Donnerstag, 24. März 2016

Die Stunde der Kurden


von Birgit Cerha *
 

Mula Mustafa Barzani, den sogar europäische Kinder wie ich in den 1960er Jahren als Freiheitshelden bewundert hatten,… dieser legendäre Führer der irakischen Kurden, der 1979 in einem Krankenhaus in den USA an Krebs starb, so tragisch sein Lebenskampf in Trümmern….--- von Mula Mustafa Barzani stammt das Wort: die Kurden sind die „Waisen des Universums“., Sie kennen nur einen verlässlichen Freund: die Berge. Dort, im Nord-Irak, im Nord-West-Iran, in Südostanatolien fanden sie immer und immer wieder Schutz vor Verfolgung, vor Mord, vor Genozid, von dort aus konnten sie ihre Verteidigungs-, aber auch ihre Angriffsschläge gegen die übermächtigen Herrscher in Ankara, Bagdad und Teheran organisieren. Von dort aus konnte Barzani die schlagkräftige Armee des irakischen Staates beinahe in die Knie zwingen, bis ihn äußere Freunde und Helfer gnadenlos verrieten. So auch 1975, als der damalige US-Außenminister Henry Kissinger ohne Vorwarnung abrupt geheime amerikanische Militärhilfe an Barzani stoppte, um alte Grenzstreitigkeiten zwischen Iran und Irak beizulegen. Über Nacht stellten die Iraner ihre für die irakischen Kurden entscheidende Hilfe gegen Iraks Diktator Saddam Husein ein, der Aufstand brach zusammen und 250.000 Kurden, darunter auch Barzani, blieb nichts als die Flucht in den Iran. Tausende starben. Einst von Journalisten zu diesem Verrat an den Kurden befragt, antwortete der Weltpolitiker und spätere Friedensnobelpreisträger Kissinger: „Die CIA ist keine humanitäre Organisation“.
 
Die Erfahrung dieses „Verrates“ hat sich tief in die kurdische Seele eingebrannt. Wird er sich wiederholen – durch die USA,  durch die Nachbarn und vor allem auch durch die EU? Diese Frage könnte heute kaum aktueller sein.
Mit einem Schlag hatte sich diesem geschändeten Volk von insgesamt geschätzten 35 Millionen Menschen eine neue Perspektive geöffnet, ja sogar das jahrzehntelang Unvorstellbare erscheint plötzlich keine Illusion mehr: Selbstbestimmung, Selbstverwaltung,  vielleicht sogar ein eigener Staat. Nie zuvor besaß dieses größte Volk der Welt ohne Staat im Mittleren Osten so viel Einfluss wie heute. Kurden halten das Gleichgewicht der Kräfte im Irak und üben beträchtlichen Einfluss auf das Geschehen im blutigen syrischen Krieg aus. Plötzlich sehen sie sich umworben von der Supermacht USA und seit September zugleich auch von deren russischem Gegenspieler. Der Mittlere Osten steht in Aufruhr und die Kurden spielen eine Schlüsselrolle in der Neugestaltung der Region, ihre Forderungen können nicht mehr ungehört bleiben, ihr Schicksal nicht länger ignoriert werden. So zumindest sieht es heute aus.
Der gesamte Nahe Osten durchlebt ein politisches Erdbeben , eine radikale Umwälzung.  Wenn ich Diskussionen etwa im ORF oder auch im Privaten über die aktuelle Flüchtlingsproblematik verfolge, fällt mir zunehmend auf, dass häufig diese Krise fast ausschließlich mit Syrien in Zusammenhang gebracht wird. Wenn der Krieg gestoppt werden könne, so immer wieder vertretene Positionen, dann werde auch der Flüchtlingsstrom nach Europa versiegen.  In Wahrheit stehen wir erst am Anfang, andere Staaten werden Syrien folgen und ohnedies ist Syrien  nicht das einzige Land, das eine humanitäre Katastrophe gigantischen Ausmaßes durchleidet.  Dem Jemen ergeht es nichts anders und auch dort tragen äußere Mächte in ähnlicher Weise unglaubliche Mitschuld. Doch wer redet schon über den Jemen bei uns, trifft uns dieses Elend doch nicht direkt.
 
Was sich heute in der Region ereignet, nennt der amerikanische Syrienexperte Prof. Joshua Landis „The great sorting out“,  übersetzt etwa „das große Aussortieren. Um diese Entwicklung zu verstehen, müssen wir in die Zeit des Ersten Weltkrieges und die Zerschlagung des Osmanischen Reiches zurückgehen. Am 16. Mai 1916 trat ein Geheimabkommen des französischen Diplomaten Picot und des Briten Sykes zur Aufteilung der kolonialen Interessensgebiete im Nahen Osten in kraft. Großbritannien wurde die Herrschaft über ein Gebiet zuerkannt, das insgesamt etwa dem heutigen Jordanien, dem Irak und der Region um das heute israelische Haifa entspricht. Frankreich übernahm die Herrschaft über die Südost-Türkei, Syrien und den Libanon. Jedes Land konnte die Staatsgrenzen innerhalb seiner Einflusszonen frei bestimmen. Die Mandatsmächte zogen sie  ohne jegliche Rücksicht auf die lokale Bevölkerungsstruktur. Völker, Stämme, ja Familien wurden zerrissen. Als Grenze zwischen der Türkei und Syrien wurde die Berlin-Bagdad-Basra-Eisenbahlininie gewählt, die Dörfer teilte und Familien zerriss. Das traf vor allem Kurden, von denen viele in diesen Gebieten lebten und noch leben. So läuft die Grenze etwa durch die Städte Qamishli, der in der Türkei liegende Teil der Stadt heißt Nuseibin. Der auf syrischem Territorium liegenden Teil der kurdischen Grenzstadt  Kobane erhielt den arabischen Namen Ain al Arab, jener in der Türkei liegende heißt Suruc.
 
Die Grenzziehung, so stellt Joshua Landis fest, orientierte sich also nicht nach der in der Region lebenden Bevölkerung, sondern diese hatte sich an die Grenzen anzupassen.  Diese von der Pariser Friedenskonferenz 1919 bestätigte  Regelung gilt bis heute, obwohl sie seit langem heftig als „Diktat der Kolonialmächte“, als unrealistisches Projekt angefochten wird, das nicht überdauern könne, weil es zahlreiche Bevölkerungsgruppen zum Zusammenleben zwang und einige spaltete. Der Zusammenbruch dieses Systems wird seit langem vorhergesagt. Erst vor kurzem kritisierte der Präsident der Kurdischen Regionalregierung im autonomen Nord-Irak, Massoud Barzani, offen die „Sykes-Picot-Ordnung“ als bewusst repressiv konzipiert und ungerecht gegenüber den Kurden. Wie die Terrormiliz des „Islamischen Staates“, die diese Grenzen mit ihren militärischen Vormärschen im Irak und in Syrien im Frühsommer 2014 durchstoßen hat, ruft auch Barzani nach einer neuen  Ordnung im Mittleren Osten, wiewohl naturgemäß einer anderen als der IS.
Die Mandatsmächte hatten zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts nicht nur die Grenzen willkürlich gezogen. Sie hatten die von ihnen gegründeten und verwalteten Staaten nach dem System des Teile und Herrsche regiert, indem sie jeweils den Minderheiten die Macht übergaben: den arabischen Sunniten im Irak, den Alawiten in Syrien. Im Libanon, wo die Franzosen die christlichen Maroniten mit der Staatsführung betraut hatten, erhob sich die islamische Mehrheit – die Sunniten, vor allem aber die Schiiten – schon 1975, um in einem 15-jährigen zerstörerischen Bürgerkrieg die Machtverhältnisse entsprechend der Bevölkerungsstruktur zurechtzurücken. Dasselbe geschah nach dem Sturz des irakischen Diktators Saddam Hussein im Irak, wo seit 2003 die Schiiten mit iranischer Unterstützung die Regierung in Bagdad führen.  Der Prozess ist längst noch nicht abgeschlossen. Und dasselbe ereignet sich derzeit in Syrien.
Als der IS im Juni 2014 in rasantem Tempo von seinen syrischen und irakischen Stützpunkten aus Mosul, Iraks zweitgrößte Stadt eroberte, weiter in irakisches Territorium vorstieß und in einem Anflug von fanatischem Größenwahn die Geburt eines neuen „Staates“, den Kern eines „Kalifats“, wie er es nennt, ausrief, zwang er eine Region in Syrien und Irak unter seine Kontrolle, die weitgehend von arabischen Sunniten bewohnt war, eine homogene Bevölkerung insofern, als sie zwar nicht unbedingt die Ideologie des IS billigte, sich aber sowohl in Syrien als auch im Irak von ihren schiitischen, bzw. alawitischen, vom Iran unterstützte Zentralregierungen unterdrückt fühlte und überzeugt war, dass diese niemals ihren legitimen  Interessen entgegenkommen würden.
 
Teil dieses „großen Aussortierens“ wie Prof. Landis es nennt, ist auch die ethnische und religiöse „Säuberung“, die der IS in barbarischer Weise praktiziert, an Christen, vor allem aber auch an Yeziden, Angehörigen einer vorchristlichen kurdischen Religion. Die genozidartigen Massaker, die  Zehntausende Yeziden in der alten nord-irakischen Kurdenstadt Sindschar in die Flucht in die Berge trieb, sind ihnen vielleicht noch in Erinnerung. Der IS ermordete Tausende Menschen, verscharrte sie in Massengräbern und verschleppte Tausende Frauen, um sie als Sex-Sklavinnen zu halten, schließlich zu verstoßen oder wie im finstersten Mittelalter angekettet auf Märkten zu verkaufen. Manche konnten inzwischen flüchten, viele erleiden immer noch unfaßbare Qualen und immer wieder dringen Berichte zu uns, dass zahllose yezidische Mädchen irgendwo in arabischen und afrikanischen Ländern verkauft werden. Nur selten lenken heute noch westliche Medien die Aufmerksamkeit auf dieses grausame Schicksal.
Sindschar, das inzwischen von kurdischen Peschmerga befreite Zentrum der Barbarei, war für den IS ein besonders wichtiges Ziel. Die Stadt am Fuße eines kargen, fast völlig vegetationslosen Gebirgszuges besitzt für die Jihadis große strategische Bedeutung, liegt sie doch an der wichtigsten Verbindungslinie zwischen der sog. „Hauptstadt“ des „Kalifats“, dem syrischen Rakka und der Millionenmetropole Mosul im Irak, die der IS seit Juni 2014 kontrolliert. Zudem sind die Yeziden aus ideologischen Gründen Ziel des Hasses dieser islamistischen Fanatiker,  die diese Anhänger des Eingottglaubens mit seinen vorchristlichen, christlichen und islamischen Elementen, dem Glauben an das Feuer und den Engel Pfau als Häretiker verteufeln, die das Recht auf Leben verwirkt hätten.
Seit dem Sturz des irakischen Diktators Saddam Hussein haben die Kurden in ihrem autonom regierten Gebiet des Nord-Irak die Basis für einen unabhängigen Staat geschaffen. Bis heute beugten sie sich westlichem, vor allem amerikanischem Druck, die Einheit des Iraks nicht zu zerstören – eine Einheit, die längst zur Illusion geworden ist.  Dennoch – und trotz vieler Schwierigkeiten - bleibt das autonome irakische Kurdistan für alle Kurden ein wichtiges Symbol der Selbstbestimmung und die heißersehnte Unabhängigkeit ist nahe gerückt, wie nie zuvor in der Geschichte. Erst vor wenigen Wochen hat Barzani ein Referendum darüber angekündigt.
 
Doch Amerikaner, aber auch Russen, hoffen auf die Peschmerga, diese mutigen kurdischen Freiheitkämpfer, die jahrzehntelang einem der brutalsten Despoten des vergangenen Jahrhunderts, Saddam Hussein und seiner Armee, getrotzt und für die Freiheit der Kurden gekämpft hatten. Sie besitzen den Ruf als verlässliche Kämpfer, anti-islamistisch, laizistisch, human. Sie zählen zu den größten Freunden des Westens in der Region und gelten als Erzfeinde des IS. All dies hervorragende Voraussetzungen, um als schlagkräftige Bodentruppen gemeinsam mit der irakischen Armee das Land vom IS zu befreien. Doch die überwältigende Mehrheit der Kurden glaubt nicht mehr an dieses Land und der Verdacht, den Großmächten nur als Kanonenfutter im Kampf gegen die radikalen Jihadis zu dienen, ohne für den Einsatz ihres Lebens einen politischen Lohn zu gewinnen entmutigt viele.
 
Auch in Syrien, wo sie eine von mehreren Minderheiten sind und mit etwa zwei Millionen Menschen nicht ganz zehn Prozent der Bevölkerung stellen, waren die Kurden traditionell unterdrückt, wenn auch nicht ganz so brutal wie in der Türkei, im Irak oder im Iran. Aber auch in Syrien erlitten sie schwere Diskriminierungen, massive Versuche der Assimilierung, der Arabisierung ihrer Siedlungsgebiete im Norden, an der Grenze zur Türkei,200.000 Kurden verweigerte das Regime die Staatsbürgerschaft, damit die Grundrechte und um Kontakte mit Familien- und Stammesangehörigen jenseits der türkischen Grenze zu unterbinden entwickelten es den Plan eines arabischen Gürtels, Kurden wurden aus dem Gebiet deportiert und Araber angesiedelt.
Trotz aller jahrzehntelangen Repressionen zögerten die Kurden 2011, als die ersten friedlichen Demonstrationen für Reformen in der Diktatur Assad begannen, sich der überwiegend arabisch-sunnitischen Opposition anzuschließen. Das Misstrauen der Kurden gegenüber den Gegnern Assads wuchs, je mehr sich diese radikalisierten, je stärker sie Unterstützung aus den Golfstaaten – Saudi-Arabien und Katar – erhielten und je mehr radikale sunnitische Islamisten ins Land eindrangen und ihre Waffen gegen das Regime erhoben.
 
Syriens Kurden ergriffen die historische Chance, die sich ihnen 2011 bot, als das durch islamistische Rebellen in die Enge getriebene Regime begann, sich aus den nordsyrischen Kurdengebieten kampflos zurückzuziehen und den Kurden die Kontrolle über diese Regionen überließ. So wurde Rojava (wörtlich aus dem Kurdischen: West)  geboren, eine kurdische Selbstverwaltungsregion entlang der Grenze zur Türkei, die allerdings einen gravierendes Problem hatte: zwei überwiegend von Kurden bewohnte Kantone östlich des Euphrat – Cizire und Kobane waren durch ein nicht von Kurden bewohntes Gebiet von dem westlich gelegenen kurdischen Kanton Afrin getrennt. Dennoch gelang es der Syriens Kurden dominierenden  „Demokratischen Unionspartei“ (PYD) ein höchst effizientes Selbstverwaltungssystem aufzubauen. Hervorragend organisiert und patriotisch enorm motiviert beeindruckte der militärische Arm der PYD, die Volksverteidigungseinheiten YPG, die einzige nennenswerte militärische Kraft der syrischen Kurden, die USA auf deren verzweifelter Suche nach verlässlichen Bodentruppen für den Kampf gegen den IS. 
Der hartnäckige Verteidigungskampf, den die YPG und ihr Frauenbatallion gegen den IS in der Grenzstadt Kobane führte, ist in die kurdische Geschichte eingegangen.  Unvergessen bleiben die Bilder der die Stadt umringenden Panzer, die der IS aus den syrischen und irakischen Arsenalen erobert hatte und nun voll zu Eroberung dieser strategisch wichtigen Grenzstadt einsetzte. Todesmutig verteidigten die Kurden mit nur leichten Waffen ihre Stadt, während die Türkei die nahegelegene Grenze abriegelte, um- zumindest zeitweise – Flüchtlinge fern zu halten und kurdische Brüder aus der Türkei davon abzuhalten, den mutigen Verteidigern der Stadt zu Hilfe zu kommen. Das zynische Schauspiel, das türkische Soldaten auf ihren Panzern, die Kanonen auf Kobane gerichtet, gemächlich verfolgten, dauerte Wochen, bis endlich die Amerikaner mit ihren Jets anflogen, um den Fall der Stadt zu verhindern. Bis dahin aber waren die Jihadis schon in Teile Kobanis eingedrungen und amerikanische Bomben prasselten auf die Stadt nieder, bis sie schließlich vollends in Trümmern lag. Warum nur hat Washington so lange mit seiner Hilfeleistung gezögert, fragen sich viele. Als der IS noch außerhalb Kobanes verschanzt war, hätten US-Jets ihn weit weniger verlustreich verjagen können. Welche strategische, welche politischen  Interessen verfolgten die Amerikaner in Kobane?
Die Stadt gilt traditionell als Hochburg kurdischen Freiheitsstrebens und sie liegt in einem Grenzstreifen, den die Türkei insbesondere seit der Gründung Rojavas entvölkern will.  Bisher aber gab Washington dem türkischen Drängen nach einer von der US-Luftwaffe und oder der NATO überwachten Flugverbotszone in syrischem Territorium zum Schutz der Flüchtlinge nicht nach. Doch Ankara gibt nicht auf und belebt nun den Plan erneut, mit dem Ziel, Washington schließlich keine Wahl mehr zur lassen. Mit dem Argument, das Land könne keine Flüchtlinge mehr aufnehmen, begannen die Türken im syrischen Grenzgebiet Lager für Flüchtlinge, die in den vergangenen Wochen insbesondere aus der Region von Aleppo zur türkischen Grenze kamen, einzurichten. Ihr Schutz, so betont Ankara, könne nur durch die Errichtung einer Flugverbotszone gesichert werden. Washington reagiert vorerst nicht. Erst wenn die derzeitige Zahl von mehr als 30.000 auf vielleicht 100.000 schutzsuchende Menschen angewachsen ist, hätte – so Ankaras Kalkulation – die NATO aus humanitären Gründen gar keine andere Wahl, als diese Menschen vor militärischen Attacken zu bewahren. Ob diese Rechnung aufgeht, ist allerdings nicht sicher.
Ankaras vorrangiges politisches Ziel ist ein von Kurden gesäubertes Grenzgebiet. Immer wieder stellen Präsident Erdogan und sein Premier Davutoglu klar, dass sie unter gar keinen Umständen die Entwicklung einer zweiten autonomen Kurdenregion, wie jener im Nordirak, an ihrer Grenze dulden würden. Offen sprach es Erdogan wiederholt aus: die Guerillas der „Kurdischen Arbeiterpartei“ PKK, die seit Jahrzehnten vor allem in den Bergen Kurdistans um die Anerkennung des kurdischen Volkes und die Gewährung der Grundrechte durch den türkischen Staat kämpfen, hält er, dieser Islamistenpremier, für weit gefährlicher als den IS. Das bewies Erdogan auch deutlich, als er im Sommer 2015 langem amerikanischem Drängen nachgab und den Luftwaffenstützpunkt Incirlik in der Südosttürkei für amerikanische Kampfjets und deren Einsatz gegen den IS in Syrien und im Irak öffnete. In einem Abkommen mit Washington versprach er auch den Einsatz der türkischen Luftwaffe gegen den IS in Syrien.  Kurz nach Abschluß der Vereinbarung stiegen tatsächlich türkische Militärflugzeuge auf, doch ihre Ziele waren nicht die islamistischen Terroristen in Syrien, sondern die militärischen Stützpunkte der PKK im Nord-Irak. Tagelang prasselten türkische Bomben auf die Lager der PKK im unwegsamen nord-irakischen Kandil-Gebirge nieder, bis Erdogan triumphierend den Tod von Hunderten Guerillas meldete, mit deren Führung er in einem sog. „Friedensprozeß“ ein Ende der jahrzehntelangen Feindseligkeiten suchte. Angeblich, denn in Wahrheit hielten u.a. Repressionen gegen kurdische Intellektuelle und Politiker unvermindert an und blieben grundlegende Reformen zur vollen Gleichberechtigung der Kurden aus.
 Der monatelange Waffenstillstand mit der PKK war zuende. Sie alle kennen wohl die Bilder von Cizre, der von rund 130.000 überwiegend Kurden bewohnten Stadt und anderen  kurdischen Städten in Südostanatolien, die die türkische Armee in den vergangenen Wochen belagerte und mit schweren Waffen ganze Straßenzüge zu Ruinen zerbombte. Sie erinnern an den Höhepunkt des Krieges zwischen den Kurden und der türkischen Armee aus den 1980er Jahren. Kurden werfen der Regierung vor, ein Massaker an rund 60 Menschen verübt zu haben. Die Jugendorganisation der PKK hatte, ermutigt durch die Erfolge der PYD in Syrien, in einigen kurdischen Städten sog. Autonomiegebiete ausgerufen und verteidigte diese mit Straßengräben und Barrikaden gegen die attackierenden Sicherheitskräfte. Zudem wirft Ankara der PKK vor, durch Tunnels die YPG in Syrien mit Waffen zu versorgen, nachdem die Türken die Grenze zum syrischen Kurdengebiet fast vollständig verriegelt hatten. Als Antwort auf die tagelangen Bombardements von Kandil begannen PKK-Guerillas erneut türkische Sicherheitskräfte im Südosten zu attackieren.
Erdogans besonderer Zorn auf die PKK hat seine Ursache in einem gescheiterten Plan. Es war 2013 als er, damals Premierminister, seinen Plan zu verfolgen begann, der erste vom Volk gewählte Staatspräsident zu werden und anschließend mit einer ihn unterstützenden Parlamentsmehrheit  die Macht des Präsidenten entscheidend auszuweiten. Zu diesem Zweck setzte er auf die Unterstützung der Kurden. Er suchte eine Verständigung mit dem auf der Gefangeneninsel Imrali in Isolationshaft einsitzenden PKK-Chef Öcalan. Wenn die PKK ihre Waffen niederlegten und die Guerillas türkisches Territorium verließen (wahrscheinlich nach Kandil) würden sie substantielle Zugeständnisse erhalten. Es blieb unklar, was genau damit gemeint war. Die Kurden vermuteten es ging um größere lokale Autonomie und eine Art von Amnestie für jene PKK-Mitglieder, die Gewaltakte verübt hatten und die Freilassung Öcalans. Dieser Deal sollte Erdogan helfen zwei seiner wichtigsten Ziele zu erreichen:  Die PKK sollte die YPG überreden, sich  den syrischen Rebellen zum Sturz Assads anzuschließen und jegliches Streben nach Selbstverwaltung im syrischen Kurdengebiet aufgegeben. Die größte Kurdenpartei, die „Volkdemokratie Partei“ (HDP), die im Vorjahr als erste Kurdenpartei die Zehn-Prozent-Hürde ins Parlament schaffte, sollte nicht nur Erdogans Aufstieg ins Präsidentenamt unterstützen, sondern auch seinen Plan, die Macht des Präsidenten entscheidend zu erweitern. Die PKK lehnte dieses Spiel ab, weil es nach ihrer Überzeugung der unersättlichen Machtgier Erdogans dienen sollte – ein Eindruck, der durchaus nachvollziehbar ist. Wie konnte sie dem Islamisten Erdogan trauen, der selbst während des sog. Friedensprozesses nicht ein einziges Gesetz zur Lockerung der Repressionen und Anerkennung kurdischer Grundrechte initiierte? Und warum unterstützte er seit vielen Monaten Jihadis in Syrien im Kampf gegen die YPG?  Dennoch präsentierte die PKK einen Friedensplan, doch Erdogan lehnte ihn sofort ab. Nun sprechen nur die Waffen.
Nach schweren Anschlägen der PKK auf Sicherheitskräfte im September attackierten Türken in mehreren Teilen der Türkei Parteiquartiere der HDP und setzten deren Hauptquartier in Flammen. Auch kurdische Zivilisten, Zeitungen Geschäfte und sogar Schulen wurden von wütenden Mob angegriffen.  Bei einem Anschlag auf eine kurdische Demonstration in Ankara kamen zahlreiche Menschen ums Leben, ebenso im Sommer 2015 in Suruc, wo sich Jugendliche auch aus europäischen Ländern versammelt hatten. Sie planten Hilfsaktionen für das zerstörte Kobane.  Am 19. Februar bekannten sich die von der PKK abgespaltenen „Freiheitsfalken Kurdistans“ (TAK) zu einem Bombenanschlag auf einen Militärkonvoi in Ankara, bei dem 28 Menschen ums Leben kamen.  Nur wenige Stunden nach dem Anschlag hatte Davutoglu offiziell behauptet, die türkischen Sicherheitskräfte hätten eindeutige Hinweise, dass der Terrorakt von der PYD verübt worden sei. Er nannte sogar den Namen des Täters. Doch er konnte mit solcher Behauptung selbst seine westlichen NATO-Verbündeten nicht überzeugen.  Seit Monaten bemüht sich die Türkei, einen Keil in die äußerst effiziente militärische Kooperation zwischen den USA und der YPG zu treiben und drängt Washington YPG und deren politischen Arm PYD, wie die PKK auf die Terrorliste zu setzen, sie als Feind einzustufen und jede Beziehung abzubrechen. Doch die Amerikaner erkannten, dass die YPG primär, wie auch ihr Name sagt, eine Verteidigungseinheit zum Schutz des Selbstverwaltungsgebietes in Nordsyrien ist und tatsächlich bis heute nachweislich keinen einzigen Terrorakt in der Türkei verübt hatte.  Der Bedeutungs- und Imagegewinn dieser kurdischen Organisation in dem mit den USA koordinierten Kampf gegen den IS versetzt die türkische Führung in totale Panik. Um Ankara etwas zu beschwichtigen, hatten die Amerikaner der YPG lange keine Waffen geliefert und sich schließlich entschlossen, eine neue Allianz, genannt „Syrische demokratische Truppen“ aufzustellen, in der einige gemäßigte arabische Gruppen gemeinsam mit und unter Führung der YPG gegen den IS kämpfen.  Sie bekommen nun leichte Waffen und Munition. Doch die USA konnten bis heute nicht die anhaltenden massiven Artillerie-Attacken der Türken auf YPG-Positionen stoppen und schon gar nicht die Angriffe von der Türkei unterstützter islamistischer Rebellen gegen diese militärischen Verbündeten der USA.
Je mehr die syrischen Kurden militärische Erfolge gegen den IS erzielen, desto nervöser und zugleich aggressiver werden die Türken. Das ist das Dilemma des Westens. Werden sich die USA, werden sich die Europäer zwischen der Türkei und den Kurden entscheiden müssen? Wird sich wieder Mula Mustafas Wort von den „Waisen des Universums“, des sich immer und immer wiederholenden Verrats an den Kurden bewahrheiten`?
Die „Sicherheitszone“ für Flüchtlinge, für die Ankara auch Hilfsorganisationen zu gewinnen sucht, gleicht in Wahrheit einer Zeitbombe. Sie würde dem türkischen Militär den Zugang zu diesem syrischen, von Kurden gewohnten Gebiet ohne offizielle Ankündigungen  ermöglichen und sogar den Vorwand (Schutz der Flüchtlinge) für eine größere militärische Intervention liefern. Schon sprechen die Türken sogar von „ihren Interessen“ in der einst wichtigsten syrischen Handelsmetropole Aleppo. Steht ein zweites Zypern bevor, wo türkische Truppen 1974 zum Schutz der türkischen Minderheit den Nordteil der Insel besetzten und seither kontrollieren? Will Ankara ein neues Sykes-Picot-System schaffen, Grenzen die Völker, hier vor allem die Kurden, nochmals teilen? Eine Grenze, die nicht mehr die Eisenbahnlinie schafft, sondern eine kurdenfreie Pufferzone zwischen Türken und Arabern?
 
*) Text eines Vortrages im Institut für Kurdologie

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