Donnerstag, 16. Juni 2016

Der „Islamische Staat“ in der Defensive

Nach schweren militärischen Rückschlägen in ihren Kerngebieten Syriens und des Iraks sucht die Terrormiliz neue Strategien

 
von Birgit Cerha
 
Die Bluttaten von Orlando und Paris bieten der Terrormiliz des „Islamischen Staates“ (IS)  hochwillkommenen Anlass, sich in einem kritischen Zeitpunkt des Jihadi-Kriegs in Schadenfreude zu weiden und die schwer angeschlagene Moral seiner Kämpfer in Syrien und im Irak zu stärken. Denn nach einer Serie empfindlicher militärischer Rückschläge steckt der IS in seiner tiefsten Krise seit er sich in den vergangenen zwei Jahren von einem regionalen Quälgeist zu einer militärischen Kraft von globaler Relevanz aufgebaut hat.  An zahlreichen Fronten des 2014 von IS-Führer Abu Bakr al-Baghdadi ausgerufenen „Kalifats“, das sich vom Westirak bis zur syrisch-libanesischen Grenze erstreckt, geraten  die Jihadis unter massiven Druck durch seine militärisch erstarkenden, von der Luftwaffe der westlichen Allianz und Russlands unterstützten lokalen Gegner.
Während der IS nach Schätzungen in den vergangenen Monaten 45 Prozent des von ihm eroberten Territoriums im Irak und 20 Prozent in Syrien verlor und wichtige Verbindungsstraßen zwischen der „Hauptstadt“ des „Kalifats“, Rakka in Syrien und der 2014 eroberten zweitgrößten irakischen Stadt Mosul unterbrochen sind, nimmt auch der Zustrom ausländischer Kämpfer stark ab und zugleich die Zahl der Desertionen aufgrund der wiederholten militärischen Niederlagen stark zu. Weil die Terrorgruppe wichtige Ölquellen in Syrien verlor, der Schmuggel von Öl in die Türkei weitgehend unterbunden ist und sich von der kriegserschöpften Bevölkerung immer weniger Geld erpressen lässt, geriet der IS in finanzielle Schwierigkeiten und musste die der Kämpfer halbieren. Durch wiederholte US-Bombardierungen von Lagerstätten für Bargeld gingen ihm Hunderte Millionen Dollar verloren. Zudem schränkt der Vormarsch feindlicher Milizen den Manövrierraum des IS für Gegenoffensiven stark ein. Die hochfliegenden Pläne für ein die arabische Welt umfassendes „Kalifat“ sind ins Reich der Illusion verflogen.
Mehrgleisige Offensiven bedrohen derzeit mindestens drei der wichtigsten IS-Hochburgen – Rakka und Nord-Aleppo, eines der dichtest besiedelten Gebiete unter IS-Kontrolle in Syrien, sowie Falludscha im Irak. Eine Offensive von Pro-Assad-Kämpfern versucht, die Verbindung zwischen Rakka und dem nördlichen Aleppo zu unterbrechen. Der Verlust dieser wichtigen Schmuggelroute wäre ein schwerer Schlag für die Terrorgruppe.  Die „Syrischen Demokratischen Truppen“ (SDT) unter Führung der „Kurdischen Selbstverteidigungs…“ (YPD)  rückten Ende Mai bis an die Außenbezirke Rakkas vor. Doch der weitere Vormarsch wurde zunächst gestoppt, um die arabischen Kämpfer der von den USA aufgebauten Truppe erst militärisch auf den Sturm Rakkas vorzubereiten. Der Verlust seiner „Hauptstadt“ Rakka wäre für den IS von vernichtender symbolischer und strategischer Bedeutung. Deshalb entschied er sich, dem starken Druck nicht – wie in ähnlichen Situationen zuvor – kampflos zu weichen, sondern seine Hochburgen mit allen Mitteln zu verteidigen. So zog Baghdadi seine Jihadis aus den angrenzenden Dörfern für den Verteidigungskampf in die Städte und hält die Zivilbevölkerung als Geiseln. Massenhafter Tod unschuldiger Menschen ist zentraler Teil der apokalyptischen IS-Strategie.
Doch ungeachtet der harten militärischen Schläge gegen ihn,  bleibt der IS eine höchst gefährliche Terrororganisation, die sich ihr Überleben durch erstaunliche Widerstandsfähigkeit und strategische Flexibilität sichert und immer noch von der anhaltenden Zerstrittenheit ihrer Gegner profitiert. Die konventionelle Kriegstaktik, mit der der IS seit 2014 große Gebiete in Syrien und im Irak eroberte, dürfte nach Ansicht von Experten angesichts des starken Ansturms seiner Gegner nun versagen. Eine Rückkehr zur Rebellentaktik der Anfänge des IS zeichnet sich bereits ab:  verstärkter Terror, Bombenexplosionen, Selbstmordattentate und das Schüren eines konfessionellen Krieges zwischen arabischen Sunniten und Schiiten, wie bereits in Bagdad praktiziert. So ließe sich die sunnitische Bevölkerungsgruppe weiter einschüchtern und damit bei der Stange halten. Nur wenn es gelänge, die Sunniten in Syrien wie im Irak durch politische Verständigung  von ihren Ängsten und Nöten zu befreien, könnte der IS besiegt werden.

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