Der Sturm des irakischen Parlaments durch schiitische
Demonstranten ist Anzeichen für einen Zerfall des gesamten politischen
Systems
von Birgit Cerha
Die gefährlichste politische Krise, die den Irak seit Jahren
heimsucht, hat sich am Wochenende weiter verschärft. In Bagdad herrscht
der Notstand, nachdem Samstag aufgebrachte Anhänger des schiitischen
Geistlichen Muktada Sadr die „Grüne Zone“, das hochgesicherte
Regierungsviertel, und das Parlament gestürmt hatten. Die Demonstranten
schwenkten irakische Fahnen, einige randalierten im Parlamentsgebäude
und attackierten Abgeordnete. Zahlreiche Demonstranten setzten ihre
Proteste Sonntag im Regierungsviertel fort.
Die nach dem Sturz von Diktator Saddam Hussein 2003 über etwa zehn
Quadratkilometer errichtete, hochgesicherte „Grüne Zone“ beherbergt die
Regierungsgebäude, das Parlament, ausländische Botschaften, UN-Büros und
die meisten politischen Führer. Dass es Demonstranten erstmals gelang,
die Mauern und die starken Sicherheitsvorkehrungen zu überwinden,
während die Sicherheitskräfte teilweise dem Geschehen tatenlos zusahen,
gilt zugleich als bedrohliches Anzeichen für den Zerfall des gesamten
politischen Systems.
Tausende Anhänger Sadrs halten seit 27. März vor dem
Regierungsviertel Sitzstreiks ab, um Premier Abadi zu grundlegenden
politischen Reformen, einer Verbesserung der staatlichen Versorgung und
einem energischen Kampf gegen Korruption zu zwingen. Die Situation war
Samstag eskaliert, als das Parlament erneut nicht über eine von Abadi
vorgeschlagene Regierungsumbildung abstimmte. Unter Druck der
Sadr-Strömung hatte Abadi bereits vor Tagen dem Parlament die Bildung
einer Technokraten-Regierung vorgeschlagen. Die Abgeordneten billigten
einige Minister, verweigern jedoch die Umbesetzung von
Schlüsselpositionen. Dem Konflikt zugrunde liegt das nach 2003 mit
US-Hilfe aufgebaute Proporz- und Klientelsystem, das den diversen
ethnischen und konfessionellen Bevölkerungsgruppen, sowie politischen
Gruppierungen wichtige Positionen in Politik und Staat garantiert,
zugleich aber als Hauptursache für die weitverbreitete Korruption und
einen gravierenden politischen Stillstand gilt. Mehrere Parteien,
darunter arabisch-sunnitische und kurdische, weigern sich aus Angst vor
Diskriminierung durch die schiitische Bevölkerungsmehrheit, die
Kontrolle über wichtige Ministerien aufzugeben. Der Schiit Abadi ist
zwar um den für die Stabilität des Iraks so dringend nötigen nationalen
Konsens bemüht, ist jedoch politisch zu schwach, um dies auch
durchzusetzen.
Durch Massendemonstrationen versucht nun Sadr, Abadi unter Druck zu
setzen, sich zugleich nach längerem Rückzug aus der aktiven Politik zum
„Retter des Iraks“ zu erheben. Nach dem US-Einmarsch im Irak 2003 war
der rebellische Geistliche zum wichtigsten politischen und militärischen
Anführer der Schiiten aufgestiegen und hatte jahrelang mit seiner
„Mahdi-Armee“ den US-Truppen gewaltsamen Widerstand geleistet. Zugleich
trugen seine Milizionäre große Verantwortung für den das Land
heimsuchenden Krieg zwischen Schiiten und arabischen Sunniten und an
zahllosen Gräueltaten auch gegen Zivilisten. Unterdessen hat sich Sadr
gemäßigt, bemüht sich intensiv, eine neue Strömung über Partei- und
Konfessionsgrenzen hinaus aufzubauen und präsentiert sich als
entschlossener irakischer Nationalist. Er versucht, eine „Nationale
Einheitsplattform“ aufzubauen, um das derzeitige korrupte politische
System zu ersetzen. Dass er dabei auch nicht vor dem Sturz Abadis
zurückschreckt, deutete er mehrmals an.
Sadr aber spielt ein gefährliches Spiel. Bricht die Sicherheit in
Bagdad zusammen, erhält die Terrormiliz des „Islamischen Staates“ (IS),
die trotz jüngster Niederlagen immer noch Iraks zweitgrößte Stadt Mosul
und weite Landesteile kontrollieren, neue Chancen für weitere
Geländegewinne. Schon nutzten die Terroristen die Turbulenzen der
vergangenen Tage in Bagdad, um ein Blutbad unter schiitischen Pilgern
östlich der Hauptstadt anzurichten.
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