Freitag, 23. September 2016

“Wir sterben Tausende Tode”

Der Aufschub humanitärer Hilfe stürzt Syriens gequälte Zivilbevölkerung in totale Verzweiflung


Von Birgit Cerha

Auf den von Regierungstruppen eingeschlossenen Ostteil der syrischen Metropole Aleppo prasseln wieder die Bomben nieder. Die 270.000 Bewohner stehen im Schock seit die UNO nach der Attacke auf einen UN-Hilfskonvoi  alle Lieferungen lebenswichtiger Güter verschob. Zugleich signalisiert Assad durch den Angriff auf eine medizinische Einrichtung, bei dem vier Ärzte ums Leben kamen, seine Entschlossenheit, den Bombenterror gegen zivile und humanitäre Einrichtungen fortzusetzen, um die Bevölkerung zu zermürben.
Bewohner der Stadt berichten über eine „katastrophale humanitäre Situation“, da sie schon monatelang von lebenswichtigen Gütern abgeschnitten sind.  „Unsere Lebensmittelvorräte reichen nur noch für eine Woche“, berichtet Ibrahim al-Hajj, Mitglied des Zivilschutzes „Weiße Helme“.  Die Preise haben sich verdoppelt, es  gibt es kaum noch Gemüse. Ein Kilo Fleisch kostet umgerechnet 32 Dollar. Das Regime „blockiert alle Straßen die aus der Stadt führen.“  Die medizinische Versorgung ist nach der Zerstörung von sechs Spitälern zusammengebrochen.  Beginnt nun wieder der Terror der Fassbomben, die wahllos  so viele Menschen töten? Diese Angst ist allgegenwärtig.  „Wir sterben jeden Tage Tausend Tode, und niemand schert sich um uns,“ klagt al-Hajj.

Die vorübergehende Einstellung humanitärer Hilfe trifft vor allem die Opfer einer barbarischen Kriegsstrategie, des „Ergib dich oder Verhungere“. Assad wendet diese Methode der Belagerung an, um von Rebellen kontrollierte Städte unter seine Herrschaft zu zwingen und seine Gegner beginnen, es ihm gleich zu tun. So sind Hunderttausende Menschen von einem langsamen Tod – durch Hunger oder Mangel an medizinischer Versorgung  - bedroht.
Laut der humanitären Gruppe „Siege Watch“ leben eine Millione Syrier in 20 Gebieten  unter Belagerung und weitere 1,4 Millionen in nur schwer zu erreichenden Regionen, wo sich ihre Lage ständig verschlimmert. Zunehmend nehmen dort, wie in der Vorwoche auch in Ost-Aleppo geschehen, Rebellen die Zivilbevölkerung als Geisel, verhindern deren Flucht  oder blockieren Hilfslieferungen. In Madaya starben jüngst 60 Menschen an Hunger, einige Bewohner ernährten sich  mit Insekten. Seit Monaten haben weder Nahrungsmittel noch Medikamente die Stadt erreicht und die Situation droht sich mit dem herannahenden Winter dramatisch zu verschlimmern.   Meningitis ist in der Stadt ausgebrochen, einige Jugendliche verübten in Verzweiflung Selbstmord.
Assads mörderische Strategie zeigt erste Erfolge: Die jahrelang belagerten Damaszener Vororte Daraya und Moadamiyeh haben kapituliert. Die Rebellen hatten angesichts der humanitären Krise einer Zwangsevakuierung zugestimmt, nachdem das Regime nur eine einzige Hilfslieferung in vier Jahren gestattete und die lebenswichtige Infrastruktur zzerstört hatte. In Waer begannen Oppositionelle ebenfalls mit Verhandlungen, um eine humanitäre Katastrophe zu verhindern. Assads Hauptziel ist Aleppo, dessen Fall  seinen Sieg besiegeln könnte. Schon versuchen verzweifelte Bürger, sich dem Regime zu ergeben und in dessen Herrschaftsgebiet zu fliehen.

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