Zusammengebrochener Waffenstillstand – keine Hilfe für verwundete Zivilisten – ein neues Kapitel des Elends beginnt in Syrien
von Birgit Cerha,
„Verwundete und Tote liegen in den Straßen. Niemand kann sie
retten, niemand kann sie bergen.“ Wieder dringen Rufe totaler
Verzweiflung aus Ost-Aleppo, nachdem der Dienstag abend zwischen
Diktator Assads Verbündeten Russland und der die Rebellen
unterstützenden Türkei vereinbarte Waffenstillstand kaum eine Stunde
gehalten hatte. Bomben des Regimes fallen wieder auf die letzten
Widerstandsnester in der einst wichtigsten Wirtschaftsmetropole des
Landes. Tausende, vielleicht Zehntausende Menschen bleiben
eingeschlossen. Todesängste sind zurückgekehrt. Werden Assads Truppen
und Milizen an den Feinden, die sie seit vier Jahren bekämpft hatten,
blutige Vergeltung üben? Werden sie auch die unter den Rebellen lebenden
Zivilisten nicht schonen? Haben solche Brutalitäten nicht Tradition in
dieser jahrzehntelangen Diktatur?
20 grüngestrichene Busse des Regimes standen mit laufendem Motor
bereit, um insgesamt 15.000 Menschen, darunter 4.000 Kämpfer mit ihren
leichten Waffen, aus der Stadt in die angrenzenden, von Rebellen
kontrollierte Nord-Provinz Idlib in Sicherheit zu bringen. Darauf hatten
sich Türken und Russen geeinigt. Doch niemand kam und beide Seiten
bekämpfen einander nun wieder heftig, während sie sich gegenseitig die
Schuld am erneuten Blutvergießen zuschieben. Es bedarf noch intensiverer
diplomatischer Intervention, um die Menschen von Aleppo aus ihrer
unsagbaren Pein zu erlösen.
Der in wochenlangem Tauziehen endlich beschlossene Evakuierungsplan
sollte den größten militärischen Erfolg Assads seit Kriegsbeginn
krönen: die Rückeroberung des seit 2012 von Rebellen gehaltenen
Ost-Aleppos und damit die Wiederherstellung der Kontrolle über die
gesamte Metropole. Die Siegesfeier dürfte wohl nur aufgeschoben sein.
Auch wenn viele Rebellen schworen, Aleppo bis zu ihrem Tode zu
verteidigen, sie können die letzten Rückzugsgebiete nicht mehr
verteidigen.
Der Zusammenbruch des Waffenstillstandes ist das jüngste so
tragische Beispiel für die Komplexität dieses Konfliktes, in dem eine
Vielzahl von Akteuren und deren Schutzmächte mitmischen und jeder seine
eigenen Interessen verfolgt. Aktuell geht es nun um den Iran, neben
Russland Assads effizientester Helfer. Während sich die Welt seit
Monaten auf die Verzweifelten in Aleppo konzentrierte, erleiden in
anderen Landesteilen Hunderttausende Zivilisten ein ähnliches Schicksal,
belagert, der minimalsten humanitären Hilfe durch Regierungskräfte,
anderswo durch Rebellen beraubt. Nun geht es um iranische und
pro-iranische Kämpfer, die von Gegnern Assads in Nord-Syrien
eingeschlossen werden. Teheran fordert für den Abzug der Menschen aus
Aleppo gleichzeitig jenen seiner Kämpfer aus Nord-Syrien. Davon aber
wollen die Rebellen – bisher - nichts wissen.
Der Fall Aleppos lässt in diesem Krieg nur zwei Prognosen zu: der
durch die Eroberung dieser auch symbolisch so wichtigen Stadt gestärkte
Diktator wird sich nun noch weniger denn je zu politischen Kompromissen,
zu einer Befriedung des Landes auf dem Verhandlungsweg bereitfinden.
Zwar wird er nun die fünf größten Städte neben dem strategisch wichtigen
Küstengebiet am Mittelmeer kontrollieren, doch weite ländliche Regionen
bleiben zumindest teilweise in Rebellenhand. Zudem erlebte gerade in
den letzten schweren Stunden Aleppos die Terrormiliz des „Islamischen
Staates“ IS einen enormen Auftrieb, als sie, die Konzentration Russlands
auf Aleppo nutzend, ungehindert auch durch die von den USA geführte
Anti-Terrorallianz mit schweren Waffen aus dem irakischen Mosul und
ihrer „Hauptstadt“ Rakka in Syrien auszog und das kulturhistorische Herz
Syriens, Palmyra, erneut besetzte, nachdem die syrische Armee mit
russischer Hilfe dieses weltberühmte Juwel vor sieben Monaten von ihr
befreit und damit einen wichtigen Meilenstein im Kampf gegen den IS
gesetzt hatte. Ein schwerer Prestigeverlust für den Kreml und Assad,
zumal Russland dort auch einen kleinen Militärstützpunkt unterhalten
hatte.
Unterdessen wollen Rebellensprecher von Kapitulation gar nichts
wissen. „Wenn Assad glaubt, dass wir nun nach seinem militärischen
Vormarsch in Aleppo Zugeständnissen bei den Zielen unserer Revolution
machen“, dann habe er sich geirrt, betont Riad Hijab, Chef des
wichtigsten Oppositionsbündnisses. Syriens militante Opposition wird
sich nun auf die von radialen Islamisten wie der Al-Nusra kontrollierten
Nordprovinz Idlib konzentrieren, wo bereits mehrere Zehntausend
Rebellen aus anderen Landesteilen Zuflucht suchten, um sich für einen
möglichen Guerillakampf gegen das Regime zu rüsten. Der Fall von Aleppo
aber dürfte der im Westen als „gemäßigt“ und damit für Hilfe geeignet
eingestuften Oppositionsgruppe der „Freien Syrischen Armee“ (FSA) den
Todesstoß versetzen. Schon vor der Wahl Trumps zum neuen US-Präsidenten
war es höchst zweifelhaft, dass Washington dieses Konglomerat von
Gegnern Assads, von denen viele auch radikal-islamistisches Gedankengut
vertreten, weiterhin unterstützen wird. Die jüngste Entwicklung dürfte
Trump in seiner Position nur noch bestärken, sich ausschließlich für den
Kampf gegen den IS - und nicht gegen Assad - in diesem Krieg zu
engagieren. Damit hat der Diktator zweifellos auch einen wichtigen
psychologischen und politischen Sieg errungen.
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