Russen und Amerikaner sehen die Kurden als Teil der Lösung in
Nord-Syrien – für die Türkei ein Alptraum-Szenario und sie reagiert
rabiat
von Birgit Cerha
Ankara lässt sich nicht mehr beschwichtigen. Internationale
Appelle zur Zurückhaltung prallen ab. Nach drei Tagen intensiver
Artillerieattacken gegen Positionen der syrisch-kurdischen Miliz YPG
(Volksverteidigungseinheiten) und deren Frauenbatallion YPJ im Gebiet
um die Grenzstadt Asas droht der türkische Premier Davutoglu mit der
„brutalsten Reaktion“, sollten die kurdischen Kämpfer nicht die in der
Vorwoche eroberten Positionen nördlich von Aleppo aufgeben. Im Schatten
der von der russischen Luftwaffe massiv unterstützten Großoffensive des
Assad-Regimes gegen Aleppo haben die Kurden den Militärflughafen Menagh
vom syrischen Al-Kaida-Ableger „Al-Nusra“ erobert. Menagh liegt
zwischen zwei wichtigen Routen, die von Aleppo in die weiter nördlich,
nahe der türkischen Grenze gelegene Stadt Asas führen und über die
Ankara islamistische Rebellen in Aleppo mit Nachschub versorgte. Asas,
westlich des Euphrat gelegen, ist das nächste Ziel der YPG, um
schließlich die gesamte 900m km lange Grenze abzuriegeln. Für Ankara
haben die Kurden damit eine „rote Linie“ überschritten.
Am Euphrat haben die Türken die letzte Toleranzgrenze gezogen, bis
zu der die YPG von Osten her voranschreiten dürfe und Ankara ist
entschlossen, die kurdischen Kämpfer zurückzudrängen, koste es was es
wolle. Asas wird von „gemäßigten“ und islamistischen Rebellen
kontrolliert, das Gebiet weiter westlich des Euphrat an der Grenze zur
Türkei von der Terrormiliz des Islamischen Staates (IS). „Wir können
alle Maßnahmen ergreifen“, warnt Davutoglu, um zu verhindern, dass die
Kurden Syriens die gesamte Region Nordsyriens erobern. Voll Unbehagen
beobachtet Ankara, wie die Kurden Syriens internationales Profil
gewinnen. Selbst sein engster strategischer Verbündete, die USA,
schätzen den militärischen Arm der „Kurdischen Demokratischen
Unionspartei“ (PYD) , die YPG nun als schlagkräftigste, unverzichtbare
Kämpfer gegen den IS ein und sind sich sogar mit Russland einig, dass
Syriens Kurden Teil der Lösung des nordsyrischen Kriegsgeschehens sein
müssen – ein Alptraum-Szenario für Erdogan.
Die Heimatregion der rund zwei Millionen Kurden Syriens ist das
Grenzgebiet zur Türkei, starke Gemeinden leben auch in Nord-Aleppo und
in Damaskus. Syriens Herrscher haben der Minderheit seit Jahrzehnten
ihre Grundrechte verwehrt und sie durch eine aggressive
Arabisierungspolitik dramatisch geschwächt, das Hauptsiedlungsgebiet
zwischen den drei Administrationsregionen Hassakah und Kobane sowie
Afrin im Westen gespalten.
Als im März 2011 der „arabische Frühling“ auch Syrien erfasste,
verhielten sich die Kurden weitgehend neutral. Das Regime zog sich
kampflos aus den kurdischen Kerngebieten zurück und „Rojava“ wurde unter
Führung der linksorientierten PYD, die sich als stärkste Kurdenpartei
etablierte, geboren. Nach dem Vorbild des autonomen nordirakischen
Kurdistan begannen die Kurden sich selbst zu verwalten und während der
Rest Syriens im blutigen Krieg versank, herrschte in „Rojava“ lange
relative Ruhe. Doch ein selbständiges Kurdistan nicht nur im Irak,
sondern auch an der südlichen Grenze der Türkei war für Ankara von
Anfang an inakzeptabel , fürchten die türkischen Nationalisten doch
allzu sehr die Ausbreitung des Freiheitsbazillus auf ihre eigene
unterdrückte Minderheit.
Die Wende kam, als der IS im September 2014 Kobane belagerte und
die Vernichtung der strategisch wichtigen Grenzstadt, in der kurdische
Freiheitsgefühle traditionell besonders stark pulsierten, drohte. Nach
langem Zögern entschlossen sich die USA zum Entsetzen der das Geschehen
tatenlos beobachtenden Türken, Kobane vor dem IS zu retten. Der Preis:
mehr als tausend Tote und die totale Zerstörung der Stadt. Vor den
entsetzten Augen Ankaras begann Washington der YPG Waffen zu liefern,
Kämpfer zu trainieren und in Syrien mit seiner Luftwaffen YPG-Offensiven
gegen den IS mit beträchtlichem Erfolg zu führen. Es war der Anfang der
effizientesten militärischen Kooperation der USA mit lokalen
Bodenkämpfern. Für Ankara aber sind die Kurden der Hauptfeind, weit
gefährlicher als die mörderische IS-Terrormiliz. Das stellte Erdogan
wiederholt klar. Ankara sieht die PYD und YPG als Tochterorganisation
der türkischen „Arbeiterpartei Kurdistans“ PKK und stuft sie deshalb als
„Terroristen“ ein, wiewohl sie nie - und schon gar nicht in der Türkei
- Terrorakte verübt hatten. Allerdings verdanken die YPG-Kämpfer ihre
Schlagkraft intensivem Training durch die PKK in deren Stützpunkten im
nordirakischen Kandil-Gebirge. Der Türkei erscheinen die kurdischen
Kämpfer aber auch deshalb so gefährlich, weil sie keine reguläre Armee
sind, sondern hochmotivierte Männer und Frauen, die um ihr Land, um die
ihrem Volk stets verwehrten Rechte, um ihr Leben kämpfen und weil für
sie die am Ende des Ersten Weltkrieges von den Kolonialmächten
willkürlich gezogenen Grenzen – im Fall von Syrien-Türkei etwa die
Berlin-Bagdad-Basra Eisenbahnlinie, die Städte, Clans und Familien
spaltete – keinerlei Bedeutung besitzt. Im Gegensatz zu den diversen in
Syrien kämpfenden nichts-syrischen Rebellengruppen kämpfen die Kurden um
ihr Heimatland.
Während Washington PYD bedrängte, den NATO-Partner Türkei nicht
durch weitere Geländegewinne im Grenzgebiet zu provozieren, hielt sich
Ankara mit militärischen Attacken gegen Syriens Kurden zurück, wiewohl
es ihnen selbst in höchster Not etwa in Kobane keine humanitäre Hilfe
leistete. Doch die entscheidende Wende kam im September, als sich
Russland zur Intervention gegen Assads Feinde entschloss und damit den
Kurden neue Optionen bot, sollte Washington verraten, um die Türkei
nicht zu sehr zu vergrämen. Auch Moskau schätzt unterdessen die YPG als
verlässlichste und bestens trainierte Kämpfer auf dem syrischen
Schlachtfeld. Wenn es um die Absicherung des alawitischen Kerngebietes
um Latakia geht, wo Russland seine militärischen Stützpunkte unterhält,
wäre die YPG wichtigster Partner.
Die PYD gibt sich diplomatisch. „Wir begrüßen strategische
Beziehungen mit beiden, Russland und den USA. Wir würden nicht den einen
auf Kosten des anderen vorziehen“, betont Sherzad Yazidi, Vertreter von
„Rojava“ im Nord-Irak. PYD-Chef Salih Muslim weist darauf hin, dass
seine Partei schon seit drei Jahren gute Beziehungen mit Moskau
unterhielte. Seit dem Vorjahr lieferte der Kreml auch Waffen und eben
hat die PYD ihre erste offizielle Vertretung im Ausland in Moskau
eröffnet. „Wir werden auf der Seite jener stehen, die gegen die IS“ und
dessen Mentalität“ kämpfen, bekräftigt Muslim. Zugleich kam es zu einem
heftigen verbalen Schlagabtausch zwischen Washington und Ankara, da sich
die USA weigern, die Kontakte zur YPG abzubrechen und die PYD, wie die
PKK auf die Terrorliste zu setzen.
Diese Entwicklung engt den türkischen Handlungsspielraum drastisch
ein. Die Vereinigung der kurdischen Verwaltungsgebiete an der Grenze zur
Türkei ist das zentrale Ziel der PYD. Im Gegensatz zum amerikanischen
Verbündeten Ankaras hat Moskau kein Interesse, die Kurden daran zu
hindern. Doch PYD setzt – vorerst - stärker auf die USA. Trotz ihrer
Neutralität im Krieg gegen Assad lehnen die Kurden eine Zukunft mit dem
Diktator entschieden ab. „Wir kooperieren mit Russland in Afrin, das
bedeutet aber nicht, dass wir mit Assad kooperieren“, betont
PYD-Vertreter Gharib Hassou. Denn Assad hatte ihre Grundrechte nicht
anerkannt und zudem wollen sich die Kurden die Beziehungen zumindest mit
den Gemäßigten in der arabisch-sunnitischen Opposition nicht ganz
verscherzen. Doch sollte Washington die jüngsten Pläne realisieren und
eine neue arabische Brigade zur Kontrolle des syrischen Grenzgebietes
zur Türkei ohne oder mit nur schwacher kurdischer Beteiligung auf die
Beine stellen, um Ankara zu beschwichtigen, könnte die russische Option
für die PYD an Attraktivität gewinnen. Denn vor allem geht es den Kurden
doch darum, den Einsatz ihres Lebens und den Sieg auf dem Schlachtfeld
im Kampf gegen den IS politisch umzusetzen und endlich jene Legitimität
zu erringen, die ihnen so lange verwehrt wird.
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