Nach der Befreiung der IS-Hochburg beginnt der Vormarsch auf Mosul –
Doch den Irak kann nicht eine militärische, sondern nur eine politische
Lösung retten
Von Birgit Cerha
Selbst humanitäre Organisationen sind schockiert. Eine „beispiellos
Flutwelle“ humanitären Elends ergießt sich nach den Worten von
Vertretern des im Irak engagierten „Norwegische Flüchtlingsrates“ aus
Falludscha, der am Wochenende gefallenen Hochburg der Terrormiliz des
„Islamischen Staates“ (IS). Allein innerhalb weniger Stunden flüchteten
an die 20.000 seit Jahren eingeschlossene Zivilisten aus Falludscha,
nach UN-Schätzungen mehr als 40.000 seit Beginn der Offensive der
irakischen Regierungstruppen vor mehr als drei Wochen. Hunderte
schwammen über den Euphrat und Zahllose entkamen durch das
Abwassersystem der Stadt, nachdem sie zuvor die Hilfe von IS-Kämpfern
mit 100 Dollar pro Kopf erkauft hatten. Sie finden in total überfüllten
Flüchtlingslagern Zuflucht. Humanitären Organisationen reicht nicht
einmal das Geld, um die Traumatisierten und ohnedies Ausgehungerten mit
Nahrungsmitteln zu versorgen. Das Damoklesschwert der Cholera hängt über
den Lagern.
Wieviele der vor Beginn der Offensive von etwa 90.000 Menschen
bewohnten Stadt noch ausharren, iust vorerst unklar. Fest steht, dass es
vor allem die Schwächsten sind, die die Strapazen und Risiken der
Flucht nicht gewagt hatten.
Nachdem Freitag von den USA ausgebildete Eliteeinheiten der
irakischen Sicherheitskräfte mit Luft-Unterstützung der westlichen
Allianz ins Zentrum Falludschas eingedrungen waren und am Wochenende die
fast vollständige Eroberung der Stadt verkündet hatten, halten derzeit
noch „Säuberungsaktionen“ an. Zugleich begannen die irakischen
Regierungstruppen , ermutigt durch den unverhofft raschen Sieg ihren
lange geplanten, und immer wieder aufgeschoben Vormarsch auf Mosul, die
im Juni 2014 vom IS eroberte zweitgrößte Stadt des Landes.
Falludscha, 80 km von Bagdad entfernt, liegt an einer wichtigen
Verbindungsroute. Ihre Geschichte besitzt fast legendäre Bedeutung für
den kriegsgequälten Irak. Überwiegend von arabischen Sunniten bewohnt,
genoss sie lange den Ruf als „Stadt der Moscheen und Minarette“, bis sie
nach dem Sturz Diktator Saddam Husseins 2003 und dem blutigen
Bürgerkrieg zwischen den Kriegsverlierern der arabischen Sunniten und
den schiitischen Gewinnern zur „Hölle auf Erden“ entartete. Keine Stadt
des Landes wurde derart oft attackiert, bombardiert, belagert und
zerstört, insbesondere von der US-Luftwaffe und der irakischen Armee
unter schiitischer Führung. Denn keine andere Stadt widersetzte sich so
entschlossen der neuen, von den USA geförderten schiitischen Ordnung,
die die jahrhundertelange Herrscherschicht der Sunniten schwer
diskriminierte und politische ausschloss. „Al-Kaida im Irak“, der
Vorläufer des IS, die sich – wie der IS – als Schutzmacht der Sunniten
präsentierte, fand in Falludscha ihren stärksten Rückhalt. So lieferte
sich die Stadt auch Ende 2013 kampflos dem IS aus, der hier seinen
Siegeszug im Irak begann. Dass viele Bewohner, ungeachtet der
zweieinhalbjährigen brutalen Herrschaft der Terrormiliz die
rachedurstigen schiitischen Milizen mehr fürchten als die grausamen
Glaubensbrüder, lässt die Fluchtwelle vermuten, die in voller Stärke
ausbrach, nachdem der IS aus wichtigen Stadtvierteln vertrieben worden
war. Die Angst vor Massakerm, wie sie die vom Iran unterstützte
schiitische Milizen an Sunniten insbedsondere in der nördlichen von
Bagdad gelegenen Sunnitenstadt Tikrit, verüpbt hatten, konnte auch ein
von Premier Abadi geschlossenes Abkommen nicht zerstreuen, das die
schiitischen Milizen von der Stadt fernhalten soll.
Doch erste Berichte, dass Angehörige der vom Iran ausgebildeten und
unterstützten schiitischen „Badr-Organisation“ in der Stadt gesichtet
worden seien, nähren die Sorge, dem militärischen Sieg könne eine
politische Niederlage folgen. Denn gelingt es Abadi nicht, das Vertrauen
der arabischen Sunniten durch einen Prozess der nationalen Versöhnung
und Reformen zu gewinnen, die der sunnitischen Minderheit ihre
Grundrechte, ihre Existenz und Mitbestimmung im Irak sichern, dann wird
der IS oder seine Nachfolgeorganisation in Falludscha und im Irak
insgesamt wieder fruchtbaren Nährboden finden. Falludscha ist ein
zukunftsweisender Test für Abadi. Kann er die Milizen nicht
kontrollieren, dann werden sich in der bevorstehenden Großoffensive
gegen Mosul die Sunniten der Stadt kaum gegen den IS erheben und eine
lange, grausame Schlacht wird auch das Schicksal des irakischen Staates
besiegeln.
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