Mittwoch, 29. Juni 2016

Die neue Front des IS

Die Türkei – lange de-facto Erfüllungsgehilfe des „Islamischen Staates“ wird nun als Folge fataler Strategiefehler zu seinem Hauptziel
 
von Birgit Cerha
 
Eine Höchstzahl an zivilen Opfern – das ist das Hauptziel der mörderischen internationalen Strategie der Terrormiliz des „Islamischen Staates“ (IS). Mit 41 Toten und weit über hundert Verletzten zählt der Anschlag auf den Istanbuler Flughafen zum blutigsten der vergangenen Jahre in der Türkei. Und, wiewohl sich bisher niemand zu den Morden bekannte, hegen die türkischen Behörden, wie westliche Experten keine Zweifel, dass diese Bluttaten die Handschrift des IS tragen, professionell geplant und kaltblütig ausgeführt. Dass es dennoch in den Augen der türkischen Behörden nicht an möglichen Täterkreisen mangelt – von radikalen Islamisten über die „Arbeiterpartei Kurdistan“ (PKK) und deren zwielichtige Splittergruppe „Die Falken Kurdistans“, bis zu Linksextremisten – lässt auf die explosive Sicherheitssituation in der heutigen Türkei schließen.
Es ist nach Erkenntnissen der türkischen Behörden bereits der vierte Anschlag des IS in diesem Jahr und er ereignete sich wenige Stunden, nachdem Präsident Erdogan eine Neuordnung seiner konfliktbeladenen Außenpolitik bekanntgab: Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen mit Israel – dem Erzfeind des IS – und Aussöhnung mit Russland, dessen Luftwaffe IS-Positionen seit Monaten bombardieren.  Vielleicht aber wählte der IS den 28. Juni, den Vorabend des zweiten Jahrestages der Proklamation seines „Kalifats“, bewusst für diesen Massenmord aus, um der Welt seine unvermindert tödliche Gefahr zu demonstrieren. Am 29. Juni 2014 hatte die Terrormiliz nach rasanten Geländegewinnen in Syrien und im Irak die Spitze ihrer Macht erreicht und begann einen Proto-Terrorstaat auf syrischem und irakischem Territorium zu errichten.  Zwei Jahre später zerbröckelt ihr Reich und damit verfliegt der Traum von einer großen politischen Neuordnung im Mittleren Osten nach den menschenverachtenden Grundprinzipien dieser Terrorbande.
Mit intensiver Hilfe der von den USA geführten Anti-IS-Allianz, sowie auch der russischen Luftwaffe gelangen syrischen, insbesondere kurdischen Bodentruppen und irakischen Einheiten entscheidende Geländegewinne in beiden Ländern. Das Herrschaftsgebiet des IS schrumpft laut US-Verteidigungsministerium um 40 Prozent im Irak und 25 Prozent in Syrien. Zuletzt verlor der IS die strategisch wichtige Stadt Falludscha im Irak und die Befreiung Mosuls, Iraks 2014 vom IS eroberten zweitgrößten Stadt, rückt immer näher.  In Syrien läuft – vorerst etwas stockend zwar – die Offensive gegen Rakka, die „Hauptstadt“ des IS und Manbidsch. Gelingt es, den IS von dieser nordsyrischen Stadt zu verjagen, dann ist das letzte Tor für ausländische IS-Kämpfer zur Türkei geschlossen. Seit mehr als einem Jahr starteten die Jihadis keine größere militärische Offensive mehr. Diese zunehmende militärische Schwäche zwingt den IS zum Umdenken. „Weiche (nicht-militärische) Ziele“ in Europa und zunehmend auch in den Nachbarstaaten, die durch eine möglichst hohe Zahl ziviler Opfer Angst und Schrecken verbreiten, sind die neue Strategie. So traf  ihr Terror in den vergangenen Tagen auch den Libanon und Jordanien. Die Türkei aber dürfte künftig das Hauptziel sein.
Erdogan erntet nun die Früchte eines fatalen Doppelspiels. Lange ließ er die Grenze nach Syrien für IS-Jihadis und ausländische Kämpfer offen, gewährte Verwundeten der Terrormiliz in der Türkei medizinische Hilfe und ließ den intensiven und für den IS höchst lukrativen Schmuggel von Öl und Antiquitäten aus Syrien zu. IS-Jihadis fanden in großen Zahlen in der Türkei Unterschlupf. Offiziell schätzte Erdogan PKK und PYD  als ebenso gefährliche „Terroristen“ ein wie den IS.
Nachdem die kurdische HDP im Vorjahr erstmals ins Parlament einzog und seine Machtansprüche nicht unterstützte, brach er den langjährigen Friedensprozess mit der PKK ab und erklärte die PKK und die ihr nahestehende syrisch-kurdische (PYD) – der wichtigste Verbündete des Westens im Kampf gegen den IS – zu den Erzfeinden der Türkei. Unter dem Vorwand, den IS zu bekämpfen, nützte er die türkische NATO-Basis Incirlik für massive Luftangriffe gegen  PKK, PYD und deren militärischen Arm YPG. Mit teilweisem Erfolg gelang es ihm, die USA von einer direkten militärischen Hilfe an die YPG abzuhalten. Hätte die türkische Armee nicht wiederholt intensiv YPG-Positionen attackiert, wären die Kurden zweifellos im Kampf gegen den IS noch viel erfolgreicher gewesen. Zugleich führte die türkische Armee im Schatten des Anti-IS-Krieges in kurdischen Städten Südostanatoliens ungeheuer brutale Militäraktionen durch, bei denen mehr als 200 Zivilisten ums Leben kamen und ganze Stadtviertel zerstört wurden.
Die Wende in den komplizierten Beziehungen mit dem IS kam vor etwa einem Jahr, als Erdogan massivem Druck des Westens nachgab und Incirlik für NATO-Einsätze gegen den IS in Syrien und im Irak öffnete. Damit begannen die ersten größeren Erfolge der Anti-Terror-Allianz gegen den IS. Die Organisation erklärte daraufhin Erdogan zum „Feind aller Muslime“ und damit zum „legitimen“ Terrorziel. Je mehr der IS die Fähigkeit verliert, erobertes Land zu verteidigen, desto mehr wird er „weiche“ und symbolische Ziele attackieren. Die Türkei dürfte dabei für absehbare Zeit ein Hauptziel sein.

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