In seinem Kerngebiet massiv in die Enge getrieben, setzt der
„Islamische Staat“ zunehmend auf Terror – Sympathisanten bilden neue
Netzwerke in Europa
von Birgit Cerha
Nachdem Sprengstoffe in Brüssel Dienstag mehr als 30 Menschen in
den Tod gerissen hatten, herrschte zwei Stunden lang in dem von
Aktivisten und Anhängern der Terrormiliz des „Islamischen Staates“ (IS)
benutzten „Telegram Messenger“ totale Funkstille, bis sich nach diesem
ungewöhnlichen Schweigen plötzlich die Nachrichten wie ein Wirbelwind in
zahlreichen Sprachen überstürzten: Der IS sei für die Terrorakte in
Brüssel verantwortlich. Terrorexperten halten das späte Bekenntnis zu
den Greueltaten für einen Hinweis, dass die Anschläge die Führer der
Organisation in Syrien und im Irak überraschten und die Attentäter auf
eigene Faust gehandelt hatten. Schon vor einiger Zeit hatte IS-Chef
Al-Baghdadi Sympathisanten in Europa zu eigenständigen Terrorakten
aufgerufen.
Nach den jüngsten Erkenntnissen der belgischen Polizei gelang es
Islamisten in Brüssel ein großes Netzwerk aufzubauen, durch dessen
Unterstützung der in der Vorwoche in Brüssel verhaftete mutmaßliche
Drahtzieher der Pariser Anschläge vom November, Salah Abdeslam, vier
Monate lang den Fahndern entkommen konnte. Abdeslams offensichtliche
Bereitschaft zur Kooperation mit der belgischen Polizei dürfte seine
Gesinnungsgenossen bewogen haben, mögliche Terrorpläne vorzuziehen,
bevor sie die Sicherheitskräfte vereiteln könnten. Wie andere
europäische Islamisten, etwa auch einer der mutmaßlicxhen Drahtzieher
der Pariser Attacken, der immer noch gesuchte Najim Laachraoui, ist
Abdeslam belgischer Staatsbürger, der sich einige Zeit dem IS in Syrien
angeschlossen hatte und verstärkt radikalisiert heimkehrte.
Im syrischen Deir el-Zor feierten IS-Kämpfer euphorisch das Blutbad
von Brüssel und verteilten zum Zeichen ihrer Euphorie Zuckerln an
Kinder und Erwachsene: ein hochwillkommener Sieg in Zeiten des
Niedergangs, der den demoralisierten Kämpfern neuen Mut einflößen kann
und Gesinnungsgenossen weltweit, von Nigeria über Nord-Afrika bis nach
Asien, möglicherweise aber auch in Europa zur Nachahmung aufstachelt.
Denn, so stellt Haras Rafiq von dem auf Terrorismusbekämpfung
spezialisierten Think Tank „Quilliam Foundation“fest, „es sind nicht der
IS und Al-Kaida, die zum Extremismus inspirieren, Extremisten
inspirieren“ diese Organisationen.- Die Attacken von Brüssel stärkten
die Kampfmoral auf den nahöstlichen Schlachtfeldern, mobilisierten die
Basis, projizierten Macht und Einfluss. All dessen bedarf der IS
dringend.
Denn vorbei ist die Zeit der Siege, als die radikalen Jihadis im
Sommer 2014 den Zusammenbruch des irakischen und des syrischen Staates,
sowie den Rückzug der USA aus der Region nützend, Iraks zweitgrößte
Stadt, Mosul, im Schlag eroberten und Zug um Zug bis Ende 2014 ein
Drittel des irakischen und ein Drittel des syrischen Territoriums – ein
Gebiet von etwa der Fläche Großbritanniens - mit insgesamt neun
Millionen Menschen unter ihre Kontrolle zwangen. Weniger als zwei Jahre
danach verlor das selbsternannte „Kalifat“ laut der militärischen
Denkfabrik„IHS Jane’s 360“ 22 Prozent seines Territoriums, davon 14
Prozent 2015 und acht Prozent allein in den ersten drei Monaten dieses
Jahres. Sie kontrollieren jetzt nur noch etwa sechs Millionen Menschen.
Im Irak gab der IS im Dezember die wichtige Stadt Ramadi auf, nachdem
der militärische Druck der zunehmend effizienten irakischen
Streitkräfte, unterstützt von der US-Luftwaffe zu groß geworden war.
Zuvor hatten sie Im November nach einer Offensive der Kurden die
überwiegend kurdisch-jezidische Stadt Sindschar geräumt und damit eine
wichtige Nachschubroute zwischen ihrer „Hauptstadt“ Rakka in Syrien und
Mosul verloren. Innerhalb von Syrien konnten sie bisher Rakka halten,
wurden aber von der von den USA unterstützten, von Kurden dominierten
„Syrischen Demokratischen Truppen“ (SDT) aus strategisch wichtigen
Zentren in Nordost-Syrien verjagt und die SDT rückt immer näher an Rakka
heran.
Zwar ist der IS immer noch in der Lage Offensiven zu starten, doch
größere Siege auf dem Schlachtfeld sind auch dank massiver Luftangriffe
durch die von den USA geführte Allianz und russische Jets nicht mehr
möglich. Vor allem der Tod von Kommandanten, wie zuletzt jener des
äußerst schlagkräftigen Tschetschenen Omar al Schischani hat
schwerwiegende Folgen. Der IS operiert als eng miteinander verflochtene
Gruppe von Zellen. Wenn dessen Kommandokette durchbrochen ist, bleibt
das Fußvolk orientierungslos. Die Schlagkraft schwindet, da sich auch
die Zahl der Kämpfer von mehr als 30.000 2014 durch Tod und Desertion
fast halbiert hat. Rekrutierungsprobleme wachsen, da die höchst
professionelle Propagandamaschinerie übers Internet angesichts der
zunehmenden Verluste und barbarischen Brutalitäten der IS-Führer an
Anziehungskraft verliert und die Türkei die Grenze gesperrt hat. Die
Zahl der Desertionen steigt, wie die Morde an zur Flucht bereiten
Kämpfern. Im Oktober verkündete die IS-Führung eine einmonatige Amnestie
für Deserteure: deutliches Zeichen wachsender Probleme. Darauf lässt
auch die zunehmende Rekrutierung von Teenagern für den Kampf schließen.
Als vielleicht größte Schwäche des IS dürfte sich die Strategie der
– heute kaum noch möglichen - militärischen Expansion zur Sicherung
von Geldquellen erweisen, wie etwa der Ölfelder, die die Terrormiliz
durch US-Luftschläge zunehmend verlor und die russische Luftwaffe
stoppte den einst so lukrativen Schmuggelweg in die Türkei. Auch die
Besteuerung der Bevölkerung, sowie der Raub eroberter Besitztümer spült
nun weit geringere Erträge in die Kassen und zwingt den IS die Löhne und
sonstige Vergünstigungen für Kämpfer zu kürzen – ein weiterer Grund für
Desertionen.
Analysten sind sich einig, auch wenn der IS sein Netzwerk nach
Asien Nordafrika und Europa auszuweiten vermag, sein Niedergang im
zentralen Kerngebiet Syriens und des Iraks erscheint unvermeidlich und
er dürfte extrem gewalttätig sein. Je schwächer der „Islamische Staat“
wird, desto mehr sucht er in wenig kostenaufwendigen, aber extrem
schockierendenTerrorattacken wie jenen von Brüssel oder Paris den
Anschein von Stärke, von anhaltender Attraktivität für potentielle
Rekruten zu projizieren und zugleich die westliche Gesellschaft zu
spalten und zu schwächen. Die Tatsache, dass die IS-Führung schon vor
Monaten deutschsprachige Extremisten für den Einsatz in Europa anwarb,
zeigt dass Deutschland und Österreich wichtige Terrorziele sein dürften,
deren Bedeutung mit dem Niedergang des „Kalifats“ steigt. Die im
Abkommen der EU mit der Türkei vereinbarte Visafreiheit für türkische
Staatsbürger birgt eine zusätzliche Möglichkeit potentieller
islamistischer Gewalttäter in Europa Fuß zu fassen. Denn unter Präsident
Erdogan hat sich die türkische Gesellschaft zunehmend islamisiert,
Tausende Türken sympathisieren mit dem IS und nach einer Umfrage meinen
gar 15 Prozent, der IS sei keine Gefahr für ihr Land. Nur zögernd und
nach einigen Attentaten auf türkischen Boden begannen die türkischen
Sicherheitskräfte diesen Terroristen, die ihr Präsident monatelang
stillschweigend gefördert hatte, das Handwerk zu leben.
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