Dienstag, 12. Januar 2016

Es geht nicht wirklich um Sex

Gewalt gegen Frauen ist kein kulturspezifisches Problem – Sie entspringt einer Mischung aus politischen, religiösen, kulturellen und ökonomischen Faktoren
 
 von Birgit Cerha
 
„Sie hassen uns.“ Mit diesen Worten fasste die ägyptische Journalistin Mona al-Tahawi in einem 2012 im amerikanischen Magazin „Foreign Policy“ erschienenen Artikel den Versuch zusammen, die Gründe für die Unterdrückung der Frauen durch die Männer in der arabischen Welt darzustellen. Allein dieser Hass erkläre das Verlangen der Männer, volle Kontrolle über die Sexualität der Frauen zu gewinnen. Tahawi löste mit ihrer flammenden Anklage gen Rückständigkeit und männliche Machtpolitik einen Sturm der Empörung selbst unter engagierten arabischen Feministinnen aus, zugleich aber – wohl gewollt – eine heftige bis heute anhaltende Diskussion über Diskriminierung, Ausbeutung und Missbrauch von Frauen im Orient.
In Wahrheit sind die Ursachen sexistischen Verhaltens bis zur Gewalt gegen Frauen weit komplexer. Es sind kulturellen, politische, religiöse, ökonomische und soziale, aber auch psychologische Faktoren, die keineswegs nur in der arabische Welt quälen.  Statistiken sprechen für sich:  Nach einer Expertenumfrage ist der Missbrauch von Frauen unter den 22 arabischen Staaten im Ägypten am schlimmsten, gefolgt vom Irak, erst dann Saudi-Arabien, Syrien und der Jemen. Nach einem UN-Bericht von 2013 gaben 99,3 Prozent der ägyptischen Frauen an, sexuelle Übergriffe erlitten zu haben., 81 Prozent davon in der Öffentlichkeit, ohne Hilfe von Unbeteiligten zu erhalten.  In Großbritannien klagen eine von vier Frauen über sexuelle Belästigungen. Ein Bericht europäischen Agentur für Grundrechte belegt, dass in Europa 62 Mio. Frauen seit ihrem 15. Lebensjahr körperliche oder sexuelle Gewalt erfahren, in Deutschland sind es 35 Prozent und neun Mio. Europäerinnen wurden vergewaltigt.
Dennoch, die Ereignisse von Köln und anderen deutschen Städten erinnern an Kairo, während der Massenproteste des „ Arabischen Frühlings“  Frauen auf dem Tahrir-Platz in ähnlicher Weise wie in der Sylversternacht in Deutschland begrabscht,  entkleidet, vergewaltigt und in einem Fall gar mit einem Messer misshandelt wurden und niemand zu Hilfe eilte oder eilen konnte.
Es war ein neues Phänomen am Nil, wo der Arabische Frühling junge Männer und Frauen in Eintracht zum Protest gegen die Diktatur Mubarak zusammenbrachte. Die Sexualverbrecher  waren, wie sich später heraus stellte, organisierte Schergen des herrschenden politischen und patriarchalen Systems, auf das die Rebellion, vor allem durch die starke Beteiligung der Frauen zielte. Die Motive waren rein machtpolitisch. Die Methoden dieser Kontrarevolution entsprangen der Tradition Diktator Mubaraks, der seine Polizisten zu Zwecken der Einschüchterung politischer Gegner insbesondere Frauen, aber auch Männer, sexuell quälen ließ. Dass sein Nachfolger am Despoten-Stuhl, der damalige General Sisi, die Polizei zur Fortsetzung der „Jungfrauentests“ aufrief, lässt wenig Zweifel am Fortleben dieser Geisteshaltung in den Amtsstuben der heutigen Herrscher.
Hauptproblem, darin sind sich viele Feministinnen einig, ist das Patriarchat, einst von den Kolonialmächten, den Osmanen, Briten und Franzosen aufgebaut und zur Stabilisierung ihre Macht in der Region gestärkt. Durch gesetzliche Regelungen, die die Macht über die Frauen zementierten, köderten sie die Männer. Als dies nicht reichte, taten sie dasselbe mit den islamischen Predigern und verankerten so den patriarchale Geist tief in der Gesellschaft und mit ihm die Institutionen, die sich bis heute nicht aufbrechen lassen. Mit zunehmenden politischen, militärischen, ökonomischen und sozialen Krisen wuchs die Macht der konservativen Geistlichen, die im Sinne des Patriarchats die totale Kontrolle des Familienoberhaupts über den Körper der Frau – zur Erhaltung dieses Systems – förderten und stärkten. Über Generationen wurden Söhne zur Machtübernahme in der Familie – und damit über die Ehefrau – erzogen.
Doch Gewalt gegen Frauen hat noch andere Ursachen. Auch diese zeigen sich deutlich am Beispiel Ägypten: gravierende ökonomische und soziale Probleme,  Armut, Perspektivlosigkeit, ein starkes Sinn-Problem und damit einhergehende persönlichen Schwäche- und Minderwertigkeitsgefühle.  Ägypten steckt, wie auch andere arabische Länder, in einer tiefen Wirtschaftskrise mit einer insbesondere unter der Jugend enorm hohen Arbeitslosigkeit.30-Jährige, die traditionell längst einer Familie vorstehen sollten, können sich keine Frau nehmen, weil sie kein Geld verdienen, um den oft beträchtlichen Brautpreis zu bezahlen und schon gar nicht eine eigene Wohnung. Sie leben weiterhin bei den Eltern und haben in dieser immer noch stark traditionalistischen Gesellschaft kaum Freiraum, sich mit Mädchen zu treffen, zugleich keine Aussicht auf Verbesserung ihrer Situation. Sexuelle Frustration ist dann die letzte Antriebskraft für einen Übergriff gegen Frauen, der nach Ansicht von Experten meist männlichen Machtvorstellungen und deren Befriedigung dient. Agitation in einer Gruppe von Schicksalsgenossen hilft ihnen den Mut zur Tat zu finden.
Die Gesetze und die Traditionen der arabischen Gesellschaften schützen die Männer weitgehend vor Strafe für sexuelle Übergriffe. Schuld etwa an Vergewaltigung trägt fast immer die Frau, deren “Provokationen“ nach Vorstellungen der Justiz und des konservativen Teils der Gesellschaft der Mann hilflos ausgeliefert ist. Diese Grundregel  predigen auch islamische Geistliche, insbesondere jene intensiv von Saudi-Arabien geförderten, die eine besonders radikale und patriarchale Form des Islam in der arabischen Welt verbreiten und dies zunehmend auch in Europa tun.
Dennoch: Eine kleine Hoffnung lebt seit dem Zusammenbruch des Arabischen Frühlings fort. Junge arabische Frauen schweigen nicht mehr und zunehmend schließen sich ihnen auch junge Männer mit dem Ziel an, den intoleranten patriarchalen Geist abzutöten und den Frauen zu dem ihnen gebührenden Schutz , ihren Rechten und ihrer Selbstbestimmung zu verhelfen.

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