Nach schweren militärischen Rückschlägen in ihren Kerngebieten Syriens und des Iraks sucht die Terrormiliz neue Strategien
von Birgit Cerha
Die Bluttaten von Orlando und Paris bieten der Terrormiliz des
„Islamischen Staates“ (IS) hochwillkommenen Anlass, sich in einem
kritischen Zeitpunkt des Jihadi-Kriegs in Schadenfreude zu weiden und
die schwer angeschlagene Moral seiner Kämpfer in Syrien und im Irak zu
stärken. Denn nach einer Serie empfindlicher militärischer Rückschläge
steckt der IS in seiner tiefsten Krise seit er sich in den vergangenen
zwei Jahren von einem regionalen Quälgeist zu einer militärischen Kraft
von globaler Relevanz aufgebaut hat. An zahlreichen Fronten des 2014
von IS-Führer Abu Bakr al-Baghdadi ausgerufenen „Kalifats“, das sich vom
Westirak bis zur syrisch-libanesischen Grenze erstreckt, geraten die
Jihadis unter massiven Druck durch seine militärisch erstarkenden, von
der Luftwaffe der westlichen Allianz und Russlands unterstützten lokalen
Gegner.
Während der IS nach Schätzungen in den vergangenen Monaten 45
Prozent des von ihm eroberten Territoriums im Irak und 20 Prozent in
Syrien verlor und wichtige Verbindungsstraßen zwischen der „Hauptstadt“
des „Kalifats“, Rakka in Syrien und der 2014 eroberten zweitgrößten
irakischen Stadt Mosul unterbrochen sind, nimmt auch der Zustrom
ausländischer Kämpfer stark ab und zugleich die Zahl der Desertionen
aufgrund der wiederholten militärischen Niederlagen stark zu. Weil die
Terrorgruppe wichtige Ölquellen in Syrien verlor, der Schmuggel von Öl
in die Türkei weitgehend unterbunden ist und sich von der
kriegserschöpften Bevölkerung immer weniger Geld erpressen lässt, geriet
der IS in finanzielle Schwierigkeiten und musste die der Kämpfer
halbieren. Durch wiederholte US-Bombardierungen von Lagerstätten für
Bargeld gingen ihm Hunderte Millionen Dollar verloren. Zudem schränkt
der Vormarsch feindlicher Milizen den Manövrierraum des IS für
Gegenoffensiven stark ein. Die hochfliegenden Pläne für ein die
arabische Welt umfassendes „Kalifat“ sind ins Reich der Illusion
verflogen.
Mehrgleisige Offensiven bedrohen derzeit mindestens drei der
wichtigsten IS-Hochburgen – Rakka und Nord-Aleppo, eines der dichtest
besiedelten Gebiete unter IS-Kontrolle in Syrien, sowie Falludscha im
Irak. Eine Offensive von Pro-Assad-Kämpfern versucht, die Verbindung
zwischen Rakka und dem nördlichen Aleppo zu unterbrechen. Der Verlust
dieser wichtigen Schmuggelroute wäre ein schwerer Schlag für die
Terrorgruppe. Die „Syrischen Demokratischen Truppen“ (SDT) unter
Führung der „Kurdischen Selbstverteidigungs…“ (YPD) rückten Ende Mai
bis an die Außenbezirke Rakkas vor. Doch der weitere Vormarsch wurde
zunächst gestoppt, um die arabischen Kämpfer der von den USA aufgebauten
Truppe erst militärisch auf den Sturm Rakkas vorzubereiten. Der Verlust
seiner „Hauptstadt“ Rakka wäre für den IS von vernichtender
symbolischer und strategischer Bedeutung. Deshalb entschied er sich, dem
starken Druck nicht – wie in ähnlichen Situationen zuvor – kampflos zu
weichen, sondern seine Hochburgen mit allen Mitteln zu verteidigen. So
zog Baghdadi seine Jihadis aus den angrenzenden Dörfern für den
Verteidigungskampf in die Städte und hält die Zivilbevölkerung als
Geiseln. Massenhafter Tod unschuldiger Menschen ist zentraler Teil der
apokalyptischen IS-Strategie.
Doch ungeachtet der harten militärischen Schläge gegen ihn, bleibt
der IS eine höchst gefährliche Terrororganisation, die sich ihr
Überleben durch erstaunliche Widerstandsfähigkeit und strategische
Flexibilität sichert und immer noch von der anhaltenden Zerstrittenheit
ihrer Gegner profitiert. Die konventionelle Kriegstaktik, mit der der IS
seit 2014 große Gebiete in Syrien und im Irak eroberte, dürfte nach
Ansicht von Experten angesichts des starken Ansturms seiner Gegner nun
versagen. Eine Rückkehr zur Rebellentaktik der Anfänge des IS zeichnet
sich bereits ab: verstärkter Terror, Bombenexplosionen,
Selbstmordattentate und das Schüren eines konfessionellen Krieges
zwischen arabischen Sunniten und Schiiten, wie bereits in Bagdad
praktiziert. So ließe sich die sunnitische Bevölkerungsgruppe weiter
einschüchtern und damit bei der Stange halten. Nur wenn es gelänge, die
Sunniten in Syrien wie im Irak durch politische Verständigung von ihren
Ängsten und Nöten zu befreien, könnte der IS besiegt werden.
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