Hundert Jahre nach dem Sykes-Picot-Abkommen fühlen sich die Kurden immer noch von den Weltmächten verraten
„Die
Realität“ habe das Modell der „erzwungenen Koexistenz“ falsifiziert. Die
Weltdiplomatie müsse dies endlich akzeptieren und die Grenzen im Nahen
Osten neu Ziehen, mahnte jüngst der Präsident der Kurdischen
Regionalregierung im Irak, Massoud Barzani mit Blick auf den hundertsten
Jahrestag des Geheimabkommens zwischen dem britischen Diplomaten Mark
Sykes und seinem französischen Kollegen Francois George-Picot. Am 16.
Mai 1916 hatten die beiden ein Geheimabkommen geschlossen, um das
zerfallende Osmanische Reich weitgehend unter den beiden Großmächten
aufzuteilen. Die Kurden, dieses größte Volk der Welt ohne Staat, wurden
dabei völlig ignoriert. Selbst Sykes, der durch Feldstudien in Kurdistan und eine wissenschaftliche Abhandlung über „The Kurdish Tribes of the Ottoman Empire“ intime Kenntnisse über dieses Volk erworben hatte, hegte wenig Sympathie für dessen Sehnsüchte nach Selbstverwaltung.
Im Zuge
der jahrelangen geopolitischen Umwälzungen des Ersten Weltkrieges bot
sich den Kurden niemals die Option eines eigenen Staates. Im besten Fall
hätten sie sich vielleicht unter eine Art von Großbritannien
gesponserte „Semi-Unabhängigkeit begeben können. Nach dem von späteren Verträgen abgelösten Sykes-Picot-Abkommen sollten Kurdenregionen des heutigen Syrien und der Türkei unter
französische Kontrolle gestellt, das Gebiet östlich des nord-irakischen
Kirkuk unter britische und der südöstlichste Türkei in einen
armenischen Staat eingegliedert werden. Der Status der in Persien
lebenden Kurden blieb unberührt.
Der
türkische Soziologe Ismail Besikci spricht von einer internationalen
„antikurdischen Ordnung“, die bis heute anhält. Der Status, den Groß-
und Regionalmächte den Kurden seit hundert Jahren zugestehen sei „noch
erniedrigender als jener einer Kolonie“. Zerrissen durch willkürlich
gezogene Grenzen, aufgeteilt auf vier Staaten (Türkei, Syrien, Irak und
Iran) erlitt und erleidet das kurdische Volk ein Dasein unter
Okkupation, die, in Kollaboration mit äußeren Mächten bis zu
genozidartige Ausmaße erreichte. Die Regionalmächte versuchten – und
versuchen teilweise bis heute – nicht nur die kurdische Identität zu
zerstören, sondern dieses Volk auch politisch zu vernichten. Die
internationale Gemeinschaft akzeptierte die Kurden nie als „Subjekt der
Politik“. Mit Ausnahme der Konferenz in Sevres 1920, als die die Kurden
vage Versprechungen eines ihrer geographischen Ausdehnung keineswegs
entsprechenden Staates erhielten, nahmen nie kurdische Repräsentanten an
den zahlreichen Konferenzen über die Gestaltung der Region teil. Diese
Haltung setzt sich heute fort. Syriens Kurden sind die wichtigsten
lokalen Partner des Westens im Bodenkampf gegen die Terrormiliz des
„Islamischen Staates“, mutig und bereit, ihr Leben zu geben. Doch von
der internationalen Konferenz über die Zukunft Syriens und die
Gestaltung ihres eigenen Schicksals bleiben sie ausgesperrt.
Politische Fehlentscheidungen, interne Rivalitäten und die Unfähigkeit, eine gemeinsame Position zu finden, trugen
dazu bei, dass sich die Kurden unter den Großmächten keinen
verlässlichen Partner für den Kampf um ihre Grundrechte sichern konnten. Bis
heute hält die internationale Gemeinschaft an den alten Grenzen fest.
So setzt sich eine große historische Ungerechtigkeit fort, verschärft
durch neue Methoden: Durch die Zerstörung von zahllosen kurdischen
Dörfern, sogar Städten (etwa Kobane) wird heute versucht, die
Grenzregion zwischen Syrien und der Türkei in eine von (kurdischem)
Leben ausgelöschte „Pufferzone“ zu verwandeln.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen