von Birgit Cerha *
Mula Mustafa Barzani, den sogar europäische Kinder wie ich in den
1960er Jahren als Freiheitshelden bewundert hatten,… dieser legendäre
Führer der irakischen Kurden, der 1979 in einem Krankenhaus in den USA
an Krebs starb, so tragisch sein Lebenskampf in Trümmern….--- von Mula
Mustafa Barzani stammt das Wort: die Kurden sind die „Waisen des
Universums“., Sie kennen nur einen verlässlichen Freund: die Berge.
Dort, im Nord-Irak, im Nord-West-Iran, in Südostanatolien fanden sie
immer und immer wieder Schutz vor Verfolgung, vor Mord, vor Genozid, von
dort aus konnten sie ihre Verteidigungs-, aber auch ihre
Angriffsschläge gegen die übermächtigen Herrscher in Ankara, Bagdad und
Teheran organisieren. Von dort aus konnte Barzani die schlagkräftige
Armee des irakischen Staates beinahe in die Knie zwingen, bis ihn äußere
Freunde und Helfer gnadenlos verrieten. So auch 1975, als der damalige
US-Außenminister Henry Kissinger ohne Vorwarnung abrupt geheime
amerikanische Militärhilfe an Barzani stoppte, um alte
Grenzstreitigkeiten zwischen Iran und Irak beizulegen. Über Nacht
stellten die Iraner ihre für die irakischen Kurden entscheidende Hilfe
gegen Iraks Diktator Saddam Husein ein, der Aufstand brach zusammen und
250.000 Kurden, darunter auch Barzani, blieb nichts als die Flucht in
den Iran. Tausende starben. Einst von Journalisten zu diesem Verrat an
den Kurden befragt, antwortete der Weltpolitiker und spätere
Friedensnobelpreisträger Kissinger: „Die CIA ist keine humanitäre
Organisation“.
Die Erfahrung dieses „Verrates“ hat sich tief in die kurdische
Seele eingebrannt. Wird er sich wiederholen – durch die USA, durch die
Nachbarn und vor allem auch durch die EU? Diese Frage könnte heute kaum
aktueller sein.
Mit einem Schlag hatte sich diesem geschändeten Volk von insgesamt
geschätzten 35 Millionen Menschen eine neue Perspektive geöffnet, ja
sogar das jahrzehntelang Unvorstellbare erscheint plötzlich keine
Illusion mehr: Selbstbestimmung, Selbstverwaltung, vielleicht sogar ein
eigener Staat. Nie zuvor besaß dieses größte Volk der Welt ohne Staat
im Mittleren Osten so viel Einfluss wie heute. Kurden halten das
Gleichgewicht der Kräfte im Irak und üben beträchtlichen Einfluss auf
das Geschehen im blutigen syrischen Krieg aus. Plötzlich sehen sie sich
umworben von der Supermacht USA und seit September zugleich auch von
deren russischem Gegenspieler. Der Mittlere Osten steht in Aufruhr und
die Kurden spielen eine Schlüsselrolle in der Neugestaltung der Region,
ihre Forderungen können nicht mehr ungehört bleiben, ihr Schicksal nicht
länger ignoriert werden. So zumindest sieht es heute aus.
Der gesamte Nahe Osten durchlebt ein politisches Erdbeben , eine
radikale Umwälzung. Wenn ich Diskussionen etwa im ORF oder auch im
Privaten über die aktuelle Flüchtlingsproblematik verfolge, fällt mir
zunehmend auf, dass häufig diese Krise fast ausschließlich mit Syrien in
Zusammenhang gebracht wird. Wenn der Krieg gestoppt werden könne, so
immer wieder vertretene Positionen, dann werde auch der Flüchtlingsstrom
nach Europa versiegen. In Wahrheit stehen wir erst am Anfang, andere
Staaten werden Syrien folgen und ohnedies ist Syrien nicht das einzige
Land, das eine humanitäre Katastrophe gigantischen Ausmaßes
durchleidet. Dem Jemen ergeht es nichts anders und auch dort tragen
äußere Mächte in ähnlicher Weise unglaubliche Mitschuld. Doch wer redet
schon über den Jemen bei uns, trifft uns dieses Elend doch nicht direkt.
Was sich heute in der Region ereignet, nennt der amerikanische
Syrienexperte Prof. Joshua Landis „The great sorting out“, übersetzt
etwa „das große Aussortieren. Um diese Entwicklung zu verstehen, müssen
wir in die Zeit des Ersten Weltkrieges und die Zerschlagung des
Osmanischen Reiches zurückgehen. Am 16. Mai 1916 trat ein Geheimabkommen
des französischen Diplomaten Picot und des Briten Sykes zur Aufteilung
der kolonialen Interessensgebiete im Nahen Osten in kraft.
Großbritannien wurde die Herrschaft über ein Gebiet zuerkannt, das
insgesamt etwa dem heutigen Jordanien, dem Irak und der Region um das
heute israelische Haifa entspricht. Frankreich übernahm die Herrschaft
über die Südost-Türkei, Syrien und den Libanon. Jedes Land konnte die
Staatsgrenzen innerhalb seiner Einflusszonen frei bestimmen. Die
Mandatsmächte zogen sie ohne jegliche Rücksicht auf die lokale
Bevölkerungsstruktur. Völker, Stämme, ja Familien wurden zerrissen. Als
Grenze zwischen der Türkei und Syrien wurde die
Berlin-Bagdad-Basra-Eisenbahlininie gewählt, die Dörfer teilte und
Familien zerriss. Das traf vor allem Kurden, von denen viele in diesen
Gebieten lebten und noch leben. So läuft die Grenze etwa durch die
Städte Qamishli, der in der Türkei liegende Teil der Stadt heißt
Nuseibin. Der auf syrischem Territorium liegenden Teil der kurdischen
Grenzstadt Kobane erhielt den arabischen Namen Ain al Arab, jener in
der Türkei liegende heißt Suruc.
Die Grenzziehung, so stellt Joshua Landis fest, orientierte sich
also nicht nach der in der Region lebenden Bevölkerung, sondern diese
hatte sich an die Grenzen anzupassen. Diese von der Pariser
Friedenskonferenz 1919 bestätigte Regelung gilt bis heute, obwohl sie
seit langem heftig als „Diktat der Kolonialmächte“, als unrealistisches
Projekt angefochten wird, das nicht überdauern könne, weil es zahlreiche
Bevölkerungsgruppen zum Zusammenleben zwang und einige spaltete. Der
Zusammenbruch dieses Systems wird seit langem vorhergesagt. Erst vor
kurzem kritisierte der Präsident der Kurdischen Regionalregierung im
autonomen Nord-Irak, Massoud Barzani, offen die „Sykes-Picot-Ordnung“
als bewusst repressiv konzipiert und ungerecht gegenüber den Kurden. Wie
die Terrormiliz des „Islamischen Staates“, die diese Grenzen mit ihren
militärischen Vormärschen im Irak und in Syrien im Frühsommer 2014
durchstoßen hat, ruft auch Barzani nach einer neuen Ordnung im
Mittleren Osten, wiewohl naturgemäß einer anderen als der IS.
Die Mandatsmächte hatten zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts
nicht nur die Grenzen willkürlich gezogen. Sie hatten die von ihnen
gegründeten und verwalteten Staaten nach dem System des Teile und
Herrsche regiert, indem sie jeweils den Minderheiten die Macht
übergaben: den arabischen Sunniten im Irak, den Alawiten in Syrien. Im
Libanon, wo die Franzosen die christlichen Maroniten mit der
Staatsführung betraut hatten, erhob sich die islamische Mehrheit – die
Sunniten, vor allem aber die Schiiten – schon 1975, um in einem
15-jährigen zerstörerischen Bürgerkrieg die Machtverhältnisse
entsprechend der Bevölkerungsstruktur zurechtzurücken. Dasselbe geschah
nach dem Sturz des irakischen Diktators Saddam Hussein im Irak, wo seit
2003 die Schiiten mit iranischer Unterstützung die Regierung in Bagdad
führen. Der Prozess ist längst noch nicht abgeschlossen. Und dasselbe
ereignet sich derzeit in Syrien.
Als der IS im Juni 2014 in rasantem Tempo von seinen syrischen und
irakischen Stützpunkten aus Mosul, Iraks zweitgrößte Stadt eroberte,
weiter in irakisches Territorium vorstieß und in einem Anflug von
fanatischem Größenwahn die Geburt eines neuen „Staates“, den Kern eines
„Kalifats“, wie er es nennt, ausrief, zwang er eine Region in Syrien und
Irak unter seine Kontrolle, die weitgehend von arabischen Sunniten
bewohnt war, eine homogene Bevölkerung insofern, als sie zwar nicht
unbedingt die Ideologie des IS billigte, sich aber sowohl in Syrien als
auch im Irak von ihren schiitischen, bzw. alawitischen, vom Iran
unterstützte Zentralregierungen unterdrückt fühlte und überzeugt war,
dass diese niemals ihren legitimen Interessen entgegenkommen würden.
Teil dieses „großen Aussortierens“ wie Prof. Landis es nennt, ist
auch die ethnische und religiöse „Säuberung“, die der IS in barbarischer
Weise praktiziert, an Christen, vor allem aber auch an Yeziden,
Angehörigen einer vorchristlichen kurdischen Religion. Die
genozidartigen Massaker, die Zehntausende Yeziden in der alten
nord-irakischen Kurdenstadt Sindschar in die Flucht in die Berge trieb,
sind ihnen vielleicht noch in Erinnerung. Der IS ermordete Tausende
Menschen, verscharrte sie in Massengräbern und verschleppte Tausende
Frauen, um sie als Sex-Sklavinnen zu halten, schließlich zu verstoßen
oder wie im finstersten Mittelalter angekettet auf Märkten zu verkaufen.
Manche konnten inzwischen flüchten, viele erleiden immer noch unfaßbare
Qualen und immer wieder dringen Berichte zu uns, dass zahllose
yezidische Mädchen irgendwo in arabischen und afrikanischen Ländern
verkauft werden. Nur selten lenken heute noch westliche Medien die
Aufmerksamkeit auf dieses grausame Schicksal.
Sindschar, das inzwischen von kurdischen Peschmerga befreite
Zentrum der Barbarei, war für den IS ein besonders wichtiges Ziel. Die
Stadt am Fuße eines kargen, fast völlig vegetationslosen Gebirgszuges
besitzt für die Jihadis große strategische Bedeutung, liegt sie doch an
der wichtigsten Verbindungslinie zwischen der sog. „Hauptstadt“ des
„Kalifats“, dem syrischen Rakka und der Millionenmetropole Mosul im
Irak, die der IS seit Juni 2014 kontrolliert. Zudem sind die Yeziden aus
ideologischen Gründen Ziel des Hasses dieser islamistischen Fanatiker,
die diese Anhänger des Eingottglaubens mit seinen vorchristlichen,
christlichen und islamischen Elementen, dem Glauben an das Feuer und den
Engel Pfau als Häretiker verteufeln, die das Recht auf Leben verwirkt
hätten.
Seit dem Sturz des irakischen Diktators Saddam Hussein haben die
Kurden in ihrem autonom regierten Gebiet des Nord-Irak die Basis für
einen unabhängigen Staat geschaffen. Bis heute beugten sie sich
westlichem, vor allem amerikanischem Druck, die Einheit des Iraks nicht
zu zerstören – eine Einheit, die längst zur Illusion geworden ist.
Dennoch – und trotz vieler Schwierigkeiten - bleibt das autonome
irakische Kurdistan für alle Kurden ein wichtiges Symbol der
Selbstbestimmung und die heißersehnte Unabhängigkeit ist nahe gerückt,
wie nie zuvor in der Geschichte. Erst vor wenigen Wochen hat Barzani ein
Referendum darüber angekündigt.
Doch Amerikaner, aber auch Russen, hoffen auf die Peschmerga, diese
mutigen kurdischen Freiheitkämpfer, die jahrzehntelang einem der
brutalsten Despoten des vergangenen Jahrhunderts, Saddam Hussein und
seiner Armee, getrotzt und für die Freiheit der Kurden gekämpft hatten.
Sie besitzen den Ruf als verlässliche Kämpfer, anti-islamistisch,
laizistisch, human. Sie zählen zu den größten Freunden des Westens in
der Region und gelten als Erzfeinde des IS. All dies hervorragende
Voraussetzungen, um als schlagkräftige Bodentruppen gemeinsam mit der
irakischen Armee das Land vom IS zu befreien. Doch die überwältigende
Mehrheit der Kurden glaubt nicht mehr an dieses Land und der Verdacht,
den Großmächten nur als Kanonenfutter im Kampf gegen die radikalen
Jihadis zu dienen, ohne für den Einsatz ihres Lebens einen politischen
Lohn zu gewinnen entmutigt viele.
Auch in Syrien, wo sie eine von mehreren Minderheiten sind und mit
etwa zwei Millionen Menschen nicht ganz zehn Prozent der Bevölkerung
stellen, waren die Kurden traditionell unterdrückt, wenn auch nicht ganz
so brutal wie in der Türkei, im Irak oder im Iran. Aber auch in Syrien
erlitten sie schwere Diskriminierungen, massive Versuche der
Assimilierung, der Arabisierung ihrer Siedlungsgebiete im Norden, an der
Grenze zur Türkei,200.000 Kurden verweigerte das Regime die
Staatsbürgerschaft, damit die Grundrechte und um Kontakte mit Familien-
und Stammesangehörigen jenseits der türkischen Grenze zu unterbinden
entwickelten es den Plan eines arabischen Gürtels, Kurden wurden aus dem
Gebiet deportiert und Araber angesiedelt.
Trotz aller jahrzehntelangen Repressionen zögerten die Kurden 2011,
als die ersten friedlichen Demonstrationen für Reformen in der Diktatur
Assad begannen, sich der überwiegend arabisch-sunnitischen Opposition
anzuschließen. Das Misstrauen der Kurden gegenüber den Gegnern Assads
wuchs, je mehr sich diese radikalisierten, je stärker sie Unterstützung
aus den Golfstaaten – Saudi-Arabien und Katar – erhielten und je mehr
radikale sunnitische Islamisten ins Land eindrangen und ihre Waffen
gegen das Regime erhoben.
Syriens Kurden ergriffen die historische Chance, die sich ihnen
2011 bot, als das durch islamistische Rebellen in die Enge getriebene
Regime begann, sich aus den nordsyrischen Kurdengebieten kampflos
zurückzuziehen und den Kurden die Kontrolle über diese Regionen
überließ. So wurde Rojava (wörtlich aus dem Kurdischen: West) geboren,
eine kurdische Selbstverwaltungsregion entlang der Grenze zur Türkei,
die allerdings einen gravierendes Problem hatte: zwei überwiegend von
Kurden bewohnte Kantone östlich des Euphrat – Cizire und Kobane waren
durch ein nicht von Kurden bewohntes Gebiet von dem westlich gelegenen
kurdischen Kanton Afrin getrennt. Dennoch gelang es der Syriens Kurden
dominierenden „Demokratischen Unionspartei“ (PYD) ein höchst
effizientes Selbstverwaltungssystem aufzubauen. Hervorragend organisiert
und patriotisch enorm motiviert beeindruckte der militärische Arm der
PYD, die Volksverteidigungseinheiten YPG, die einzige nennenswerte
militärische Kraft der syrischen Kurden, die USA auf deren verzweifelter
Suche nach verlässlichen Bodentruppen für den Kampf gegen den IS.
Der hartnäckige Verteidigungskampf, den die YPG und ihr
Frauenbatallion gegen den IS in der Grenzstadt Kobane führte, ist in die
kurdische Geschichte eingegangen. Unvergessen bleiben die Bilder der
die Stadt umringenden Panzer, die der IS aus den syrischen und
irakischen Arsenalen erobert hatte und nun voll zu Eroberung dieser
strategisch wichtigen Grenzstadt einsetzte. Todesmutig verteidigten die
Kurden mit nur leichten Waffen ihre Stadt, während die Türkei die
nahegelegene Grenze abriegelte, um- zumindest zeitweise – Flüchtlinge
fern zu halten und kurdische Brüder aus der Türkei davon abzuhalten, den
mutigen Verteidigern der Stadt zu Hilfe zu kommen. Das zynische
Schauspiel, das türkische Soldaten auf ihren Panzern, die Kanonen auf
Kobane gerichtet, gemächlich verfolgten, dauerte Wochen, bis endlich die
Amerikaner mit ihren Jets anflogen, um den Fall der Stadt zu
verhindern. Bis dahin aber waren die Jihadis schon in Teile Kobanis
eingedrungen und amerikanische Bomben prasselten auf die Stadt nieder,
bis sie schließlich vollends in Trümmern lag. Warum nur hat Washington
so lange mit seiner Hilfeleistung gezögert, fragen sich viele. Als der
IS noch außerhalb Kobanes verschanzt war, hätten US-Jets ihn weit
weniger verlustreich verjagen können. Welche strategische, welche
politischen Interessen verfolgten die Amerikaner in Kobane?
Die Stadt gilt traditionell als Hochburg kurdischen
Freiheitsstrebens und sie liegt in einem Grenzstreifen, den die Türkei
insbesondere seit der Gründung Rojavas entvölkern will. Bisher aber gab
Washington dem türkischen Drängen nach einer von der US-Luftwaffe und
oder der NATO überwachten Flugverbotszone in syrischem Territorium zum
Schutz der Flüchtlinge nicht nach. Doch Ankara gibt nicht auf und belebt
nun den Plan erneut, mit dem Ziel, Washington schließlich keine Wahl
mehr zur lassen. Mit dem Argument, das Land könne keine Flüchtlinge mehr
aufnehmen, begannen die Türken im syrischen Grenzgebiet Lager für
Flüchtlinge, die in den vergangenen Wochen insbesondere aus der Region
von Aleppo zur türkischen Grenze kamen, einzurichten. Ihr Schutz, so
betont Ankara, könne nur durch die Errichtung einer Flugverbotszone
gesichert werden. Washington reagiert vorerst nicht. Erst wenn die
derzeitige Zahl von mehr als 30.000 auf vielleicht 100.000
schutzsuchende Menschen angewachsen ist, hätte – so Ankaras Kalkulation –
die NATO aus humanitären Gründen gar keine andere Wahl, als diese
Menschen vor militärischen Attacken zu bewahren. Ob diese Rechnung
aufgeht, ist allerdings nicht sicher.
Ankaras vorrangiges politisches Ziel ist ein von Kurden gesäubertes
Grenzgebiet. Immer wieder stellen Präsident Erdogan und sein Premier
Davutoglu klar, dass sie unter gar keinen Umständen die Entwicklung
einer zweiten autonomen Kurdenregion, wie jener im Nordirak, an ihrer
Grenze dulden würden. Offen sprach es Erdogan wiederholt aus: die
Guerillas der „Kurdischen Arbeiterpartei“ PKK, die seit Jahrzehnten vor
allem in den Bergen Kurdistans um die Anerkennung des kurdischen Volkes
und die Gewährung der Grundrechte durch den türkischen Staat kämpfen,
hält er, dieser Islamistenpremier, für weit gefährlicher als den IS. Das
bewies Erdogan auch deutlich, als er im Sommer 2015 langem
amerikanischem Drängen nachgab und den Luftwaffenstützpunkt Incirlik in
der Südosttürkei für amerikanische Kampfjets und deren Einsatz gegen den
IS in Syrien und im Irak öffnete. In einem Abkommen mit Washington
versprach er auch den Einsatz der türkischen Luftwaffe gegen den IS in
Syrien. Kurz nach Abschluß der Vereinbarung stiegen tatsächlich
türkische Militärflugzeuge auf, doch ihre Ziele waren nicht die
islamistischen Terroristen in Syrien, sondern die militärischen
Stützpunkte der PKK im Nord-Irak. Tagelang prasselten türkische Bomben
auf die Lager der PKK im unwegsamen nord-irakischen Kandil-Gebirge
nieder, bis Erdogan triumphierend den Tod von Hunderten Guerillas
meldete, mit deren Führung er in einem sog. „Friedensprozeß“ ein Ende
der jahrzehntelangen Feindseligkeiten suchte. Angeblich, denn in
Wahrheit hielten u.a. Repressionen gegen kurdische Intellektuelle und
Politiker unvermindert an und blieben grundlegende Reformen zur vollen
Gleichberechtigung der Kurden aus.
Der monatelange Waffenstillstand mit der PKK war zuende. Sie alle
kennen wohl die Bilder von Cizre, der von rund 130.000 überwiegend
Kurden bewohnten Stadt und anderen kurdischen Städten in
Südostanatolien, die die türkische Armee in den vergangenen Wochen
belagerte und mit schweren Waffen ganze Straßenzüge zu Ruinen zerbombte.
Sie erinnern an den Höhepunkt des Krieges zwischen den Kurden und der
türkischen Armee aus den 1980er Jahren. Kurden werfen der Regierung vor,
ein Massaker an rund 60 Menschen verübt zu haben. Die
Jugendorganisation der PKK hatte, ermutigt durch die Erfolge der PYD in
Syrien, in einigen kurdischen Städten sog. Autonomiegebiete ausgerufen
und verteidigte diese mit Straßengräben und Barrikaden gegen die
attackierenden Sicherheitskräfte. Zudem wirft Ankara der PKK vor, durch
Tunnels die YPG in Syrien mit Waffen zu versorgen, nachdem die Türken
die Grenze zum syrischen Kurdengebiet fast vollständig verriegelt
hatten. Als Antwort auf die tagelangen Bombardements von Kandil begannen
PKK-Guerillas erneut türkische Sicherheitskräfte im Südosten zu
attackieren.
Erdogans besonderer Zorn auf die PKK hat seine Ursache in einem
gescheiterten Plan. Es war 2013 als er, damals Premierminister, seinen
Plan zu verfolgen begann, der erste vom Volk gewählte Staatspräsident zu
werden und anschließend mit einer ihn unterstützenden
Parlamentsmehrheit die Macht des Präsidenten entscheidend auszuweiten.
Zu diesem Zweck setzte er auf die Unterstützung der Kurden. Er suchte
eine Verständigung mit dem auf der Gefangeneninsel Imrali in
Isolationshaft einsitzenden PKK-Chef Öcalan. Wenn die PKK ihre Waffen
niederlegten und die Guerillas türkisches Territorium verließen
(wahrscheinlich nach Kandil) würden sie substantielle Zugeständnisse
erhalten. Es blieb unklar, was genau damit gemeint war. Die Kurden
vermuteten es ging um größere lokale Autonomie und eine Art von Amnestie
für jene PKK-Mitglieder, die Gewaltakte verübt hatten und die
Freilassung Öcalans. Dieser Deal sollte Erdogan helfen zwei seiner
wichtigsten Ziele zu erreichen: Die PKK sollte die YPG überreden, sich
den syrischen Rebellen zum Sturz Assads anzuschließen und jegliches
Streben nach Selbstverwaltung im syrischen Kurdengebiet aufgegeben. Die
größte Kurdenpartei, die „Volkdemokratie Partei“ (HDP), die im Vorjahr
als erste Kurdenpartei die Zehn-Prozent-Hürde ins Parlament schaffte,
sollte nicht nur Erdogans Aufstieg ins Präsidentenamt unterstützen,
sondern auch seinen Plan, die Macht des Präsidenten entscheidend zu
erweitern. Die PKK lehnte dieses Spiel ab, weil es nach ihrer
Überzeugung der unersättlichen Machtgier Erdogans dienen sollte – ein
Eindruck, der durchaus nachvollziehbar ist. Wie konnte sie dem
Islamisten Erdogan trauen, der selbst während des sog. Friedensprozesses
nicht ein einziges Gesetz zur Lockerung der Repressionen und
Anerkennung kurdischer Grundrechte initiierte? Und warum unterstützte er
seit vielen Monaten Jihadis in Syrien im Kampf gegen die YPG? Dennoch
präsentierte die PKK einen Friedensplan, doch Erdogan lehnte ihn sofort
ab. Nun sprechen nur die Waffen.
Nach schweren Anschlägen der PKK auf Sicherheitskräfte im September
attackierten Türken in mehreren Teilen der Türkei Parteiquartiere der
HDP und setzten deren Hauptquartier in Flammen. Auch kurdische
Zivilisten, Zeitungen Geschäfte und sogar Schulen wurden von wütenden
Mob angegriffen. Bei einem Anschlag auf eine kurdische Demonstration in
Ankara kamen zahlreiche Menschen ums Leben, ebenso im Sommer 2015 in
Suruc, wo sich Jugendliche auch aus europäischen Ländern versammelt
hatten. Sie planten Hilfsaktionen für das zerstörte Kobane. Am 19.
Februar bekannten sich die von der PKK abgespaltenen „Freiheitsfalken
Kurdistans“ (TAK) zu einem Bombenanschlag auf einen Militärkonvoi in
Ankara, bei dem 28 Menschen ums Leben kamen. Nur wenige Stunden nach
dem Anschlag hatte Davutoglu offiziell behauptet, die türkischen
Sicherheitskräfte hätten eindeutige Hinweise, dass der Terrorakt von der
PYD verübt worden sei. Er nannte sogar den Namen des Täters. Doch er
konnte mit solcher Behauptung selbst seine westlichen NATO-Verbündeten
nicht überzeugen. Seit Monaten bemüht sich die Türkei, einen Keil in
die äußerst effiziente militärische Kooperation zwischen den USA und der
YPG zu treiben und drängt Washington YPG und deren politischen Arm PYD,
wie die PKK auf die Terrorliste zu setzen, sie als Feind einzustufen
und jede Beziehung abzubrechen. Doch die Amerikaner erkannten, dass die
YPG primär, wie auch ihr Name sagt, eine Verteidigungseinheit zum Schutz
des Selbstverwaltungsgebietes in Nordsyrien ist und tatsächlich bis
heute nachweislich keinen einzigen Terrorakt in der Türkei verübt
hatte. Der Bedeutungs- und Imagegewinn dieser kurdischen Organisation
in dem mit den USA koordinierten Kampf gegen den IS versetzt die
türkische Führung in totale Panik. Um Ankara etwas zu beschwichtigen,
hatten die Amerikaner der YPG lange keine Waffen geliefert und sich
schließlich entschlossen, eine neue Allianz, genannt „Syrische
demokratische Truppen“ aufzustellen, in der einige gemäßigte arabische
Gruppen gemeinsam mit und unter Führung der YPG gegen den IS kämpfen.
Sie bekommen nun leichte Waffen und Munition. Doch die USA konnten bis
heute nicht die anhaltenden massiven Artillerie-Attacken der Türken auf
YPG-Positionen stoppen und schon gar nicht die Angriffe von der Türkei
unterstützter islamistischer Rebellen gegen diese militärischen
Verbündeten der USA.
Je mehr die syrischen Kurden militärische Erfolge gegen den IS
erzielen, desto nervöser und zugleich aggressiver werden die Türken. Das
ist das Dilemma des Westens. Werden sich die USA, werden sich die
Europäer zwischen der Türkei und den Kurden entscheiden müssen? Wird
sich wieder Mula Mustafas Wort von den „Waisen des Universums“, des sich
immer und immer wiederholenden Verrats an den Kurden bewahrheiten`?
Die „Sicherheitszone“ für Flüchtlinge, für die Ankara auch
Hilfsorganisationen zu gewinnen sucht, gleicht in Wahrheit einer
Zeitbombe. Sie würde dem türkischen Militär den Zugang zu diesem
syrischen, von Kurden gewohnten Gebiet ohne offizielle Ankündigungen
ermöglichen und sogar den Vorwand (Schutz der Flüchtlinge) für eine
größere militärische Intervention liefern. Schon sprechen die Türken
sogar von „ihren Interessen“ in der einst wichtigsten syrischen
Handelsmetropole Aleppo. Steht ein zweites Zypern bevor, wo türkische
Truppen 1974 zum Schutz der türkischen Minderheit den Nordteil der Insel
besetzten und seither kontrollieren? Will Ankara ein neues
Sykes-Picot-System schaffen, Grenzen die Völker, hier vor allem die
Kurden, nochmals teilen? Eine Grenze, die nicht mehr die Eisenbahnlinie
schafft, sondern eine kurdenfreie Pufferzone zwischen Türken und
Arabern?
*) Text eines Vortrages im Institut für Kurdologie
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