Freitag, 12. Februar 2016

Jeder Zehnte Syrer tot oder verletzt

Fast die Hälfte der Bevölkerung ist auf der Flucht, während die Lebenserwartung von 70 auf 55 Jahre absackte
 
von Birgit Cerha
 
Etwa 300.000 Zivilisten in Syriens größter Stadt Aleppo hoffen, das Schlimmste werde ihnen erspart, wenn die Donnerstagabend  auf der Syrien-Konferenz in München geschlossene Übereinkunft in die Tat gesetzt wird und das Assad-Regime die Metropole nicht durch Aushungern zur Kapitulation zwingt. Dabei unterstützen keineswegs alle Bewohner der Stadt die Rebellen gegen Assad, nicht wenige – genau Zahlen kennt niemand – stehen immer noch hinter dem Regime und viele blieben bis heute neutral. Die Hoffnung wächst, dass München die vielleicht größte humanitäre Katastrophe in diesem fast fünfjährigen Krieg abwenden kann.
Doch unabhängig von Aleppo sind die Folgen dieses Krieges für das Land und seine Menschen vernichtend. Die unabhängige, seit kurzem in Beirut stationierte Denkfabrik „Syrian Center for Policy Research“ (SCPR) kommt in einer mit der „American University of Beirut“ verfassten Studie zu dem Schluss, dass 400.000 Menschen seit 2011 direkt durch Militäraktionen ums Leben kamen und weitere 70.000 als Folge des Krieges – mangelhafte medizinische Versorgang, fehlende Medikamente und Nahrungsmittel, kein Zugang zu Trinkwasser – starben. 1,9 Millionen erlitten Verletzungen. Damit wurde jeder zehnte Syrer getötet oder verletzt. Die Lebenserwartung syrischer Bürger sank damit von 70 Jahren vor Kriegsbeginn auf heute 55,4.
45 Prozent der Vorkriegs-Bevölkerung ist auf der Flucht, 6.36 Millionen innerhalb Syriens und vier Millionen suchten Schutz im Ausland, wo sie vom UN-Flüchtlingshochkommisariat (UNHCR) registriert wurden, davon 2,1 Millionen in Jordanien, im Libanon, im Irak und in Ägypten,  1,9 Millionen in der Türkei und mehr als 26.700 in Nord-Afrika. Zwischen April 2011 und Dezember 2015 suchten weniger als 900.000 Syrier in europäischen Ländern um Asyl an.
Humanitäre Einrichtungen werden in diesem Krieg schon seit langem nicht verschont. 177 Spitäler wurden zerstört und 700 Ärzte und medizinische Hilfskräfte kamen ums Leben. Die mittelalterliche Kriegsmethode der Belagerung und Aushungerung der Zivilbevölkerung, die vor allem das Assad-Regime intensiv anwendet trifft nach Schätzungen der Gruppe „Siege Watch“ mehr als eine Million Menschen, mehr als doppelt so viele als die UNO angibt. Vertreter von Hilfsorganisationen, die im Januar das seit vielen Monaten von Regierungssoldaten belagerte Bergstädtchen Madaya, nordwestlich von Damaskus, nach langen Verhandlungen mit dem Regime betreten konnten, fanden zu Skeletten abgemagerte Menschen vor, die ihre hungernden Kinder nur durch Schlafmittel zur Ruhe bringen konnten. „Siege Watch“ nennt 46 belagerte Orte in Syrien und schließt damit auch jene Regionen mit ein, die nicht völlig abgeriegelt sind, in denen die Menschen aber dennoch unter gravierendem Mangel an Nahrungsmitteln, Krankheiten ohne medizinischer Versorgung etc. leiden. Manche sind bereits seit Jahren belagert, überwiegend durch das Regime, einige aber auch durch Rebellen. „Ärzte ohne Grenzen“ schätzt, dass insgesamt 1,9 Millionen Syrer in barrikadierten Gebieten ausharren, in denen ihnen regelmäßige humanitäre Hilfe ebenso verwehrt wird, wie die Möglichkeit dieser Belagerung zu entkommen. Das volle Ausmaß dieses Leidens bleibt bisher der Welt verborgen.
Nicht zuletzt aufgrund schwerster Schäden an der Infrastruktur erlitt die Wirtschaft durch den Krieg laut SCPR bisher Verluste von geschätzten 255 Mrd. Dollar. 69,3 Prozent der Bevölkerung leben in extremer Armut, 35 Prozent können sich nicht mehr mit dem zum Überleben Notwendigen versorgen. Die Zersplitterung des Landes schreitet alarmierend voran, da auch die diversen bewaffneten Gruppen in den von ihnen kontrollierten Gebieten ihre eigenen unabhängigen ökonomischen Einheiten aufbauen.
Was SCPR auf lange Sicht besonders alarmiert, ist die zunehmende Zerstörung der sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Strukturen in der syrischen Gesellschaft, für die sie nicht nur die internen Kriegsgegner, sondern auch die äußeren Kräfte verantwortlich machen, die mehr und mehr die Souveränität des Staates untergraben.
 

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