Bevölkerungsstruktur haben den Syrern, insbesondere den Angehörige der Minderheiten, tiefe Ängste vor einem ähnlichen Schicksal eingejagt, sollte die Diktatur Assad zusammenbrechen.
Zudem hat es das Regime über die Jahrzehnte verstanden, auch nur den leisesten Dissens mit voller Härte zu vernichten. Oppositionelle Strukturen, die Basis für eine Zivilgesellschaft fehlen vollends. Führende Oppositionelle leben im Exil, darunter auch die Vertreter der möglicherweise stärksten politischen Gruppierung, der (sunnitischen) Moslembruderschaft, die Baschar el Assads Vater Hafez vor drei Jahrzehnten mit ungeheurer Brutalität zur Bedeutungslosigkeit im Land zerschlagen hatte. Demokraten, freiheitssuchende Intellektuelle innerhalb Syriens, wie Riad Seif, die für ihre Überzeugung über die Jahre enorme Opfer bringen mußten, wurden in den vergangenen Monaten durch junge Aktivisten der Revolution an den Rand gedrängt. Diese jungen, namenlosen Revolutionäre, in diversen Komitees zusammengeschlossen, mißtrauen der Exil-Opposition zutiefst. Sie wehren sich vehement dagegen, dass Syrer im Ausland, die nicht das tödliche Risiko der Revolution durchstehen müssen, sich zu Entscheidungsträgern für die Zukunft aufbauen.
In wochenlangen mühseligen Verhandlungen sei es gelungen, die volle Unterstützung maßgeblicher Oppositionskräfte innerhalb Syriens, wie auch diverser Exilgruppen – der den syrischen Arabern mißtrauenden Kurden ebenso, wie der mit syrischen Säkularisten in Konflikt stehenden Moslembrüder – für den nun in Istanbul gegründeten „Nationalrat“ zu gewinnen. Das zumindest behauptet der in Washington stationierte syrische Menschenrechts-Anwalt Yasser Tabbara, einer der Drahtzieher dieser Initiative. Er will den Nationalrat nicht als „Übergangsrat“, als „Regierung in Wartestellung“ verstanden wissen, sondern als „ersten Schritt, der uns zur Gründung einer Institution führt, die wahrhaft im Namen der in Syrien lebenden Menschen spricht“.
Als Hauptziel nennt Tabbara die Unterstützung der Revolution zum Sturz des Regimes und die Suche nach einem friedlichen Weg zu einem demokratischen und pluralistischen Syrien. Von ausländischer Intervention wollen diese Oppositionellen, ebenso wie wohl die Mehrheit der Aktivisten innerhalb Syriens absolut nichts wissen, auch nicht von einer Abkehr der Strategie der Gewaltlosigkeit, die unterdessen einige angesichts der anhaltenden Brutalitäten des Regimes zutiefst frustrierten Revolutionäre fordern. Den Syrern steht noch eine lange, blutige Kraftprobe bevor.
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Freitag, 16. September 2011
Die tiefe Sehnsucht nach Gerechtigkeit
Warum die uralten Regeln der Scharia immer noch unter Hunderten Millionen von Muslimen starke Anziehungskraft besitzen
von Birgit Cerha
„Wir sind ein muslimisches Volk. Wir treten für einen moderaten Islam ein und wir werden auf diesem Weg bleiben.“ Mit diesen Worten verkündete der als liberal und pro-westliche geltende Vorsitzende des libyschen Übergangsrates, Mustafa Abdel Dschalil, die Absicht, in dem mit westlicher Hilfe von Diktator Gadafi befreiten Libyen die Scharia, das islamische Recht, als „wichtigste Quelle der Gesetzgebung“ einzuführen. Wollen Libyens neue Führer einen islamischen Staat errichten? Ist Dschalils Ankündigung als Zugeständnis an die politisch starken Islamisten im Lande zu werten? Läßt sich Dschalils bekundete Absicht, einen „demokratischen Rechtsstaat und Sozialstaat“ aufzubauen, mit der Scharia vereinen?
Kein Rechtssystem hat je im Westen eine schlechtere Presse gefunden als das islamische. Gemeinhin wird hier „Scharia“ mit Handabhacken, Steinigung und vielen anderen menschenverachtenden Gräueltaten und demütigender Unterdrückung der Frauen identifiziert. Warum aber besitzt dennoch dieses Rechtssystem unter Hunderten Millionen von keineswegs radikalen Muslimen auch heute noch starke Anziehungskraft?
In zahlreichen islamischen Ländern – etwa Saudi-Arabien, Kuwait, Bahrain, Jemen u.a. -,wo der Islam als die offizielle Religion in der Verfassung verankert ist, gilt die Scharia schon lange als eine oder die wichtigste Quelle der Gesetzgebung. In Pakistan, Ägypten, Iran und Irak u.a. ist zudem noch die Verabschiedung von Gesetzen verboten, die dem Islam widersprechen. In dem nun Demokratie erstrebenden Ägypten etwa besteht die mächtige Moslembruderschaft auf der Scharia, bekennt sich aber gleichzeitig zu einem „zivilen Staat“. „Wir sind gegen einen religiösen Staat“, betont einer ihrer Führer, Abdel Monem Abou el-Fetouh. Scharia bedeute „Freiheit, Gerechtigkeit und Entwicklung, wie es unser Prophet Mohammed gepredigt hat.“
Rechtsexperten weisen darauf hin, dass die bloße Absicht, die Scharia als Grundlage einer Rechtsordnung anzuerkennen, keine konkrete Aussage darstellt. Denn das islamische Recht unterliegt sehr unterschiedlichen Interpretationen. Im Westen wird Scharia sehr oft mit „Fiqh“ verwechselt, was in etwa „islamische Rechtsprechung bedeutet. „Scharia“ hingegen impliziert eine Verbindung zum Göttlichen, einen Katalog von unveränderbaren Glaubenssätzen und Prinzipien, die das Leben nach dem Willen Gottes regeln. Alle Menschen unterliegen diesen Regeln gleichermaßen, auch die Herrscher. Und hier liegt einer der Hauptgründe, warum die Sharia heute noch für so viele Menschen in der arabischen Welt derartige Anziehungskraft besitzt. Es ist die Hoffnung auf ein Ende von Diktatur, Ausbeutung, Unterdrückung und krasser sozialer Ungerechtigkeit, die Sehnsucht nach Gerechtigkeit und der Herrschaft des Rechts.
„Scharia“ (übersetzt etwa „Weg zur Tränke“) stützt sich auf den Koran, der jedoch nur einzelne Anweisungen enthält, die als Grundlage einer Gesetzgebung gelten können. Deshalb trat schon früh in der islamischen Geschichte die Sunna – die Lehren und das vorbildliche Handeln Mohammeds – als Quelle des Rechts in den Vordergrund, gesammelt und schließlich in verschiedenster Weise von islamischen Gelehrten interpretiert. Es herrscht eine große Spannbreite der Interpretation.
Alle Muslime stimmen bestimmten Regeln zu, wie etwa dem Verbot von Alkohol, der Zinsen für geborgte Gelder. Manche Regeln, wie vor allem jene, die die Unterdrückung von Frauen festschreiben, widersprechen den Menschenrechten. Andere wiederum verbieten jede Form von Bestechung, Vergünstigungen oder ungleicher Behandlung von Armen und Reichen. Die Scharia verurteilt auch die immer noch verbreiteten Verbrechen im Namen der „Ehre“ und enthält Regeln zum Schutz von Besitz, auch jenes von Frauen. Im Gegensatz zum allgemeinen Verständnis im Westen, schreibt die Scharia nicht die Verschleierung von Frauen vor, sondern rät ihnen lediglich, sich „bescheiden zu kleiden“. Auch die vor allem im Iran so häufig exekutierte Todesstrafe für „Apostasie“ wird von den meisten islamistischen Bewegungen entschieden abgelehnt.
Aus der Scharia lasse sich der Pluralismus der Interessen, die Partizipation sowie die Versammlung- und Vereinigungsfreiheit herleiten, erläutert der deutsche Islamwissenschaftler Mathias Rohe in der „Süddeutschen Zeitung“. Doch ob tatsächlich der Aufbau einer freien und demokratischen Gesellschaft unter Anwendung der Scharia möglich ist, hängt ausschließlich von deren Interpretation durch die jeweiligen neuen Herrscher ab. Frauen und Nichtmuslime sind nach herkömmlichem Scharia-Verständnis den männlichen Muslimen nicht in allen Bereichen gleichgestellt. Doch über diese Fragen herrschen heute in der arabischen Welt heftige Diskussionen und wachsende Tendenzen zunächst einmal eine Gleichstellung wenigstens auf politischer Ebene durchzusetzen. Graduelle Schritte, wie sie auch einst das Abendland erlebte. Islamistische Bewegungen, suchen heute, wie etwa in Ägypten, den bestehenden Staat zu erobern und dann die Gesellschaft mit Hilfe der Instrumentarien eines modernen Regierungssystems – Verfassung, Legislative etc . nach ihrem Vorstellungen zu verändern. Ihr Ziel: eine demokratisierte Scharia.
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von Birgit Cerha
„Wir sind ein muslimisches Volk. Wir treten für einen moderaten Islam ein und wir werden auf diesem Weg bleiben.“ Mit diesen Worten verkündete der als liberal und pro-westliche geltende Vorsitzende des libyschen Übergangsrates, Mustafa Abdel Dschalil, die Absicht, in dem mit westlicher Hilfe von Diktator Gadafi befreiten Libyen die Scharia, das islamische Recht, als „wichtigste Quelle der Gesetzgebung“ einzuführen. Wollen Libyens neue Führer einen islamischen Staat errichten? Ist Dschalils Ankündigung als Zugeständnis an die politisch starken Islamisten im Lande zu werten? Läßt sich Dschalils bekundete Absicht, einen „demokratischen Rechtsstaat und Sozialstaat“ aufzubauen, mit der Scharia vereinen?
Kein Rechtssystem hat je im Westen eine schlechtere Presse gefunden als das islamische. Gemeinhin wird hier „Scharia“ mit Handabhacken, Steinigung und vielen anderen menschenverachtenden Gräueltaten und demütigender Unterdrückung der Frauen identifiziert. Warum aber besitzt dennoch dieses Rechtssystem unter Hunderten Millionen von keineswegs radikalen Muslimen auch heute noch starke Anziehungskraft?
In zahlreichen islamischen Ländern – etwa Saudi-Arabien, Kuwait, Bahrain, Jemen u.a. -,wo der Islam als die offizielle Religion in der Verfassung verankert ist, gilt die Scharia schon lange als eine oder die wichtigste Quelle der Gesetzgebung. In Pakistan, Ägypten, Iran und Irak u.a. ist zudem noch die Verabschiedung von Gesetzen verboten, die dem Islam widersprechen. In dem nun Demokratie erstrebenden Ägypten etwa besteht die mächtige Moslembruderschaft auf der Scharia, bekennt sich aber gleichzeitig zu einem „zivilen Staat“. „Wir sind gegen einen religiösen Staat“, betont einer ihrer Führer, Abdel Monem Abou el-Fetouh. Scharia bedeute „Freiheit, Gerechtigkeit und Entwicklung, wie es unser Prophet Mohammed gepredigt hat.“
Rechtsexperten weisen darauf hin, dass die bloße Absicht, die Scharia als Grundlage einer Rechtsordnung anzuerkennen, keine konkrete Aussage darstellt. Denn das islamische Recht unterliegt sehr unterschiedlichen Interpretationen. Im Westen wird Scharia sehr oft mit „Fiqh“ verwechselt, was in etwa „islamische Rechtsprechung bedeutet. „Scharia“ hingegen impliziert eine Verbindung zum Göttlichen, einen Katalog von unveränderbaren Glaubenssätzen und Prinzipien, die das Leben nach dem Willen Gottes regeln. Alle Menschen unterliegen diesen Regeln gleichermaßen, auch die Herrscher. Und hier liegt einer der Hauptgründe, warum die Sharia heute noch für so viele Menschen in der arabischen Welt derartige Anziehungskraft besitzt. Es ist die Hoffnung auf ein Ende von Diktatur, Ausbeutung, Unterdrückung und krasser sozialer Ungerechtigkeit, die Sehnsucht nach Gerechtigkeit und der Herrschaft des Rechts.
„Scharia“ (übersetzt etwa „Weg zur Tränke“) stützt sich auf den Koran, der jedoch nur einzelne Anweisungen enthält, die als Grundlage einer Gesetzgebung gelten können. Deshalb trat schon früh in der islamischen Geschichte die Sunna – die Lehren und das vorbildliche Handeln Mohammeds – als Quelle des Rechts in den Vordergrund, gesammelt und schließlich in verschiedenster Weise von islamischen Gelehrten interpretiert. Es herrscht eine große Spannbreite der Interpretation.
Alle Muslime stimmen bestimmten Regeln zu, wie etwa dem Verbot von Alkohol, der Zinsen für geborgte Gelder. Manche Regeln, wie vor allem jene, die die Unterdrückung von Frauen festschreiben, widersprechen den Menschenrechten. Andere wiederum verbieten jede Form von Bestechung, Vergünstigungen oder ungleicher Behandlung von Armen und Reichen. Die Scharia verurteilt auch die immer noch verbreiteten Verbrechen im Namen der „Ehre“ und enthält Regeln zum Schutz von Besitz, auch jenes von Frauen. Im Gegensatz zum allgemeinen Verständnis im Westen, schreibt die Scharia nicht die Verschleierung von Frauen vor, sondern rät ihnen lediglich, sich „bescheiden zu kleiden“. Auch die vor allem im Iran so häufig exekutierte Todesstrafe für „Apostasie“ wird von den meisten islamistischen Bewegungen entschieden abgelehnt.
Aus der Scharia lasse sich der Pluralismus der Interessen, die Partizipation sowie die Versammlung- und Vereinigungsfreiheit herleiten, erläutert der deutsche Islamwissenschaftler Mathias Rohe in der „Süddeutschen Zeitung“. Doch ob tatsächlich der Aufbau einer freien und demokratischen Gesellschaft unter Anwendung der Scharia möglich ist, hängt ausschließlich von deren Interpretation durch die jeweiligen neuen Herrscher ab. Frauen und Nichtmuslime sind nach herkömmlichem Scharia-Verständnis den männlichen Muslimen nicht in allen Bereichen gleichgestellt. Doch über diese Fragen herrschen heute in der arabischen Welt heftige Diskussionen und wachsende Tendenzen zunächst einmal eine Gleichstellung wenigstens auf politischer Ebene durchzusetzen. Graduelle Schritte, wie sie auch einst das Abendland erlebte. Islamistische Bewegungen, suchen heute, wie etwa in Ägypten, den bestehenden Staat zu erobern und dann die Gesellschaft mit Hilfe der Instrumentarien eines modernen Regierungssystems – Verfassung, Legislative etc . nach ihrem Vorstellungen zu verändern. Ihr Ziel: eine demokratisierte Scharia.
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Mittwoch, 7. September 2011
Irrelevant, doch immer noch gefährlich
Zehn Jahre nach 9/11 ist Al-Kaida empfindlich geschwächt, doch der „Arabische Frühling“ bietet auch den Jihadis neue Chancen
von Birgit Cerha
Osama bin Laden, der Drahtzieher der Terrorakte, die2001 die Supermacht USA tief ins Mark trafen, ist seit vier Monaten tot. Den zweiten Mann des Terrornetzwerkes Al-Kaida, Atiyah al-Rahman, traf Ende August eine amerikanische Rakete in Pakistan tödlich. Zahlreiche andere Terrorführer sitzen in Gefängnissen. Bin Ladens Nachfolger Ayman al Zawaheri die Jihadis in aller Welt auf, durch Attacken auf die USA den Tod des „Emirs“ (wie die Anhänger ehrfurchtvoll Bin Laden nennen) zu rächen. Doch die angedrohten spektakulären Terrorakte blieben bisher aus.
Der zehnjährige von den USA geführte Antiterrorkrieg, der Tod Bin Ladens und die Extremisten weit weniger inspirierende Persönlichkeit Zawaheris, der – im Gegensatz zu Bin Laden - als trocken und streitsüchtig gilt, haben Al-Kaida nach Einschätzung von Experten empfindlich geschwächt. Dennoch wissen selbst Experten die wahre Gefahr, die heute der freien Welt durch das Terrornetzwerk droht, nicht klar einzuschätzen. Kein Zweifel besteht daran, dass die Al-Kaida Zentral im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet zwar kaum noch in der Lage sein dürfte, wie einst Extremisten auszubilden, zu trainieren und große Operationen zu organisieren. Doch ihre Zweigorganisationen insbesondere in der arabischen Welt stellen nach Einschätzungen des US-Geheimdienstes FBI immer noch eine tödliche Gefahr dar, insbesondere, da sich die Extremisten als sehr „anpassungsfähig“ an neue Situationen erweisen.
Al-Kaida verfügt heute über ein Netzwerk von autonomen Untergrundzellen in etwa hundert Ländern der Welt, darunter auch in den USA, wiewohl es den Sicherheitsbehörden im Laufe der vergangenen Jahre gelungen war, solche Zellen in England, den USA, Italien, Frankreich, Spanien, Deutschland, Albanien und Uganda u.a. aufzubrechen. Doch, so stellt der pakistanische Journalist Ahmed Rashid fest: Die Grundphilosophie der Al-Kaida bleibt bestehen: „Ein Mann, eine Bombe!“
Zehn Jahres seit dem 11. September hat sich das Umfeld der Al-Kaida aber noch aus einem anderen Grund radikal verändert. Eines der Hauptziele Bin Ladens – der Sturz arabischer Autokraten und Diktatoren – beginnt sich zu erfüllen. Damit eröffnen sich für Al-Kaida neue Chancen, aber auch neue Gefahren. Die Revolutionen in der arabischen Welt haben eine gravierende Irrelevanz der Jihadis und ihrer Ideologie und ihrem Ziel der Errichtung islamischer Staaten zutage gebracht. Al-Kaida spielte und spielt nicht nur keine Rolle bei den Aufständen in Ägypten, im Jemen oder in Syrien. In Libyen wurde der Führer der „Islamischen Kampfgruppe“, Abdelhakim Belhadsch zwar Sicherheitschef des Nationalen Übergangsrats. Doch er leugnet, dass seine Organisation je Befehl von Bin Laden entgegengenommen habe und bekennt sich zu einem „zivilen Staat mit echten Freiheiten und Achtung von Recht und Ordnung“. Al-Kaidas Terminologie und Propaganda ist auch in Libyen nun nicht gefragt. Demokratie, Säkularismus, Pluralismus und Freiheit sind die Ziele, die derzeit in der arabischen Welt hoch im Kurs stehen.
Die Al-Kaida Zentral versucht verzweifelt auf den dahinrasenden Revolutionszug aufzuspringen. Demonstrativ verkündet Zawaheri seine Unterstützung für die protestierenden Araber und einer seiner führenden Jünger, der Ägypter Abu Ubaqydah Abdallah al-Adm schwärmt von der bevorstehenden Gründung islamischer Staaten, die durch diese Revolutionen beschleunigt, jedoch erst nach einer vielleicht 50 Jahre währenden Phase des Chaos verwirklicht sein würde. „Gott hat diese Revolutionen vorangetrieben“, schwärmt Adm und der globale Jihad baut darauf, die Früchte eines Tages zu ernten.
Doch der Sturz der Diktatoren, insbesondere im Jemen, der Zusammenbruch der Sicherheitssysteme bietet den islamistischen Extremisten neue Möglichkeiten. So konnte die im Jemen stationierte„Al Kaida auf der Arabischen Halbinsel“ (AKAH) ihren Aktionsraum in den vergangenen Monaten wesentlich erweitern. AKAH gilt derzeit als die gefährlichste Al-Kaida Gruppe, die bereits sogar Attacken innerhalb der USA durchgeführt hatte. Trotz regelmäßige von jemenitischen Streitkräften mit aktiver US-Unterstützung durchgeführte Angriffe auf ihre Stützpunkte erwies sich AKAH erstaunlich widerstandskräftig und anpassungsfähig. Ihre Führer entwickelten eine neue Strategie, durch die sie mit kleinen, einfachen Operationen gegen US-Ziele die Supermacht zu zermürben hoffen. US-Antiterrorexperten befürchten insbesondere den Einsatz von Kleinflugzeugen. Zudem berichten Geheimdienste über jüngste Versuche der AKAH, das hochgiftige Rizin zu erwerben, es in kleine Sprengköpfe einzupacken, um diese an begrenzten öffentlichen Plätzen, wie Einkaufszentren, U-Bahnstationen oder Flughäfen zur Explosion zu bringen.
Während die lange so aggressive Al-Kaida im Irak stark geschwächt, doch weiterhin aktiv ist, nutzen auf der ägyptischen Sinai-Halbinsel Terroristen ein Sicherheitsvakuum und die tiefen Frustrationen der Beduinen, um eine neue Zweiggruppe der Al Kaida aufzubauen, während in Algerien die „Al Kaida im Islamischen Maghreb“ (AKIM) ihre Operationen jüngst wesentlich verstärkt hat. Ihre Ziele sind vorwiegend staatliche Institutionen und Sicherheitskräfte, was darauf schließen läßt, dass AKIM sich – vorerst? – nicht einer internationalen Terrorkampagne anschließen dürfte. Bisher gibt es auch keine Hinweise darauf, dass Waffen aus den riesigen Lagern im chaotischen Libyen in die Hände der Jihadis jenseits der Grenzen des von Diktator Gadafi befreiten Landes gelangt sein dürfte. Das aber kann sich rasch ändern.
Ungeachtet des historischen Aufbruchs in der arabischen Welt spricht vorerst wenig dafür, dass die Jihadis ihrem Hauptziel der Errichtung eines Netzes islamischer Staaten in diesem Raum näher rücken. Der in der arabischen Welt aber immer noch ungebrochene Zorn auf die Supermacht erhält aber trotz dem überwältigenden Wunsch nach Gewaltlosigkeit und Freiheit eine Atmosphäre, die der Al-Kaida die Rekrutierung neuer Terroristen ermöglicht.
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von Birgit Cerha
Osama bin Laden, der Drahtzieher der Terrorakte, die2001 die Supermacht USA tief ins Mark trafen, ist seit vier Monaten tot. Den zweiten Mann des Terrornetzwerkes Al-Kaida, Atiyah al-Rahman, traf Ende August eine amerikanische Rakete in Pakistan tödlich. Zahlreiche andere Terrorführer sitzen in Gefängnissen. Bin Ladens Nachfolger Ayman al Zawaheri die Jihadis in aller Welt auf, durch Attacken auf die USA den Tod des „Emirs“ (wie die Anhänger ehrfurchtvoll Bin Laden nennen) zu rächen. Doch die angedrohten spektakulären Terrorakte blieben bisher aus.
Der zehnjährige von den USA geführte Antiterrorkrieg, der Tod Bin Ladens und die Extremisten weit weniger inspirierende Persönlichkeit Zawaheris, der – im Gegensatz zu Bin Laden - als trocken und streitsüchtig gilt, haben Al-Kaida nach Einschätzung von Experten empfindlich geschwächt. Dennoch wissen selbst Experten die wahre Gefahr, die heute der freien Welt durch das Terrornetzwerk droht, nicht klar einzuschätzen. Kein Zweifel besteht daran, dass die Al-Kaida Zentral im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet zwar kaum noch in der Lage sein dürfte, wie einst Extremisten auszubilden, zu trainieren und große Operationen zu organisieren. Doch ihre Zweigorganisationen insbesondere in der arabischen Welt stellen nach Einschätzungen des US-Geheimdienstes FBI immer noch eine tödliche Gefahr dar, insbesondere, da sich die Extremisten als sehr „anpassungsfähig“ an neue Situationen erweisen.
Al-Kaida verfügt heute über ein Netzwerk von autonomen Untergrundzellen in etwa hundert Ländern der Welt, darunter auch in den USA, wiewohl es den Sicherheitsbehörden im Laufe der vergangenen Jahre gelungen war, solche Zellen in England, den USA, Italien, Frankreich, Spanien, Deutschland, Albanien und Uganda u.a. aufzubrechen. Doch, so stellt der pakistanische Journalist Ahmed Rashid fest: Die Grundphilosophie der Al-Kaida bleibt bestehen: „Ein Mann, eine Bombe!“
Zehn Jahres seit dem 11. September hat sich das Umfeld der Al-Kaida aber noch aus einem anderen Grund radikal verändert. Eines der Hauptziele Bin Ladens – der Sturz arabischer Autokraten und Diktatoren – beginnt sich zu erfüllen. Damit eröffnen sich für Al-Kaida neue Chancen, aber auch neue Gefahren. Die Revolutionen in der arabischen Welt haben eine gravierende Irrelevanz der Jihadis und ihrer Ideologie und ihrem Ziel der Errichtung islamischer Staaten zutage gebracht. Al-Kaida spielte und spielt nicht nur keine Rolle bei den Aufständen in Ägypten, im Jemen oder in Syrien. In Libyen wurde der Führer der „Islamischen Kampfgruppe“, Abdelhakim Belhadsch zwar Sicherheitschef des Nationalen Übergangsrats. Doch er leugnet, dass seine Organisation je Befehl von Bin Laden entgegengenommen habe und bekennt sich zu einem „zivilen Staat mit echten Freiheiten und Achtung von Recht und Ordnung“. Al-Kaidas Terminologie und Propaganda ist auch in Libyen nun nicht gefragt. Demokratie, Säkularismus, Pluralismus und Freiheit sind die Ziele, die derzeit in der arabischen Welt hoch im Kurs stehen.
Die Al-Kaida Zentral versucht verzweifelt auf den dahinrasenden Revolutionszug aufzuspringen. Demonstrativ verkündet Zawaheri seine Unterstützung für die protestierenden Araber und einer seiner führenden Jünger, der Ägypter Abu Ubaqydah Abdallah al-Adm schwärmt von der bevorstehenden Gründung islamischer Staaten, die durch diese Revolutionen beschleunigt, jedoch erst nach einer vielleicht 50 Jahre währenden Phase des Chaos verwirklicht sein würde. „Gott hat diese Revolutionen vorangetrieben“, schwärmt Adm und der globale Jihad baut darauf, die Früchte eines Tages zu ernten.
Doch der Sturz der Diktatoren, insbesondere im Jemen, der Zusammenbruch der Sicherheitssysteme bietet den islamistischen Extremisten neue Möglichkeiten. So konnte die im Jemen stationierte„Al Kaida auf der Arabischen Halbinsel“ (AKAH) ihren Aktionsraum in den vergangenen Monaten wesentlich erweitern. AKAH gilt derzeit als die gefährlichste Al-Kaida Gruppe, die bereits sogar Attacken innerhalb der USA durchgeführt hatte. Trotz regelmäßige von jemenitischen Streitkräften mit aktiver US-Unterstützung durchgeführte Angriffe auf ihre Stützpunkte erwies sich AKAH erstaunlich widerstandskräftig und anpassungsfähig. Ihre Führer entwickelten eine neue Strategie, durch die sie mit kleinen, einfachen Operationen gegen US-Ziele die Supermacht zu zermürben hoffen. US-Antiterrorexperten befürchten insbesondere den Einsatz von Kleinflugzeugen. Zudem berichten Geheimdienste über jüngste Versuche der AKAH, das hochgiftige Rizin zu erwerben, es in kleine Sprengköpfe einzupacken, um diese an begrenzten öffentlichen Plätzen, wie Einkaufszentren, U-Bahnstationen oder Flughäfen zur Explosion zu bringen.
Während die lange so aggressive Al-Kaida im Irak stark geschwächt, doch weiterhin aktiv ist, nutzen auf der ägyptischen Sinai-Halbinsel Terroristen ein Sicherheitsvakuum und die tiefen Frustrationen der Beduinen, um eine neue Zweiggruppe der Al Kaida aufzubauen, während in Algerien die „Al Kaida im Islamischen Maghreb“ (AKIM) ihre Operationen jüngst wesentlich verstärkt hat. Ihre Ziele sind vorwiegend staatliche Institutionen und Sicherheitskräfte, was darauf schließen läßt, dass AKIM sich – vorerst? – nicht einer internationalen Terrorkampagne anschließen dürfte. Bisher gibt es auch keine Hinweise darauf, dass Waffen aus den riesigen Lagern im chaotischen Libyen in die Hände der Jihadis jenseits der Grenzen des von Diktator Gadafi befreiten Landes gelangt sein dürfte. Das aber kann sich rasch ändern.
Ungeachtet des historischen Aufbruchs in der arabischen Welt spricht vorerst wenig dafür, dass die Jihadis ihrem Hauptziel der Errichtung eines Netzes islamischer Staaten in diesem Raum näher rücken. Der in der arabischen Welt aber immer noch ungebrochene Zorn auf die Supermacht erhält aber trotz dem überwältigenden Wunsch nach Gewaltlosigkeit und Freiheit eine Atmosphäre, die der Al-Kaida die Rekrutierung neuer Terroristen ermöglicht.
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