Montag, 14. Dezember 2015

Jemen: Zerstört und ausgeblutet

Nach neun Monaten Krieg suchen die Konfliktparteien in Genf eine Friedenslösung  - Angst vor einem Blutvergießen ohne Ende
 
von Birgit Cerha
 
Sechs Monate nachdem der jüngste Versuch, die Kriegsparteien des Jemen am Friedenstisch zusammenzubringen, noch vor dem eigentlichen Verhandlungsbeginn scheiterte, beginnt heute, Dienstag, in Genf eine neue Runde. Die Vorzeichen sind vielversprechender als zuletzt: Erstmals stimmten auch Präsident Hadi und seine saudische Schutzmacht einem Waffenstillstand noch vor Beginn der Gespräche zu. Er trat Montag in Kraft, wird einer erbarmungslos gequälten Bevölkerung zumindest eine kleine Atempause verschaffen und humanitären Organisationen die so dringend benötigten Hilfeleistungen für Hunderttausende Kriegsopfer ermöglichen.
Es ist ein Krieg, im Schatten der Syrien- und Iraktragödien von der Welt vergessen, und die Kriegsgegner tun auch alles – durch Einschüchterung  von Informanten – dass dies auch so bleibt. Doch allein die bekannten Fakten erhalten nicht die ihnen gebührende internationale Aufmerksamkeit. „Der Jemen sieht (schon) nach fünf Monaten Krieg so aus wie Syrien nach fünf Jahren“, stellte Peter Maurer vom Internationalen Komitee des Roten Kreuzes alarmiert fest. Seit eine von Saudi-Arabien geführte arabische Koalition im März einen massiven Luftkrieg begann, offiziell um den durch schiitische Huthi-Rebellen aus dem Präsidentenpalast in Sanaa vertriebenen Staatschef Hadi zurück an die Macht zu holen,  starben fast 6000 Menschen, die große Mehrheit Zivilisten, überwiegend bei wahllosen Bombenattacken der arabischen Luftwaffe. 25.000 Menschen wurden verwundet, 170.000 flüchteten nach Dschibuti, zu den bitterarmen Nachbarn Äthiopien, Somalia oder den Sudan, einige wenige in die superreichen Golfstaaten. 2,3 Millionen sind intern Vertriebene.
 Menschenrechtsorganisationen sprechen von Kriegsverbrechen auf beiden Seiten. Im September wurde ein niederländischer Resolutionsentwurf der die UN-Menschenrechtskommission zur Untersuchung möglicher Kriegsverbrechen beauftragen sollte, blockiert. Hingegen akzeptierte die UNO eine Untersuchung durch die jemenitische Regierung, die, gemeinsam mit Saudi-Arabien eine der Kriegsparteien ist. Wochen später beklagte „Human Rights Watch“ empört die fehlende Bereitschaft der arabischen Koalition „auch nur eine einzige Untersuchung der zahllosen, potentiell rechtswidrigen Luftangriffe“ einzuleiten.  „Während die Koalition über hochentwickelte Waffensysteme und US-Unterstützung verfügt zeigt sie sich dem Kriegsvölkerrecht im besten Fall rudimentär verpflichtet.“ Ungeachtet dieser Vorwürfe hält die Unterstützung Washingtons, wie auch Londons für diesen Krieg der Saudis gegen das ärmste arabische Land unvermindert an. „Die USA verschlossen ihre Augen gegenüber einem staatlich sanktionierten Genozid im Jemen“, wettert das angesehene amerikanische Monatsmagazin „Counterpunch“. Im November beschloss Washington ds durch den Jemenkrieg geleerte Luftwaffenarsenal der Saudis mit Waffen für ´1,29 Mrd. Dollar wieder aufzufüllen. Darunter sind auch 1.500 bunkerbrechende Bomben und die international verbotenen Streubomben, von denen bereits zahllose große Gebiete des Jemens verseuchen und über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte eine tödliche Gefahr für die Zivilbevölkerung darstellen.
Der Krieg hat sich unterdessen auf 21 der 22 Provinzen des Landes ausgebreitet. Die Koalition versucht seit vielen Monaten die Bevölkerung durch Blockaden auszuhungern und zu zermürben. Laut UNO benötigen 80 Prozent der etwa 24 Millionen Jemeniten dringende Überlebenshilfe, die sie nur in minimalem Maße bekommen. 15,2 Mio. Jemeniten haben keinen Zugang zu medizinischer Versorgung. Zahlreiche Krankenhäuser, darunter auch eines von „Ärzte ohne Grenzen“ wurden bei Luftangriffen der Koalition zerstört. Zuletzt bombardierten die Saudis am Wochenende erneut auch eine Schule, die nach Augenzeugen nicht als militärische Einrichtung fungierte.
Die Situation für die Zivilbevölkerung verschärfte sich seit Juni, als die arabische Koalition, unterstützt von lateinamerikanischen Söldnern, eine Bodenoffensive begann und gemeinsam mit jemenitischen Regierungstruppen die Huthi-Rebellen aus der Hafenstadt Aden und fünf südlichen Provinzen vertrieb. Die Huthis, die im September 2014 aus ihrem Kerngebiet im nördlichen Saada, gemeinsam mit Anhängern des Anfang 2012 gestürzten Präsidenten Saleh in den Streitkräften die Hauptstadt Sanaa und anschließend zahlreiche Provinzen des Zentral- und Südjemen erobert hatten, erwiesen sich als kaum besiegbare Guerillakämpfer. Ihr Ziel ist eine Ende der Korruption im Lande, die unter Hadi Hochblüten erreichte, und ein Ende der Diskriminierung ihrer konfessionellen Bevölkerungsgruppe, der Zaiditen, einer Richtung des schiitischen Islam, die allerdings den jemenitischen Sunniten theologisch näher steht als den iranischen Zwölferschiiten. Sie stellen mehr als 40 Prozente der Bevölkerung und wurden seit Jahrzehnten schwer diskriminiert.
Was unabhängige Beobachter des Jemen-Krieges besonders irritiert, ist die sich stetig vertiefende Überzeugung insbesondere Saudi-Arabiens, dass es in diesem arabischen Armenhaus in Wahrheit nicht um die Verteidigung der Macht des bedrängten Präsidenten, sondern um eine geopolitisch bedrohliche Expansion des iranischen Machtrivalen in der Region geht und die Huthis seien Teherans Erfüllungsgehilfen. In Wahrheit sind diese schiitischen Rebellen von leidenschaftlich unabhängigem Geist getrieben, haben jedoch seit Kriegsbeginn zunehmend Hilfe aus Teheran angenommen. Deshalb warnen Experten vor einer „selbst erfüllenden Prophezeiung“.
Die einzigen Profiteure dieses Krieges sind die radikalen Dschihadisten. Je stärker der Jemen ins Chaos stürzt, desto mehr gewinnt „Al-Kaida der Arabischen Halbinsel“ an Stärke, insbesondere seit die jemenitische Luftwaffe, die sie mit US-Unterstützung regelmäßig bombardiert hatte, durch saudische Attacken zur Bedeutungslosigkeit degradiert ist. Das Kriegschaos verschaffte auch der Terrormiliz des „Islamischen Staates“ die Chance, im Jemen Fuss zu fassen und dort Hunderte Zivilisten durch Bomben in Moscheen und auf öffentlichen Plätzen zu ermorden.
Dass der Krieg gegen einen kampferprobten und im unwegsamen Gebirgsgelände heimischen Feind nicht zu gewinnen ist, beginnt Riad auch allmählich zu erkennen. Und die internationale Gemeinschaft dürfte allmählich begreifen, dass auch die Gefahr für sie durch die sich ausbreitenden Terrornetzwerke stetig wächst.
Ein Konzept für eine Friedenslösung freilich hat keiner der Beteiligten erarbeitet. Ein anhaltender Waffenstillstand wäre der erste Schritt. Eine Rückkehr Hadis an die Macht erscheint angesichts des Blutvergießens der vergangenen Monate unvorstellbar. Doch ist Riad bereit, seinen Schützling fallen zu lassen? Doch die einzige Alternative zu raschen Verhandlungen ist noch größere Gewalt und eine gigantische humanitäre Katastrophe über Jahre hinweg mit unabsehbaren Folgen für die gesamte Region.

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