Sonntag, 19. Juni 2016

Falludscha – ein Testfall für Iraks Zukunft

Nach der Befreiung der IS-Hochburg beginnt der Vormarsch auf Mosul – Doch den Irak kann nicht eine militärische, sondern nur eine politische Lösung retten
 
Von Birgit Cerha 
 
Selbst humanitäre Organisationen sind schockiert. Eine „beispiellos Flutwelle“ humanitären Elends ergießt sich nach den Worten von Vertretern des  im Irak engagierten „Norwegische Flüchtlingsrates“ aus Falludscha, der am Wochenende gefallenen Hochburg der Terrormiliz des „Islamischen Staates“ (IS). Allein innerhalb weniger Stunden flüchteten an die 20.000 seit Jahren eingeschlossene Zivilisten aus Falludscha,  nach UN-Schätzungen mehr als 40.000 seit Beginn der Offensive der irakischen Regierungstruppen vor mehr als drei Wochen. Hunderte schwammen über den Euphrat und Zahllose entkamen durch das Abwassersystem der Stadt, nachdem sie zuvor die Hilfe von IS-Kämpfern mit 100 Dollar pro Kopf erkauft hatten. Sie finden in total überfüllten Flüchtlingslagern Zuflucht. Humanitären Organisationen reicht nicht einmal das Geld, um die Traumatisierten und ohnedies Ausgehungerten mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Das Damoklesschwert der Cholera hängt über den Lagern.
Wieviele der vor Beginn der Offensive von etwa 90.000 Menschen bewohnten Stadt noch ausharren, iust vorerst unklar. Fest steht, dass es vor allem die Schwächsten sind, die die Strapazen und Risiken der Flucht nicht gewagt hatten.
Nachdem Freitag von den USA ausgebildete Eliteeinheiten der irakischen Sicherheitskräfte mit Luft-Unterstützung der westlichen Allianz ins Zentrum Falludschas eingedrungen waren und am Wochenende die fast vollständige Eroberung der Stadt verkündet hatten, halten derzeit noch „Säuberungsaktionen“ an. Zugleich begannen die irakischen Regierungstruppen , ermutigt durch den unverhofft raschen Sieg ihren lange geplanten, und immer wieder aufgeschoben Vormarsch auf Mosul, die im Juni 2014 vom IS eroberte zweitgrößte Stadt des Landes.
Falludscha, 80 km von Bagdad entfernt, liegt an einer wichtigen Verbindungsroute. Ihre Geschichte besitzt fast legendäre Bedeutung für den kriegsgequälten Irak. Überwiegend von arabischen Sunniten bewohnt,  genoss sie lange den Ruf als „Stadt der Moscheen und Minarette“, bis sie nach dem Sturz Diktator Saddam Husseins 2003 und dem blutigen Bürgerkrieg zwischen den Kriegsverlierern der arabischen Sunniten und den schiitischen Gewinnern zur „Hölle auf Erden“ entartete. Keine Stadt des Landes wurde derart oft attackiert, bombardiert, belagert und zerstört, insbesondere von der US-Luftwaffe und der irakischen Armee unter schiitischer Führung. Denn keine andere Stadt widersetzte sich so entschlossen der neuen, von den USA geförderten schiitischen Ordnung, die die jahrhundertelange Herrscherschicht der Sunniten schwer diskriminierte und politische ausschloss. „Al-Kaida im Irak“, der Vorläufer des IS, die sich – wie der IS – als Schutzmacht der Sunniten präsentierte, fand in Falludscha ihren stärksten Rückhalt. So lieferte sich die Stadt auch Ende 2013 kampflos dem IS aus, der hier seinen Siegeszug im Irak begann. Dass viele Bewohner, ungeachtet der zweieinhalbjährigen brutalen Herrschaft der Terrormiliz die rachedurstigen schiitischen Milizen mehr fürchten als die grausamen Glaubensbrüder, lässt die Fluchtwelle vermuten, die in voller Stärke ausbrach, nachdem der IS aus wichtigen Stadtvierteln vertrieben worden war. Die Angst vor Massakerm, wie sie die vom Iran unterstützte schiitische Milizen  an Sunniten insbedsondere in der nördlichen von Bagdad gelegenen Sunnitenstadt Tikrit, verüpbt hatten, konnte auch ein von Premier Abadi geschlossenes Abkommen nicht zerstreuen, das die schiitischen Milizen von der Stadt fernhalten soll.
Doch erste Berichte, dass Angehörige der vom Iran ausgebildeten und unterstützten schiitischen „Badr-Organisation“ in der Stadt gesichtet worden seien, nähren die Sorge, dem militärischen Sieg könne eine politische Niederlage folgen. Denn gelingt es Abadi nicht, das Vertrauen der arabischen Sunniten durch einen Prozess der nationalen Versöhnung und Reformen zu gewinnen, die der sunnitischen Minderheit ihre Grundrechte, ihre Existenz und Mitbestimmung im Irak sichern, dann wird der IS oder seine Nachfolgeorganisation in Falludscha und im Irak insgesamt wieder fruchtbaren Nährboden finden. Falludscha ist ein zukunftsweisender Test für Abadi. Kann er die Milizen nicht kontrollieren, dann werden sich in der bevorstehenden Großoffensive gegen Mosul die Sunniten der Stadt kaum gegen den IS erheben und eine lange, grausame Schlacht wird auch das Schicksal des irakischen Staates besiegeln.

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