Samstag, 17. Dezember 2016

“Wir schmelzen wie Kerzen”

Angesichts der Welle von Terror, Entführungen und Morden, kann das Christentum in seiner nahöstlichen Geburtsregion überleben?
 
„Sie haben mein Auto zerstört, meine Kirche vor meinen Augen in Brand gesteckt. Sie haben mir ins Bein geschossen. Neun Tage lang haben sie mich gefangen gehalten , meine Nase, meine Zähne mit einem Hammer eingeschlagen, einen Wirbel gebrochen. Christ sein im Irak ist eine unmögliche Mission“, klagt der Priester Douglas Bazi. „Wie können meine Glaubensbrüder hier och existieren?“
Schergen des „Islamischen Staates“ IS stecken Häuser in Brand, wenn Christen zögern, die „Jizya“ („Schutzgeld“, das laut Koran Christen und Juden das Überleben sichert) zu bezahlen. Geistliche werden gekreuzigt, Männer, Frauen, ja Kinder getötet, weil sie sich weigern, zum Islam überzutreten – im irakischen Mosul, im syrischen Rakka oder in Aleppo, wo das Regime eben den von überwiegend islamistischen Rebellen kontrollierten Ostteil erobert hat. Im Irak, in Syrien, in Ägypten legen radikale Islamisten  Bomben in Kirchen, töten Dutzende betende Gläubige, schänden Gräber von Christen und anderen Minderheiten, wie Yeziden, nehmen Männer, Frauen, Mädchen als Geiseln, verüben Massenmorde. „Wir haben keine Waffen, keine Munition,  wir schmelzen dahin wie Kerzen.“ Können unsere Stimmen überhaupt noch Gehör finden“, klagt ein christlicher Führer in Syrien.
Die Bilder von 21 ägyptischen Kopten, die 2015 an der libyschen Mittelmeerküste vom IS enthauptet wurden, bleiben unvergessen. Es sind nur kleine Ausschnitte der Barbareien, die die Existenz der Christen und anderen Minderheiten im Orient bedroht. Zahlen sprechen für sich:  Zwischen 1910 und 2010 sank der Prozentsatz der Christen unter der Bevölkerung der Region von 14 auf vier Prozent. In der Türkei kann man kaum noch von einer christlichen Minderheit sprechen: 1915 lebten unter einer Bevölkerung von 15 Millionen auf dem Gebiet der heutigen Türkei 4,5 Millionen Christen, ihre Zahl schrumpfte auf 120.000 (weniger als ein Prozent der heute 80 Millionen-Bevölkerung). Im April beschlagnahmte der Staat in Südostanatolien sechs Kirchen. Von dem Aderlass besonders hart betroffen sind die vom IS heimgesuchten Länder Syrien und der Irak. Seit dem Sturz des Diktators Saddam Hussein 2003 sank die Zahl der Christen im Irak von 1,5 Millionen auf kaum mehr als 250.000. 60 Kirchen wurden zerstört, Bischöfe und Priester ermordet.
In Syrien lebten bis zu Beginn der Rebellion gegen Diktator Assad mehr als zwei Millionen Christen (rund zehn Prozent der Bevölkerung). Allein in dem seit 2014 umkämpften Aleppo, harrten bis heute von den einst 300.000 Christen nur etwa 40.000 aus, die meisten in den vom Regime kontrollierten Stadtteil. Insgesamt flüchteten Hunderttausende syrische Christen in den für sie sicheren Libanon und nach Jordanien, deren Stabilität allerdings durch den wachsenden sozialen Druck und die Kriegsturbulenzen der Region bedroht ist. Wiewohl der Libanon das einzige Land der Region ist, in dem die Christen politische Macht ausüben, schrumpfte ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung von 78 Prozent der vor hundert Jahren auf dem Gebiet des heutigen Staates Lebenden auf 34.
Auch in Ägypten, das mit mehr als acht Millionen Kopten (rund zehn Prozent der Bevölkerung) die größte christliche Gemeinde des Orients beherbergt, hat das 2011 durch den „Arabischen Frühling“ geschaffene Machtvakuum den Druck auf die Christen radikal verschlimmert. Gestürzte oder bedrängte Diktatoren, wie der Ägypter Mubarak, der Iraker Saddam Hussein oder der Syrer Assad hatten den religiösen Minderheiten eine gesicherte Existenz gewährt. Ihr Sturz ermöglichte den Aufstieg radikaler Islamisten, die Christen als Handlanger des Westens verteufeln, sie aber auch zunehmend zwischen die Fronten eines sich verschärfenden Konflikts der Sunniten gegen die Schiiten (und Alewiten) drängen.Der Terroranschlag auf das religiöse Zentrum der Kopten in Kairo, dem Anfang Dezember 25 Menschen zum Opfer fielen, illustriert dramatisch die sich zuspitzende Lage. Seit Papst Tawadros II. 2013 den Militärputsch gegen den freigewählten islamistischen Präsidenten Mursi unterstützte und sich offen hinter den heutigen Diktator Sisi stellte, trifft die Kopten Hass und Zorn ihrer islamistischen, vom Regime verfolgten Mitbürger immer härter. Der IS nützt diese Spannungen, um die Gesellschaft des volksreichsten arabischen Staates für seine Machtinteressen zu spalten. So bekannte er sich auch zynisch zu dem jüngsten Anschlag.
Bei vielen der Barbareien gegen Christen geht es weniger um religiöse Überzeugungen, als um Macht, Aktionen, die besonders gefährlich werden, wenn sie sich, wie häufig geschehen, mit kriminellen Motiven vermischen. Eine wachsende Zahl von Christen in der Region sieht den einzigen Ausweg in Emigration. Damit verliert der Mittlere Osten zunehmend sein reiches historisches Mosaik, einen beträchtlichen Teil seiner Intelligenz und die wichtige Brücke zwischen den Kulturen des Ostens und des Westens.
 

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