Montag, 8. Februar 2016

Aleppo droht eine humanitäre Katastrophe

In der Schlacht um Syriens größte Stadt entscheidet sich das Schicksal der Rebellen gegen Assad
 
Von Birgit Cerha

„Es ist das Schlimmste was wir seit Kriegsbeginn gesehen haben“, berichtet der Vertreter einer humanitären Organisation aus der bitter umkämpften syrischen Metropole Aleppo. Während in den vergangenen Tagen bis zu 70.000 Menschen aus der Stadt und den nördlich angrenzenden Regionen zur türkischen Grenze flüchteten, stellt sich die zurückgebliebene Bevölkerung der Provinz Aleppo auf das Schlimmste ein, nachdem syrische Regierungstruppen, unterstützt durch massive russische Bombardements in der Vorwoche Aleppos wichtigste Lebensader zur Türkei, den fünf bis 15 km breiten Azaz-Korridor, unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Zur Versorgung der Bevölkerung bleibt nur noch eine schmale und äußerst unsichere Verbindung zur Außenwelt.
Nach Schätzungen halten sich derzeit immer noch rund 400.000 Zivilisten in den von Rebellen  kontrollierten Teilen der Millionenmetropole auf. Sie befürchten das Assad-Regime werde nun auch gegen sie die mörderische Methode des „Kapituliere oder Verhungere“ anwenden, um äußerst verlustreiche Haus-zu-Haus Kämpfe zu vermeiden. Aushungern der Zivilbevölkerung ist eine Kriegswaffe, die beide Seiten seit Jahren gnadenlos anwenden. Laut UNO sind derzeit insgesamt fast 400.000 Zivilisten in 19 Städten und Dörfern belagert, 16 davon von  Regierungstruppen, zwei von oppositionellen Kämpfern und eine Stadt von der Terrormiliz des „Islamischen Staates“, IS.
Hilfsorganisation warnen, dass die Bewohner der Stadt nach Jahren des Krieges erschöpft, verarmt und kaum noch in der Lage sind, sich lebenswichtige Vorräte für eine vielleicht monatelange Blockade anzulegen. Eine totale Isolierung der Stadt würde auch die Energiezufuhr blockieren und damit u.a. vor allem die Wasserversorgung, die aus elektrisch betriebenen Brunnen gesichert wird.
Doch Rebellensprecher bekräftigen die Entschlossenheit, Aleppo bis zum Tode zu verteidigen. Einem Appell an Mitkämpfer und Gesinnungsgenossen in anderen Teilen Syriens seien nach Angaben von Oppositionellen Tausende gefolgt. Rund 60.000 bewaffnete Gegner Assads stünden nun bereit zur Entscheidungsschlacht. Unabhängige Quellen halten diese Zahl allerdings für übertrieben. Doch der Einsatz von Kindersoldaten, manche nur zehn Jahre oder gar jünger, über den Regierungssoldaten berichten, lässt den Grad der Verzweiflung erkennen, die die Rebellen angesichts der massiven Offensive Assads und Russlands erfasst hat.
Aleppo besitzt für das Regime, wie für dessen Gegner, einen hohen symbolischen, strategischen und politischen Wert. Seit sie 2012 in die Stadt einzogen, kontrollieren diverse Rebellengruppen, von der vom Westen unterstützten „Freien Syrischen Armee“ bis zum Al-Kaida-Ableger „Al-Nusra“ einen großen Teil der Metropole und den nördlichen Teil der Provinz, während sich Assad nun auf intensiven Einsatz nicht nur der russischen Luftwaffen, sondern auch diverser vom Iran geförderter schiitischer Milizen aus dem Libanon, dem Irak, sowie in den Iran geflüchteten Afghanen stützen kann. Die sich neutral verhaltende„Kurdische Demokratische Unionspartei“ (PYD) kontrolliert ein Gebiet Nord-Aleppos.
Beobachter sind sich einig, dass die Schlacht um Aleppo den fünfjährigen Krieg entscheiden kann. Seit der russischen Militärintervention im September hat sich das Kriegsglück des schwer bedrängten Diktators zusehends gewandelt. Die zunehmende Einigung seiner jahrelang tief zersplitterten Gegner dank militärischer Erfolge hatte Assad an den Rand der Niederlage getrieben. Dank russischer und intensiver iranischer Hilfe konnten die Regierungssoldaten Zug um Zug wichtige Territorien zurückerobern. Durch diese Serie von Niederlagen brachen neue Konflikte zwischen den Rebellen aus, die nun erneut in Hunderte größere und kleinere Gruppen zersplittert sind und allein in jüngster Zeit 20 Führer rivalisierender Gruppen töteten. Ziehen Assads Truppen mit russischer Hilfe einen festen Belagerungsring um Aleppo dürfte nach Ansicht von Experten das Schicksal der Opposition besiegelt sein.
Russlands Präsident Putin hat nach Einschätzung von Fabrice Balanche vom „Washington Institute für Near East Policy“ seine drei wichtigsten strategischen Ziele in Syrien schon fast erreicht: Schutz der von der alawitischen Minderheit Assads bewohnten Küstenregion, in der Moskau seine logistischen Basen eingerichtet hatte; Vertreibung der Rebellen aus den großen Städten. Das letzte Ziel, Blockade der Nachschublinien aus der Türkei, ist mit der Kontrolle über den Azaz-Korridor, aus den die durch russische Hilfe gestärkten, von der PYD angeführten „Demokratischen Truppen Syriens“ Nusra und andere Islamistengruppen vertrieben hatten, nun durch massive russische Luftangriffe zur Hälfte gelungen. Nun bleibt die Straße von Aleppo zu dem von Islamisten kontrollierten westlichen Bab al-Hawa-Grenzübergang zur Türkei.
Die drohende Niederlage ihrer Verbündeten und damit das totale Scheitern ihrer Syrienpolitik bedeutet für Ankara und seinen saudischen Partner ein enorme Herausforderung, die sie zu Aktionen mit höchst gefährlichen Folgen provozieren könnten.

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