Hundert Jahre nach Abschluss des Sykes-Picot-Abkommens droht der ungerechten nahöstlichen Ordnung ein noch gefährlicheres Ende
von Birgit Cerha
Gegen
Mittag des 16. Dezember 1915 eilte ein vielversprechender junger
Politiker in die Londoner Downing Street, um das Kriegskabinett in einer
höchst gefährlichen Frage zu beraten. Das 600-jährige Osmanische Reich
begann zu bröckeln und ein Konflikt über das künftige Erbe drohte die
fragile britisch-französische Allianz zu zerreißen. Sir Mark Sykes,
bekannt durch Publikationen über den Orient, präsentierte auf drei
Blättern zusammengefasste Ideen und eine Landkarte, auf der er eine
dicke Bleistiftlinie von der Mittelmeerküste durch die Wüste bis zur
persischen Grenze gezogen hatte. Seine Ideen bildeten die Basis für
monatelange Verhandlungen mit dem französischen Diplomaten George-Picot
und schließlich für ein Geheimabkommen, das beide am 16. Mai 2016
schlossen.
Wiewohl der
Konsul in Beirut,George-Picot, die arabische Welt weit besser verstand
als sein britischer Partner, teilte er Sykes` Überzeugung, dass es für
die Völker des Nahen Ostens kein besseres Schicksal gäbe, als Untertanen
europäischer Weltreiche zu werden. Er glaubte fest an die imperiale
Zivilisierungsmission Frankreichs. Das Geheimabkommen der beiden ging in
der Region aber als ein schändlicher eigennütziger Pakt in die
Geschichte ein, der darauf abzielte, den Arabern den Wiederaufstieg zu
einstiger Größe zu verwehren. Für die völlig ignorierten Kurden ist es
die Wurzel einer nationalen Tragödie ohne Ende. Arabern, Kurden und
vielen Minderheiten gilt Sykes-Picot als Grundübel, das dem Nahen Osten
hundert Jahre Blut, Wirrnisse und Demütigungen bescherte – und dies
heute mehr denn je.
So
verwundert es nicht, dass die Terrormiliz des „Islamischen Staates“ (IS)
im Juni 2014 als Propagandacoup Fotos eines Bulldozers twitterte, der
einen die Grenze zwischen Irak und Syrien bildenden Erdwall durchstieß.
Die Botschaft: Der IS hat die Kraft, dieser verhassten Ordnung ein Ende
zu setzen.
Die Grenzen, die Sykes und Picot zogen, entsprechen nur teilweise den heutigen. Danach
sollte Großbritannien die volle Kontrolle über Mesopotamien erhalten,
von Bagdad im Norden, über Basra bis zur gesamten Ostküste der
Arabischen Halbinsel; Frankreich die Herrschaft über die
Mittelmeerküste, von Haifa und der südlichen Türkei bis ins Innere
Anatolien. Im Gebiet von Kirkuk bis Gaza beanspruchte Großbritannien
eine informelle Einflusssphäre und Frankreich in der Region zwischen
Mosul, Aleppo und Damaskus. Palästina sollte zunächst international
verwaltet werden und als Anreiz zur Weiterführung des Krieges gegen
Deutschland würde Russlands Annexion der jüngst von seiner Armee
eroberten Gebiete um Erzurum, den Schwarzmeer-Hafen Trabzon, Van und
Bitlis anerkannt werden.
Kein
Vertreter der lokalen Bevölkerungen saß am Verhandlungstisch. Die
Grenzziehung berücksichtigte weder Geografie, Topografie, noch Ethnien,
Religionszugehörigkeit, Sprache oder Stämme. Das Abkommen blieb geheim.
Als es das revolutionäre Russland nach dem Sturz des Zaren 1917 publik
machte, brach ein Sturm der Empörung los. Während Sykes-Picot London
und Paris vor einem Beutekrieg bewahrte, sahen Araber, wie der
Historiker George Antonius, dieses „schockierende Dokument“ als „Produkt
der schlimmsten Gier“ und eines „erschreckenden Doppelspiels“, hatten
die Briten doch dem Haschemiten-Sherif Hussein von Mekka für den Kampf
gegen die Osmanen ein unabhängiges Königreiches versprochen und dann das
dafür vorgesehene Gebiet unter ihre Kontrolle gebracht. Der
außenpolitische Berater US-Präsident Woodrow Wilsons, Edward House, warf
London und Paris vor, „einen Brutplatz für künftige Kriege“ zu
schaffen. Für die Araber symbolisiert Sykes-Picot vor allem den Geist
des Kolonialismus und des Verrats, der bis heute ihre Heimatregion
quält.
„Sykes-Picot“ wurde
mehrmals revidiert. Der 1920 gegründete „Völkerbund“ zwang Paris und
London, die eroberten Gebiete unter ein „Mandat“ zu stellen, das sie
verpflichtete, die Bevölkerung auf selbständige Verwaltung und rasche
Unabhängigkeit vorzubereiten, die sie allerdings erst nach dem Zweiten
Weltkrieg erhielten. Bei der Neugestaltung der Region spielte die britische Orientexpertin Gertrude Belle eine Schlüsselrolle. Belle, die jahrelang arabische Stämme im „Fruchtbaren
Halbmond“ studiert hatte, entwarf die Grenzen des heutigen Irak,
überredete London, den Sohn des von England verratenen Sherif Hussein,
Faisal, als König in Bagdad einzusetzen. Gleichzeitig bewog sie London,
im erbitterten Kampf der Stämme um die Kontrolle der Arabischen
Halbinsel nicht auf die seit tausend Jahren in Mekka und regierenden
Haschemiten zu setzen, sondern
auf den brutalen und im Kampf zunehmend erfolgreichen Stammesführer
Abdel Aziz ibn Saud. Großzügige monatliche Zuwendungen des Londoner
Schatzamtes ermöglichten Ibn Saud schließlich die Gründung des
Königreiches.
Weder Paris noch London wurden
dem Auftrag des Völkerbundes zur Staatenbildung gerecht. Auf welch
schwachen Beinen die von ihnen gegründeten Staaten standen, zeigte sich
im 15-jährigen Bürgerkrieg im Libanon (1975 – 90), der dieses staatliche
Gebilde vollends zerstörte, ebenso im Irak nach dem Krieg gegen
Diktator Saddam Hussein 2003 und gegenwärtig in dem sich zu Tode
blutenden Syrien.
Die
verhasste Sykes-Picot-Ordnung gab einem teils radikalen arabischen
Nationalismus Auftrieb, der durch wiederholte staatliche
Einigungsversuche das Diktat der Kolonialmächte zu vernichten suchte.
Stets vergeblich. Bis heute blieben die Grenzen unberührt – eine
schlechte Ordnung, für die niemand eine bessere Alternative fand. Und
niemand erwog ernsthaft, das größte historische Unrecht, das die
Weltmächte in der Region anrichteten, zu korrigieren, den Kurden, diesem
größten Volk der Welt ohne Staat, das Grundrecht auf Selbstbestimmung
zu gewähren.
Die
Mandatsmächte hatten Regime aufgebaut, die nur mit Repression ihre
Länder zusammenhielten und sie haben sie auch weiterhin unterstützt, als
die Herrscher ihre Nationalstaaten wie ihren Privatbesitz verwalteten.
Diese „schlechte Ordnung“ beginnt nun zu zerfallen und damit wächst die
Erkenntnis, dass es möglicherweise für viele keine bessere Alternative
gibt. Der Nahe Osten steht erst am Beginn einer Periode von Turbulenzen,
die Sykes-Picot vielleicht vollends vernichten und kein Land unberührt
lassen werden.
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