Der getötete schiitische Ayatollah al-Nimr war ein schmerzhafter
Stachel im Fleisch des saudischen Königshauses – Droht nun ein
Bürgerkrieg?
von Birgit Cerha
„Nieder mit dem Haus Saud“ brüllten empörte schiitische Bürger in
Katif, der Heimatstadt des Samstag, gemeinsam mit 46 anderen Saudis
hingerichteten schiitischen Ayatollah Nimr al Nimr.Aus Angst vor
schweren Unruhen appellierte die Polizei an die Bürger, ihre Waffen
bereitzuhalten, um Menschen an Protesten zu hindern. Manche
Kommentatoren befürchten bereits, die Massenexekution könnte das Ölreich
an den Rand eines Bürgerkrieges treiben.
Während der Großteil der Exekutierten wegen des Vorwurfs der
Kollaboration mit Al-Kaida Terroristen hingerichtet wurde, war Nimr mit
mindestens drei anderen Exekutierten ein gewaltloser politischer
Aktivist, der laut „Amnesty International“ und „Human Rights Watch“ in
einem „zutiefst unfairen Prozess“ im Oktober 2014 nach zwei Jahren
Gefängnis wegen Aufwiegelung, Ungehorsams und Waffenbesitzes zum Tode
verurteilt worden war. Er hatte vor allem unter der tief frustrierten
schiitischen Jugend Saudi-Arabiens, wie des benachbarten Bahrain enorme
Popularität gewonnen. als er zu Beginn des „Arabischen Frühlings“ 2011
die Gedanken von Freiheit, Würde und Mitbestimmung unter den
unterdrückten Schiiten verbreitete und damit weitgehend friedliche
Demonstrationen gegen das Regime auslöste. Das sunnitische Haus Saud
aber sah in ihm einen höchst gefährlichen Aktivisten, der grundlegende
Reformen und vor allem die Gleichberechtigung der Schiiten forderte.
Auch zögerte Nimr nicht vor offener Kritik am autokratischen Regime.
Doch er lehnte entschieden Methoden der Gewalt ab. Mit dem „Schrei des
Wortes“ könne man stärkere Wirkung erzielen als mit Waffen, erklärte der
Geistliche, der zehn Jahre lang im Iran studiert hatte, einmal
gegenüber der britischen BBC.
Nimrs Exekution wird zweifellos die latenten Spannungen zwischen
Sunniten und Schiiten in Saudi-Arabien gefährlich verschärfen. Schon
warnte der schiitische Ex-Premier des Iraks, Maliki, vor der
Beispielwirkung des irakischen Diktators Saddam Hussein, der sich
ebenfalls als er einen populären schiitischen Geistlichen, Mohammed Bakr
al Sadr, hinrichten ließ, den Zorn der Schiiten zuzog und schließlich
die Macht verlor.
Saudi-Arabiens Schiiten, die etwa 15 Prozent der
29-Millionen-Bevölkerung stellen und im ölreichen Osten des Landes
konzentriert sind, leiden seit Gründung des Königreiches vor 84 Jahren
an institutioneller Diskriminierung und teilweise scharfer und brutaler
Repression. Katif, Nimrs Heimatregion, galt seit der islamischen
Revolution im Iran 1979 als Hochburg regimekritischer Agitation.
Wiederholt kam es dort zu Zusammenstößen, bei denen die Polizei brutal
zuschlug. Saudi-Arabien enthält den Schiiten, die das mächtige
Establishment der wahhabitischen Geistlichen als Abtrünnige vom „wahren
Islam“ ihrer radikalen Interpretation verdammt, bis heute die
Grundrechte vor: Diskriminierung im Bidlungssystem, in der Arbeitswelt,
im öffentlichen Leben und in der Politik. Radikale wahhabitische Ulema
(Gelehrte) vertreten bis heute die Ansicht, Schiiten sollten aus dem
Land vertrieben oder getötet werden – eine Position, die sich nicht von
jener der Terrormiliz des „Islamischen Staates“ unterscheidet. Derart
indoktriniert hegt auch ein beträchtlicher Teil der sunnitischen
Bevölkerung Saudi-Arabiens tiefes Misstrauen bis extreme Abneigung
gegenüber den Schiiten.
Manche unabhängige Analysten sind überzeugt, die Massenexekutionen
entspringen einer panischen Angst des Regimes, Rebellionen in der
schiitischen Ostprovinz könnte das Haus Saud zu einem Zeitpunkt zu Fall
bringen, da der extrem niedrige Ölpreis und massive Kosten der Kriege in
Syrien und dem Jemen das Land zu einem für die materiell so lange
verwöhnte Bevölkerung empfindlichen Sparkurs zwingen würde. Zudem regt
sich unter den mächtigen Ulema tiefe Unzufriedenheit über den
außenpolitischen Kurs Riads, das sich der von den USA geführten
Koalition gegen den IS angeschlossen hatte – ein Unbehagen, das sich
seit Beginn massiver Luftschläge Russlands auf Positionen der
Terrormiliz und anderer radikal-islamistischer, von Saudi-Arabien
unterstützter Gruppen in Syrien noch wesentlich verstärkt hat. Die Zahl
der Sympathisanten unter der sunnitischen Bevölkerung ist groß genug,
um den Monarchen in die Enge zu treiben. Durch die Hinrichtung dieses
prominenten schiitischen Geistlichen, neben Al-Kaida Aktivisten, hofft
der in manchen Kreisen als schwach kritisierte König Salman wohl Stärke
zu beweisen und vor allem die Ulema zu beschwichtigen. Solche Strategie
kann sich als fataler Bumerang erweisen.
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