Samstag, 27. August 2016

Die Hölle in einem kulturhistorischen Juwel

Der Krieg tötet Menschen, die Geschichte, den jahrhundertealten Geist der Toleranz und gefährdet damit auch das Zusammenleben in der gesamten Region
 
von Birgit Cerha
 
Das Grauen lässt sich nicht mehr in Worte fassen. Während die letzten immer noch in Syriens heißumkämpfter einstiger Wirtschaftsmetropole ausharrenden Ärzte verzweifelte Hilferufe an die Mächtigen der Welt richten, ringen internationale Hilfsorganisationen um Worte, die die Hölle Aleppos auch nur annähernd beschreiben können. Um eine gleichgültige Welt angesichts der unerträglichen Pein einer hilflosen Zivilbevölkerung aufzurütteln, nennt das „Internationale Komitee vom Roten Kreuz“ die Schlacht um Aleppo „einen der verheerendsten Konflikte der Neuzeit“ und Stephen O’Brien, UN-Koordinator für humanitäre Angelegenheiten, spricht vom „Gipfel des Horrors“.
„Die Bestien der Finsternis sind erwacht“, klagt der Aleppiner Poet Fouad Mohammed Fouad und sie haben Aleppo nach den Worten des Schriftstellers Khaled Khalifa „in eine seelenlose Stadt“ verwandelt. In nur wenigen Monaten  stürzte eine tausendjährige Zivilisation in Trümmer. Der Krieg raubt das Leben Tausender Menschen und den Überlebenden ihre Geschichte. Kein Ende ist in Sicht.
 
Aleppo zählt neben Damaskus zu den ältesten, durchgehend besiedelten Städten der Welt. Historiker nehmen an, dass sich die ersten Siedler auf einer Hügelgruppe über einer breiten fruchtbaren Senke am Fluß Quwaiq niederließen. In den Archiven der nahen Ausgrabungsstätte von Ebla fand sich der erste historische Hinweis auf „Halab“, wie die Araber Aleppo bis heute nennen, aus dem dritten Jahrtausend v.Chr. Es war die Stätte eines Tempels für den mesopotamischen Sturmgott Hadad. Überreste des Tempels wurden am Ort der mittelalterlichen Zitadelle gefunden, die Aleppo überragt. Halab war im 19. Jh. v. Chr die Hauptstadt des semitischen Amoritenkönigreiches von Yamkhad und ihr Name ist semitischen Ursprungs. Nach der Legende hatte auf den Hügeln einst Abraham seine Ziegen gemolken. Halab bedeutet Milch.
Unzählige Male in ihrer langen Geschichte wurde Aleppo von mächtigen Imperien erobert, von Invasoren geplündert und zerstört. Die Sassaniden kamen und im 7. Jahrhundert die Araber. 230.000 Menschen sollen 1138 bei einem katastrophalen Erdbeben gestorben sein. Auch die Mongolen hinterließen ein Trümmerfeld. Durch ihre strategische Lage nahe des Mittelmeers auf der einen und den Flußtälern von Euphrat und Tigris auf der anderen Seite, fand sich Aleppo in der Mitte der alten ägyptischen und hettitischen Handelswege. Die Stadt wurde zum Knotenpunkt der Seidenstraße, ein riesiges Warenlager für die Schätze Chinas und Indiens, die ihren Weg nach Westen, Norden und Süden fanden. In den zahllosen Karawansereien und Badehäusern unterhielten sich die Menschen in vielen Sprachen. Im 16. Jahrhundert schlugen auch europäische Handelshäuser hier ihre Zelte auf, um Stücke des großen Kuchens zu erobern. Aleppos Reichtum drang weit über die Grenzen. So ließ  William Shakespeare eine der Hexen in seinem „Macbeth“ von Aleppo sprechen. Dieses nach den Worten des britischen Reisenden Thomas Coryat „wichtigste Handelszentrum …der orientalischen Welt“ zog Siedler aller Rassen und Religionen an. Unter der von Saladin gegründeten Dynastie der Ayyubiden erlebte Aleppo eine Epoche außergewöhnlichen Reichtums. Geschäft hatte – bis 2012 – stets Vorrang vor Ideologie und politischen Überzeugungen. Davon profitierten auch zahlreiche venetianische Handelshäuser selbst in Zeiten der Kreuzzüge.
 
Als die Osmanen 1516 die Region in ihr Reich eingliederten, wurde Aleppo zur Hauptstadt einer Provinz, die sich von Nord-Syrien  bis über Teile Südanatoliens erstreckte und nach Konstantinopel und Kairo zur drittgrößten des Reiches aufstieg. Um 1600 standen hier 53 Karawansereien und 56 Souks, darunter der zwölf km lange Souk Al-Madina aus dem 14. Jh., das „pulsierende Herz“ der Stadt und der größte des Mittleren Ostens. Er legte mit den unzähligen prachtvollen Bauten  Zeugnis ab für die bedeutende historische Rolle Aleppos als Schnittpunkt der Kulturen. „Die Stadt ist so alt wie die Ewigkeit, dennoch neu, obwohl sie nie aufhörte zu bestehen“, notierte im zwölften Jahrhundert der spanisch-arabische Reisende Ibn Djubair. Die UNESCO erklärte sie 1986 zum „Weltkulturerbe“.
 
2012 ging der Souk im Zuge des Bürgerkrieges in Flammen auf. In der sich über 350 ha erstreckenden  Altstadt, mit ihren 16.000 historischen Gebäuden das größte traditionelle Wohnviertel der arabischen Welt, lebten bis Kriegsbeginn mehr als 120.000 Menschen. 60 Prozent der Gebäude dürften inzwischen zerstört sein. Zerstört ist auch ein Teil der Zitadelle, diesem Zeugnis einstiger arabischer Militärmacht. 2013 brachten Kämpfe das tausend Jahre alte Minarett der 715 errichteten  Omajjaden-Moschee zum Einsturz. Das gesamte uralte architektonische Gefüge der Stadt ist nun gefährdet.
 
Doch diese Tragödie geht weit über die Zerstörung der steinernen Zeugen der Vergangenheit hinaus. Es ist der Geist Aleppos, den die Bomben für immer zu vernichten drohen, mit dramatischem Schaden für Syrien, ja für die gesamte Region. Aleppo war die letzte osmanische Stadt, in der eine Vielzahl von ethnischen und religiösen Gruppen bis heute friedlich zusammenlebte. Andere, wie Saloniki wurden hellenisiert, Konstantinopel und Smyrna türkisiert, Alexandria ägyptisiert oder Beirut in einem 15-jährigen Bürgerkrieg ihres toleranten Charakters beraubt. Aleppo widerstand ein Jahr lang dem Krieg. Erst als 2012 auch hier der Volkszorn gegen die Brutalitäten des Regimes aufwallte und von außen bewaffnete Islamistengruppen die Stadt in den Sog der Gewalt rissen, wandelte sich der über Jahrhunderte herrschende Geist der Toleranz in blutigen Terror. Aleppo wurde zum Schlachtfeld von Fanatikern, das soziale und ökonomische Gefüge brach zusammen. Sind 500 Jahre der Harmonie zerstört?
Bis 2012 hatten  Muslime, Christen verschiedener Konfessionen, Juden, Angehörige kleiner, alter Religionsgemeinschaften, wie der Yeziden, Araber, Kurden, Tscherkessen, friedlich zum gemeinsamen Wohl zusammengelebt, die Andersartigkeit respektiert, akzeptiert und geliebt. Jede der Bevölkerungsgruppen konnte frei ihre Traditionen und ihre Glaubensregeln praktizieren. Eigeninteresse, Pragmatismus und Realismus standen jeglicher Rebellion im Wege. Bis zuletzt verbanden viele Aleppiner ihre Identität nicht mit Syrien, sondern mit ihrer Stadt.
 
Es waren die osmanischen Herrscher, die diesen Geist gefördert hatten. Nach der Überlieferung soll Suleyman der Prächtige (1495-1566), der zwar 13 große Eroberungsfeldzüge, darunter bis an die Tore Wiens, geführt hatte, dennoch der ethnischen und religiösen Vielfalt besondere Bedeutung geschenkt haben. So lehnte er die von seinen Beratern vorgeschlagene Deportation von Juden aus Aleppo mit dem Gleichnis eines vielfarbigen Blumenstraußes ab, in dem jede einzelne Farbe den anderen noch mehr Glanz verleihe. Je mehr Völker und Religionsgemeinschaften seinem Reich angehörten, desto größer sei dessen Stärke und die Autorität des Herrschers.
Reisende und Diplomaten - wie Chevalier D‘Arvieux, französischer Konsul in Aleppo (1679 – 86) - priesen die außergewöhnliche Toleranz der Aleppiner. Sie seien „die sanftmütigsten, am wenigsten bösartigen und fügsamsten des gesamten riesigen Reiches“.
 
1930 stellten die sunnitischen Muslime von einer Bevölkerung von 220.000 etwa 52, die Christen 16 (ausgenommen Armenier), die Juden vier, die Armenier 28 Prozent. Nach dem Genozid in der Türkei bot sich Aleppo den Armeniern und anderen verfolgten Christen der Region als rettende „Arche Noah“ (so der schottische Historiker William Dalrymple) an. Insgesamt erlebte das 20 Jahrhundert in Aleppo eine intensive Zuwanderung. Doch nun verheert eine demographische Katastrophe die Stadt. Binnen einen Jahres sind 55.000 der 60.000 Armenier Aleppos geflüchtet und die christliche, einst die größte Gemeinde der Stadt, ist von 200.000 auf 25.000 zusammengeschrumpft. Die auf die Antike zurückgehende jüdische Gemeinde erlitt schon 1948 einen Aderlass, als arabische Feindseligkeiten nach der Gründung Israels viele Juden in die Emigration trieben – eine der wenigen traurigen Ausnahmen dieses meist friedlichen Zusammenlebens.  Unterdessen ist die noch vor 50 Jahren 15.000 Menschen zählende Gemeinde auf zwei  Familien zusammengeschrumpft.
Alteingesessene Aleppiner sind überzeugt, dass ihre Kultur der Toleranz und des gegenseitigen Verstehens nach den Worten einer von ihnen „ein Beispiel für die Welt ist“. „Wenn (nach den Juden nun auch) die armenischen und arabisch-christlichen Bürger Aleppo den Rücken kehren, dann verliert die Stadt ihre Vitalität und Dynamik“, meint der Nahost-Historiker Keith David Watenpaugh. „Wenn Aleppo nicht als multikulturelle Stadt überlebt, dann fürchte ich um den Rest der Region.“ Und der prominente Geschäftsmann Fares Shehabi ist überzeugt, dass es in diesem Krieg in Wahrheit um einen Konflikt zwischen der Kultur religiöser Toleranz und der radikalen von Saudi-Arabien propagierten wahhabitischen Interpretation des Islam geht, um „Identität und Lebensstil“.
 

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