Der Krieg tötet Menschen, die Geschichte, den jahrhundertealten
Geist der Toleranz und gefährdet damit auch das Zusammenleben in der
gesamten Region
von Birgit Cerha
Das Grauen lässt sich nicht mehr in Worte fassen. Während die
letzten immer noch in Syriens heißumkämpfter einstiger
Wirtschaftsmetropole ausharrenden Ärzte verzweifelte Hilferufe an die
Mächtigen der Welt richten, ringen internationale Hilfsorganisationen um
Worte, die die Hölle Aleppos auch nur annähernd beschreiben können. Um
eine gleichgültige Welt angesichts der unerträglichen Pein einer
hilflosen Zivilbevölkerung aufzurütteln, nennt das „Internationale
Komitee vom Roten Kreuz“ die Schlacht um Aleppo „einen der
verheerendsten Konflikte der Neuzeit“ und Stephen O’Brien,
UN-Koordinator für humanitäre Angelegenheiten, spricht vom „Gipfel des
Horrors“.
„Die Bestien der Finsternis sind erwacht“, klagt der Aleppiner Poet
Fouad Mohammed Fouad und sie haben Aleppo nach den Worten des
Schriftstellers Khaled Khalifa „in eine seelenlose Stadt“ verwandelt. In
nur wenigen Monaten stürzte eine tausendjährige Zivilisation in
Trümmer. Der Krieg raubt das Leben Tausender Menschen und den
Überlebenden ihre Geschichte. Kein Ende ist in Sicht.
Aleppo zählt neben Damaskus zu den ältesten, durchgehend
besiedelten Städten der Welt. Historiker nehmen an, dass sich die ersten
Siedler auf einer Hügelgruppe über einer breiten fruchtbaren Senke am
Fluß Quwaiq niederließen. In den Archiven der nahen Ausgrabungsstätte
von Ebla fand sich der erste historische Hinweis auf „Halab“, wie die
Araber Aleppo bis heute nennen, aus dem dritten Jahrtausend v.Chr. Es
war die Stätte eines Tempels für den mesopotamischen Sturmgott Hadad.
Überreste des Tempels wurden am Ort der mittelalterlichen Zitadelle
gefunden, die Aleppo überragt. Halab war im 19. Jh. v. Chr die
Hauptstadt des semitischen Amoritenkönigreiches von Yamkhad und ihr Name
ist semitischen Ursprungs. Nach der Legende hatte auf den Hügeln einst
Abraham seine Ziegen gemolken. Halab bedeutet Milch.
Unzählige Male in ihrer langen Geschichte wurde Aleppo von
mächtigen Imperien erobert, von Invasoren geplündert und zerstört. Die
Sassaniden kamen und im 7. Jahrhundert die Araber. 230.000 Menschen
sollen 1138 bei einem katastrophalen Erdbeben gestorben sein. Auch die
Mongolen hinterließen ein Trümmerfeld. Durch ihre strategische Lage nahe
des Mittelmeers auf der einen und den Flußtälern von Euphrat und Tigris
auf der anderen Seite, fand sich Aleppo in der Mitte der alten
ägyptischen und hettitischen Handelswege. Die Stadt wurde zum
Knotenpunkt der Seidenstraße, ein riesiges Warenlager für die Schätze
Chinas und Indiens, die ihren Weg nach Westen, Norden und Süden fanden.
In den zahllosen Karawansereien und Badehäusern unterhielten sich die
Menschen in vielen Sprachen. Im 16. Jahrhundert schlugen auch
europäische Handelshäuser hier ihre Zelte auf, um Stücke des großen
Kuchens zu erobern. Aleppos Reichtum drang weit über die Grenzen. So
ließ William Shakespeare eine der Hexen in seinem „Macbeth“ von Aleppo
sprechen. Dieses nach den Worten des britischen Reisenden Thomas Coryat
„wichtigste Handelszentrum …der orientalischen Welt“ zog Siedler aller
Rassen und Religionen an. Unter der von Saladin gegründeten Dynastie der
Ayyubiden erlebte Aleppo eine Epoche außergewöhnlichen Reichtums.
Geschäft hatte – bis 2012 – stets Vorrang vor Ideologie und politischen
Überzeugungen. Davon profitierten auch zahlreiche venetianische
Handelshäuser selbst in Zeiten der Kreuzzüge.
Als die Osmanen 1516 die Region in ihr Reich eingliederten, wurde
Aleppo zur Hauptstadt einer Provinz, die sich von Nord-Syrien bis über
Teile Südanatoliens erstreckte und nach Konstantinopel und Kairo zur
drittgrößten des Reiches aufstieg. Um 1600 standen hier 53
Karawansereien und 56 Souks, darunter der zwölf km lange Souk Al-Madina
aus dem 14. Jh., das „pulsierende Herz“ der Stadt und der größte des
Mittleren Ostens. Er legte mit den unzähligen prachtvollen Bauten
Zeugnis ab für die bedeutende historische Rolle Aleppos als Schnittpunkt
der Kulturen. „Die Stadt ist so alt wie die Ewigkeit, dennoch neu,
obwohl sie nie aufhörte zu bestehen“, notierte im zwölften Jahrhundert
der spanisch-arabische Reisende Ibn Djubair. Die UNESCO erklärte sie
1986 zum „Weltkulturerbe“.
2012 ging der Souk im Zuge des Bürgerkrieges in Flammen auf. In der
sich über 350 ha erstreckenden Altstadt, mit ihren 16.000 historischen
Gebäuden das größte traditionelle Wohnviertel der arabischen Welt,
lebten bis Kriegsbeginn mehr als 120.000 Menschen. 60 Prozent der
Gebäude dürften inzwischen zerstört sein. Zerstört ist auch ein Teil der
Zitadelle, diesem Zeugnis einstiger arabischer Militärmacht. 2013
brachten Kämpfe das tausend Jahre alte Minarett der 715 errichteten
Omajjaden-Moschee zum Einsturz. Das gesamte uralte architektonische
Gefüge der Stadt ist nun gefährdet.
Doch diese Tragödie geht weit über die Zerstörung der steinernen
Zeugen der Vergangenheit hinaus. Es ist der Geist Aleppos, den die
Bomben für immer zu vernichten drohen, mit dramatischem Schaden für
Syrien, ja für die gesamte Region. Aleppo war die letzte osmanische
Stadt, in der eine Vielzahl von ethnischen und religiösen Gruppen bis
heute friedlich zusammenlebte. Andere, wie Saloniki wurden hellenisiert,
Konstantinopel und Smyrna türkisiert, Alexandria ägyptisiert oder
Beirut in einem 15-jährigen Bürgerkrieg ihres toleranten Charakters
beraubt. Aleppo widerstand ein Jahr lang dem Krieg. Erst als 2012 auch
hier der Volkszorn gegen die Brutalitäten des Regimes aufwallte und von
außen bewaffnete Islamistengruppen die Stadt in den Sog der Gewalt
rissen, wandelte sich der über Jahrhunderte herrschende Geist der
Toleranz in blutigen Terror. Aleppo wurde zum Schlachtfeld von
Fanatikern, das soziale und ökonomische Gefüge brach zusammen. Sind 500
Jahre der Harmonie zerstört?
Bis 2012 hatten Muslime, Christen verschiedener Konfessionen,
Juden, Angehörige kleiner, alter Religionsgemeinschaften, wie der
Yeziden, Araber, Kurden, Tscherkessen, friedlich zum gemeinsamen Wohl
zusammengelebt, die Andersartigkeit respektiert, akzeptiert und geliebt.
Jede der Bevölkerungsgruppen konnte frei ihre Traditionen und ihre
Glaubensregeln praktizieren. Eigeninteresse, Pragmatismus und Realismus
standen jeglicher Rebellion im Wege. Bis zuletzt verbanden viele
Aleppiner ihre Identität nicht mit Syrien, sondern mit ihrer Stadt.
Es waren die osmanischen Herrscher, die diesen Geist gefördert
hatten. Nach der Überlieferung soll Suleyman der Prächtige (1495-1566),
der zwar 13 große Eroberungsfeldzüge, darunter bis an die Tore Wiens,
geführt hatte, dennoch der ethnischen und religiösen Vielfalt besondere
Bedeutung geschenkt haben. So lehnte er die von seinen Beratern
vorgeschlagene Deportation von Juden aus Aleppo mit dem Gleichnis eines
vielfarbigen Blumenstraußes ab, in dem jede einzelne Farbe den anderen
noch mehr Glanz verleihe. Je mehr Völker und Religionsgemeinschaften
seinem Reich angehörten, desto größer sei dessen Stärke und die
Autorität des Herrschers.
Reisende und Diplomaten - wie Chevalier D‘Arvieux, französischer
Konsul in Aleppo (1679 – 86) - priesen die außergewöhnliche Toleranz der
Aleppiner. Sie seien „die sanftmütigsten, am wenigsten bösartigen und
fügsamsten des gesamten riesigen Reiches“.
1930 stellten die sunnitischen Muslime von einer Bevölkerung von
220.000 etwa 52, die Christen 16 (ausgenommen Armenier), die Juden vier,
die Armenier 28 Prozent. Nach dem Genozid in der Türkei bot sich Aleppo
den Armeniern und anderen verfolgten Christen der Region als rettende
„Arche Noah“ (so der schottische Historiker William Dalrymple) an.
Insgesamt erlebte das 20 Jahrhundert in Aleppo eine intensive
Zuwanderung. Doch nun verheert eine demographische Katastrophe die
Stadt. Binnen einen Jahres sind 55.000 der 60.000 Armenier Aleppos
geflüchtet und die christliche, einst die größte Gemeinde der Stadt, ist
von 200.000 auf 25.000 zusammengeschrumpft. Die auf die Antike
zurückgehende jüdische Gemeinde erlitt schon 1948 einen Aderlass, als
arabische Feindseligkeiten nach der Gründung Israels viele Juden in die
Emigration trieben – eine der wenigen traurigen Ausnahmen dieses meist
friedlichen Zusammenlebens. Unterdessen ist die noch vor 50 Jahren
15.000 Menschen zählende Gemeinde auf zwei Familien
zusammengeschrumpft.
Alteingesessene Aleppiner sind überzeugt, dass ihre Kultur der
Toleranz und des gegenseitigen Verstehens nach den Worten einer von
ihnen „ein Beispiel für die Welt ist“. „Wenn (nach den Juden nun auch)
die armenischen und arabisch-christlichen Bürger Aleppo den Rücken
kehren, dann verliert die Stadt ihre Vitalität und Dynamik“, meint der
Nahost-Historiker Keith David Watenpaugh. „Wenn Aleppo nicht als
multikulturelle Stadt überlebt, dann fürchte ich um den Rest der
Region.“ Und der prominente Geschäftsmann Fares Shehabi ist überzeugt,
dass es in diesem Krieg in Wahrheit um einen Konflikt zwischen der
Kultur religiöser Toleranz und der radikalen von Saudi-Arabien
propagierten wahhabitischen Interpretation des Islam geht, um „Identität
und Lebensstil“.
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