Die Türkei – lange de-facto Erfüllungsgehilfe des „Islamischen
Staates“ wird nun als Folge fataler Strategiefehler zu seinem Hauptziel
von Birgit Cerha
Eine Höchstzahl an zivilen Opfern – das ist das Hauptziel der
mörderischen internationalen Strategie der Terrormiliz des „Islamischen
Staates“ (IS). Mit 41 Toten und weit über hundert Verletzten zählt der
Anschlag auf den Istanbuler Flughafen zum blutigsten der vergangenen
Jahre in der Türkei. Und, wiewohl sich bisher niemand zu den Morden
bekannte, hegen die türkischen Behörden, wie westliche Experten keine
Zweifel, dass diese Bluttaten die Handschrift des IS tragen,
professionell geplant und kaltblütig ausgeführt. Dass es dennoch in den
Augen der türkischen Behörden nicht an möglichen Täterkreisen mangelt –
von radikalen Islamisten über die „Arbeiterpartei Kurdistan“ (PKK) und
deren zwielichtige Splittergruppe „Die Falken Kurdistans“, bis zu
Linksextremisten – lässt auf die explosive Sicherheitssituation in der
heutigen Türkei schließen.
Es ist nach Erkenntnissen der türkischen Behörden bereits der
vierte Anschlag des IS in diesem Jahr und er ereignete sich wenige
Stunden, nachdem Präsident Erdogan eine Neuordnung seiner
konfliktbeladenen Außenpolitik bekanntgab: Wiederaufnahme der
diplomatischen Beziehungen mit Israel – dem Erzfeind des IS – und
Aussöhnung mit Russland, dessen Luftwaffe IS-Positionen seit Monaten
bombardieren. Vielleicht aber wählte der IS den 28. Juni, den Vorabend
des zweiten Jahrestages der Proklamation seines „Kalifats“, bewusst für
diesen Massenmord aus, um der Welt seine unvermindert tödliche Gefahr zu
demonstrieren. Am 29. Juni 2014 hatte die Terrormiliz nach rasanten
Geländegewinnen in Syrien und im Irak die Spitze ihrer Macht erreicht
und begann einen Proto-Terrorstaat auf syrischem und irakischem
Territorium zu errichten. Zwei Jahre später zerbröckelt ihr Reich und
damit verfliegt der Traum von einer großen politischen Neuordnung im
Mittleren Osten nach den menschenverachtenden Grundprinzipien dieser
Terrorbande.
Mit intensiver Hilfe der von den USA geführten Anti-IS-Allianz,
sowie auch der russischen Luftwaffe gelangen syrischen, insbesondere
kurdischen Bodentruppen und irakischen Einheiten entscheidende
Geländegewinne in beiden Ländern. Das Herrschaftsgebiet des IS schrumpft
laut US-Verteidigungsministerium um 40 Prozent im Irak und 25 Prozent
in Syrien. Zuletzt verlor der IS die strategisch wichtige Stadt
Falludscha im Irak und die Befreiung Mosuls, Iraks 2014 vom IS eroberten
zweitgrößten Stadt, rückt immer näher. In Syrien läuft – vorerst etwas
stockend zwar – die Offensive gegen Rakka, die „Hauptstadt“ des IS und
Manbidsch. Gelingt es, den IS von dieser nordsyrischen Stadt zu
verjagen, dann ist das letzte Tor für ausländische IS-Kämpfer zur Türkei
geschlossen. Seit mehr als einem Jahr starteten die Jihadis keine
größere militärische Offensive mehr. Diese zunehmende militärische
Schwäche zwingt den IS zum Umdenken. „Weiche (nicht-militärische) Ziele“
in Europa und zunehmend auch in den Nachbarstaaten, die durch eine
möglichst hohe Zahl ziviler Opfer Angst und Schrecken verbreiten, sind
die neue Strategie. So traf ihr Terror in den vergangenen Tagen auch
den Libanon und Jordanien. Die Türkei aber dürfte künftig das Hauptziel
sein.
Erdogan erntet nun die Früchte eines fatalen Doppelspiels. Lange
ließ er die Grenze nach Syrien für IS-Jihadis und ausländische Kämpfer
offen, gewährte Verwundeten der Terrormiliz in der Türkei medizinische
Hilfe und ließ den intensiven und für den IS höchst lukrativen Schmuggel
von Öl und Antiquitäten aus Syrien zu. IS-Jihadis fanden in großen
Zahlen in der Türkei Unterschlupf. Offiziell schätzte Erdogan PKK und
PYD als ebenso gefährliche „Terroristen“ ein wie den IS.
Nachdem die kurdische HDP im Vorjahr erstmals ins Parlament einzog
und seine Machtansprüche nicht unterstützte, brach er den langjährigen
Friedensprozess mit der PKK ab und erklärte die PKK und die ihr
nahestehende syrisch-kurdische (PYD) – der wichtigste Verbündete des
Westens im Kampf gegen den IS – zu den Erzfeinden der Türkei. Unter dem
Vorwand, den IS zu bekämpfen, nützte er die türkische NATO-Basis
Incirlik für massive Luftangriffe gegen PKK, PYD und deren
militärischen Arm YPG. Mit teilweisem Erfolg gelang es ihm, die USA von
einer direkten militärischen Hilfe an die YPG abzuhalten. Hätte die
türkische Armee nicht wiederholt intensiv YPG-Positionen attackiert,
wären die Kurden zweifellos im Kampf gegen den IS noch viel
erfolgreicher gewesen. Zugleich führte die türkische Armee im Schatten
des Anti-IS-Krieges in kurdischen Städten Südostanatoliens ungeheuer
brutale Militäraktionen durch, bei denen mehr als 200 Zivilisten ums
Leben kamen und ganze Stadtviertel zerstört wurden.
Die Wende in den komplizierten Beziehungen mit dem IS kam vor etwa
einem Jahr, als Erdogan massivem Druck des Westens nachgab und Incirlik
für NATO-Einsätze gegen den IS in Syrien und im Irak öffnete. Damit
begannen die ersten größeren Erfolge der Anti-Terror-Allianz gegen den
IS. Die Organisation erklärte daraufhin Erdogan zum „Feind aller
Muslime“ und damit zum „legitimen“ Terrorziel. Je mehr der IS die
Fähigkeit verliert, erobertes Land zu verteidigen, desto mehr wird er
„weiche“ und symbolische Ziele attackieren. Die Türkei dürfte dabei für
absehbare Zeit ein Hauptziel sein.
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