Fast die Hälfte der Bevölkerung ist auf der Flucht, während die Lebenserwartung von 70 auf 55 Jahre absackte
von Birgit Cerha
Etwa 300.000 Zivilisten in Syriens größter Stadt Aleppo hoffen, das
Schlimmste werde ihnen erspart, wenn die Donnerstagabend auf der
Syrien-Konferenz in München geschlossene Übereinkunft in die Tat gesetzt
wird und das Assad-Regime die Metropole nicht durch Aushungern zur
Kapitulation zwingt. Dabei unterstützen keineswegs alle Bewohner der
Stadt die Rebellen gegen Assad, nicht wenige – genau Zahlen kennt
niemand – stehen immer noch hinter dem Regime und viele blieben bis
heute neutral. Die Hoffnung wächst, dass München die vielleicht größte
humanitäre Katastrophe in diesem fast fünfjährigen Krieg abwenden kann.
Doch unabhängig von Aleppo sind die Folgen dieses Krieges für das
Land und seine Menschen vernichtend. Die unabhängige, seit kurzem in
Beirut stationierte Denkfabrik „Syrian Center for Policy Research“
(SCPR) kommt in einer mit der „American University of Beirut“ verfassten
Studie zu dem Schluss, dass 400.000 Menschen seit 2011 direkt durch
Militäraktionen ums Leben kamen und weitere 70.000 als Folge des Krieges
– mangelhafte medizinische Versorgang, fehlende Medikamente und
Nahrungsmittel, kein Zugang zu Trinkwasser – starben. 1,9 Millionen
erlitten Verletzungen. Damit wurde jeder zehnte Syrer getötet oder
verletzt. Die Lebenserwartung syrischer Bürger sank damit von 70 Jahren
vor Kriegsbeginn auf heute 55,4.
45 Prozent der Vorkriegs-Bevölkerung ist auf der Flucht, 6.36
Millionen innerhalb Syriens und vier Millionen suchten Schutz im
Ausland, wo sie vom UN-Flüchtlingshochkommisariat (UNHCR) registriert
wurden, davon 2,1 Millionen in Jordanien, im Libanon, im Irak und in
Ägypten, 1,9 Millionen in der Türkei und mehr als 26.700 in
Nord-Afrika. Zwischen April 2011 und Dezember 2015 suchten weniger als
900.000 Syrier in europäischen Ländern um Asyl an.
Humanitäre Einrichtungen werden in diesem Krieg schon seit langem
nicht verschont. 177 Spitäler wurden zerstört und 700 Ärzte und
medizinische Hilfskräfte kamen ums Leben. Die mittelalterliche
Kriegsmethode der Belagerung und Aushungerung der Zivilbevölkerung, die
vor allem das Assad-Regime intensiv anwendet trifft nach Schätzungen der
Gruppe „Siege Watch“ mehr als eine Million Menschen, mehr als doppelt
so viele als die UNO angibt. Vertreter von Hilfsorganisationen, die im
Januar das seit vielen Monaten von Regierungssoldaten belagerte
Bergstädtchen Madaya, nordwestlich von Damaskus, nach langen
Verhandlungen mit dem Regime betreten konnten, fanden zu Skeletten
abgemagerte Menschen vor, die ihre hungernden Kinder nur durch
Schlafmittel zur Ruhe bringen konnten. „Siege Watch“ nennt 46 belagerte
Orte in Syrien und schließt damit auch jene Regionen mit ein, die nicht
völlig abgeriegelt sind, in denen die Menschen aber dennoch unter
gravierendem Mangel an Nahrungsmitteln, Krankheiten ohne medizinischer
Versorgung etc. leiden. Manche sind bereits seit Jahren belagert,
überwiegend durch das Regime, einige aber auch durch Rebellen. „Ärzte
ohne Grenzen“ schätzt, dass insgesamt 1,9 Millionen Syrer in
barrikadierten Gebieten ausharren, in denen ihnen regelmäßige humanitäre
Hilfe ebenso verwehrt wird, wie die Möglichkeit dieser Belagerung zu
entkommen. Das volle Ausmaß dieses Leidens bleibt bisher der Welt
verborgen.
Nicht zuletzt aufgrund schwerster Schäden an der Infrastruktur
erlitt die Wirtschaft durch den Krieg laut SCPR bisher Verluste von
geschätzten 255 Mrd. Dollar. 69,3 Prozent der Bevölkerung leben in
extremer Armut, 35 Prozent können sich nicht mehr mit dem zum Überleben
Notwendigen versorgen. Die Zersplitterung des Landes schreitet
alarmierend voran, da auch die diversen bewaffneten Gruppen in den von
ihnen kontrollierten Gebieten ihre eigenen unabhängigen ökonomischen
Einheiten aufbauen.
Was SCPR auf lange Sicht besonders alarmiert, ist die zunehmende
Zerstörung der sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen
Strukturen in der syrischen Gesellschaft, für die sie nicht nur die
internen Kriegsgegner, sondern auch die äußeren Kräfte verantwortlich
machen, die mehr und mehr die Souveränität des Staates untergraben.
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