Montag, 9. Mai 2016

Der Bleistiftstrich der Kolonialisten im Wüstensand


Hundert Jahre nach Abschluss des  Sykes-Picot-Abkommens  droht der ungerechten nahöstlichen Ordnung  ein noch gefährlicheres Ende

von Birgit Cerha
Gegen Mittag des 16. Dezember 1915 eilte ein vielversprechender junger Politiker in die Londoner Downing Street, um das Kriegskabinett in einer höchst gefährlichen Frage zu beraten. Das 600-jährige Osmanische Reich begann zu bröckeln und ein Konflikt über das künftige Erbe drohte die fragile britisch-französische Allianz zu zerreißen. Sir Mark Sykes, bekannt durch Publikationen über den Orient, präsentierte auf drei Blättern zusammengefasste Ideen und eine Landkarte, auf der er eine dicke Bleistiftlinie von der Mittelmeerküste durch die Wüste bis zur persischen Grenze gezogen hatte. Seine Ideen bildeten die Basis für monatelange Verhandlungen mit dem französischen Diplomaten George-Picot und schließlich für ein Geheimabkommen, das beide am 16. Mai 2016 schlossen.
Wiewohl  der Konsul in Beirut,George-Picot, die arabische Welt weit besser verstand als sein britischer Partner, teilte er Sykes` Überzeugung, dass es für die Völker des Nahen Ostens kein besseres Schicksal gäbe, als Untertanen europäischer Weltreiche zu werden. Er glaubte fest an die imperiale Zivilisierungsmission Frankreichs. Das Geheimabkommen der beiden ging in der Region aber als ein schändlicher eigennütziger Pakt in die Geschichte ein, der darauf abzielte, den Arabern den Wiederaufstieg zu einstiger Größe zu verwehren. Für die völlig ignorierten Kurden ist es die Wurzel einer nationalen Tragödie ohne Ende. Arabern, Kurden und vielen Minderheiten gilt Sykes-Picot als Grundübel, das dem Nahen Osten hundert Jahre Blut, Wirrnisse und Demütigungen bescherte – und dies heute mehr denn je.
So verwundert es nicht, dass die Terrormiliz des „Islamischen Staates“ (IS) im Juni 2014 als Propagandacoup Fotos eines Bulldozers twitterte, der einen die Grenze zwischen Irak und Syrien bildenden Erdwall durchstieß. Die Botschaft: Der IS hat die Kraft, dieser verhassten Ordnung ein Ende zu setzen.
Die Grenzen, die Sykes und Picot zogen, entsprechen nur teilweise den heutigen.  Danach sollte Großbritannien die volle Kontrolle über Mesopotamien erhalten, von Bagdad im Norden, über Basra bis zur gesamten Ostküste der Arabischen Halbinsel; Frankreich die Herrschaft über die Mittelmeerküste, von Haifa und der südlichen Türkei bis ins Innere Anatolien. Im Gebiet von Kirkuk bis Gaza beanspruchte Großbritannien eine informelle Einflusssphäre und Frankreich in der Region zwischen Mosul, Aleppo und Damaskus. Palästina sollte zunächst international verwaltet werden und als Anreiz zur Weiterführung des Krieges gegen Deutschland würde Russlands Annexion der jüngst von seiner Armee eroberten Gebiete um Erzurum, den Schwarzmeer-Hafen Trabzon, Van und Bitlis anerkannt werden.
Kein Vertreter der lokalen Bevölkerungen saß am Verhandlungstisch. Die Grenzziehung berücksichtigte weder Geografie, Topografie, noch Ethnien, Religionszugehörigkeit, Sprache oder Stämme. Das Abkommen blieb geheim. Als es das revolutionäre Russland nach dem Sturz des Zaren 1917 publik machte, brach ein Sturm der Empörung los. Während Sykes-Picot  London und Paris vor einem Beutekrieg bewahrte, sahen Araber, wie der Historiker George Antonius, dieses „schockierende Dokument“ als „Produkt der schlimmsten Gier“ und eines „erschreckenden Doppelspiels“, hatten die Briten doch dem Haschemiten-Sherif Hussein von Mekka für den Kampf gegen die Osmanen ein unabhängiges Königreiches versprochen und dann das dafür vorgesehene Gebiet unter ihre Kontrolle gebracht. Der außenpolitische Berater US-Präsident Woodrow Wilsons, Edward House, warf London und Paris vor, „einen Brutplatz für künftige Kriege“ zu schaffen. Für die Araber symbolisiert Sykes-Picot vor allem den Geist des Kolonialismus und des Verrats, der bis heute ihre Heimatregion quält.
 „Sykes-Picot“  wurde mehrmals revidiert. Der 1920 gegründete „Völkerbund“ zwang Paris und London, die eroberten Gebiete unter ein „Mandat“ zu stellen, das sie verpflichtete, die Bevölkerung auf selbständige Verwaltung und rasche Unabhängigkeit vorzubereiten, die sie allerdings erst nach dem Zweiten Weltkrieg erhielten.  Bei der Neugestaltung der Region spielte die britische Orientexpertin Gertrude Belle eine Schlüsselrolle.  Belle, die jahrelang arabische Stämme im  „Fruchtbaren Halbmond“ studiert hatte, entwarf die Grenzen des heutigen Irak, überredete London, den Sohn des von England verratenen Sherif Hussein, Faisal, als König in Bagdad einzusetzen. Gleichzeitig bewog sie London, im erbitterten Kampf der Stämme um die Kontrolle der Arabischen Halbinsel nicht auf die seit tausend Jahren in Mekka und regierenden Haschemiten zu setzen,  sondern auf den brutalen und im Kampf zunehmend erfolgreichen Stammesführer Abdel Aziz ibn Saud. Großzügige monatliche Zuwendungen des Londoner Schatzamtes ermöglichten Ibn Saud schließlich die Gründung des Königreiches.
Weder Paris noch London  wurden dem Auftrag des Völkerbundes zur Staatenbildung gerecht. Auf welch schwachen Beinen die von ihnen gegründeten Staaten standen, zeigte sich im 15-jährigen Bürgerkrieg im Libanon (1975 – 90), der dieses staatliche Gebilde vollends zerstörte, ebenso im Irak nach dem Krieg gegen Diktator Saddam Hussein 2003 und gegenwärtig in dem sich zu Tode blutenden Syrien.
Die verhasste Sykes-Picot-Ordnung gab einem teils radikalen arabischen Nationalismus Auftrieb, der durch wiederholte staatliche Einigungsversuche das Diktat der Kolonialmächte zu vernichten suchte. Stets vergeblich. Bis heute blieben die Grenzen unberührt – eine schlechte Ordnung, für die niemand eine bessere Alternative fand. Und niemand erwog ernsthaft, das größte historische Unrecht, das die Weltmächte in der Region anrichteten, zu korrigieren, den Kurden, diesem größten Volk der Welt ohne Staat, das Grundrecht auf Selbstbestimmung zu gewähren.
Die Mandatsmächte hatten Regime aufgebaut, die nur mit Repression ihre Länder zusammenhielten und sie haben sie auch weiterhin unterstützt, als die Herrscher ihre Nationalstaaten wie ihren Privatbesitz verwalteten. Diese „schlechte Ordnung“ beginnt nun zu zerfallen und damit wächst die Erkenntnis, dass es möglicherweise für viele keine bessere Alternative gibt. Der Nahe Osten steht erst am Beginn einer Periode von Turbulenzen, die Sykes-Picot vielleicht vollends vernichten und kein Land unberührt lassen werden.

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